Er hat sich stets bemüht
von Lea Hampel
Süddeutsche Zeitung vom 01.04.2021
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Er hat sich stets bemüht
Marius Lauber hätte nichts lieber als eine Arbeit, ein Leben, wie er sagt. Er ist 33, hat einen Schulabschluss und eine Ausbildung. Trotzdem findet er seit Jahren keinen Job. Bleibt die Frage: Was kann der Staat noch für ihn tun?
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Wie er so dasitzt, vor seinem Laptop, im Dachgeschoss-Zimmer seiner WG, ein Bett, ein Schrank, ein Buch, "Lexikon der Ausbildungsberufe", sonst nichts, keine Pflanzen, kein Teppich, keine Bilder. Und mittendrin dieser Mann, der aussieht, als schreitet die Zeit gnadenlos voran und er kommt mit seinem Leben nicht hinterher.
Marius Lauber ist 33, wirkt aber mit seinen kurzen braunen Haaren und seiner hellen Haut viel jünger, der Pulli hängt an seinem Oberkörper wie an einem Drahtbügel, die Hose schlackert. Vor ihm auf dem Bildschirm: eine Tabelle mit acht Kreuzen, jedes hat seinen Traum vom neuen Leben beerdigt. Ein Kreuz, eine Absage, von Arbeitgebern, bei denen er sich 2018 und 2019 beworben hat, Deutsche Bahn, Post, Amazon.
Er scrollt weiter, sucht seinen Lebenslauf, der Laptop brummt, er ist mit Panzertape zusammengeklebt. "Du willst ja irgendwann mal ein normales Leben", sagt er, seine Stimme bricht kurz, "zum Beispiel eine Freundin, Kinder, Urlaub. Aber all das kann man sich nicht leisten."
Wenn Lauber "man" sagt, meint er sich selbst. Es fällt ihm schwer, anderen Menschen in die Augen zu schauen. Er spricht leise, laut wird er nur, wenn er sich ärgert. Und das passiert vor allem dann, wenn es um den Sozialstaat geht. "Dieses System muss sich um 360 Grad ändern", sagt Lauber. Dass sich dadurch für ihn nichts ändern würde - andere Geschichte.
Für den Sozialstaat ist Marius Lauber eine Kombination aus zehn Ziffern und Buchstaben. Einer von etwa 135 500 Menschen, die länger als fünf Jahre arbeitslos sind. Einer, der an einem System verzweifelt, das vor bald 100 Jahren etabliert wurde, das 408 Jobcenter und 156 Arbeitsagenturen umfasst und Menschen wie Lauber täglich mit Fragen konfrontiert: Wie viel Mühe lohnt sich, um jemandem Arbeit, also auch eine Art Erfüllung zu geben? Und wo endet die Zuständigkeit des Staates, aus jedem Bürger einen Arbeitnehmer zu machen?
Lauber, der eigentlich anders heißt, lebt in einer günstigen WG in einer günstigen Stadt und klickt sich durch seine Mails. Der Ordner "JobcenterArbeitsamt" enthält mehr als 90 Nachrichten, es sind nur die seit 2018. Dann erzählt er, den Blick starr auf den Bildschirm, von seinen Anfängen auf dem Arbeitsmarkt.
2004, da war er 17, träumt er davon, Polizist zu werden, oder eine Farm in Australien zu haben. Die Schule war nie leicht, Lesen, Schreiben, Sprechen fiel ihm immer schwer. Doch vor der Abschlussprüfung lernt er viel auswendig, schafft einen der besten Hauptschulabschlüsse des Jahrgangs. Jetzt geht es los, das Leben, hofft er.
Schon während der Schule bewirbt er sich als Tischler, doch in zwei Jahren hat er nur ein Bewerbungsgespräch. Warum, weiß er nicht. Vielleicht war der Radius, in dem er gesucht hat, zu klein, vielleicht gab es zu viele Bewerber. Vielleicht ist "mit einem Hauptschulabschluss nicht viel zu machen". Im Jobcenter, hofft er damals, bekommt er Ideen für andere Berufe. Stattdessen, sagt Lauber, zog der Vermittler einen Prospekt aus der Schublade, ein Förderverein hatte einen Ausbildungsplatz als Holzbearbeiter frei.
"Besser als nix, dachte ich", sagt Lauber. Und dann sagt er: "Ein Fehler."
Vielleicht hätte der korrigiert werden können. Vielleicht war es auch die erste Abzweigung in die falsche Richtung.
Drei Jahre baut Marius Lauber Tische und hämmert auf Baustellen, für wenige Hundert Euro im Monat. Er überlegt hinzuschmeißen, aber Bildung ist wichtig, das haben ihm seine Eltern beigebracht, die Mutter Krankenschwester, der Stiefvater erst Maler, später Koch. Lauber schließt nicht nur seine Ausbildung ab, wie etwa 40 Prozent der Langzeitarbeitslosen. Er setzt sich auch zweieinhalb Jahre lang zwei Mal die Woche auf die Schulbank, um seinen Realschulabschluss nachzuholen.
Wieder schreibt er Bewerbungen, Straßenmeisterei, Forstamt, wieder erfolglos. Dann ein Zeitungsartikel: "VW sucht Leute", 14 Euro die Stunde plus Nachtzulage. Er hebt Autofelgen aufs Band, oft von abends halb elf bis morgens halb sieben, gutes Geld, ein Neuanfang, hofft er.
Lebensläufe werden oft als Linien dargestellt, die wie Treppen nach oben führen. Jede Stufe mehr Geld, Macht, Prestige. Aus Marius Laubers Lebenslauf wurde relativ früh eine Zickzacklinie, die meisten Langzeitarbeitslosen sind über 55 Jahre.
An einem Morgen im Frühjahr 2012 kurz vor halb neun steht er am Band, freut sich auf die Pause. Als er drei Felgen vom Stapler hebt, landet eine auf seinem Fuß. Der Betriebsarzt ordnet an, dass er weiterarbeitet. Also arbeitet er weiter, "bis es im Bein gepocht hat". Nach acht Wochen stellt er sich wieder ans Band, mit Schmerzen. Zu dieser Zeit müsste er nach mehreren befristeten Verträgen angestellt werden. Doch weil er gesundheitliche Probleme hat, wird ihm gekündigt. Vermutet Lauber.
Eine Kündigung, eine Krankheit, es klingt nach Zwischenschritten. Doch schon in den Dreißigerjahren haben Wissenschaftler beobachtet, dass es sich um Rückschritte handelt: Wer oft krank geschrieben ist, wird schneller arbeitslos, wer arbeitslos ist, wird schneller krank.
Wo die Probleme bei Marius Lauber liegen, wird schnell klar. Er schreibt 2017 in einer Mail: "Was ich mir Wünsche von Jobcenter. Das Jobcenter oder ein Arbeitgeber soll mich mal zum ersten mal im mein Leben ernst nehmen und mich richtig Fördern. Sodass man sich ein Leben ohne Hartz 4 aufbauen kann." Wenn er "psychologisch" und "physiologisch" sagt, klingen beide Wörter gleich. Es gibt viele Diagnosen, was schiefläuft, im Körper, im Kopf, auf der Zunge von Lauber: funktionelle Dysphonie, Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), phonologische Störung. Ob er Wörter falsch hört und deshalb falsch spricht, ob er Silben nicht vom Kopf aufs Papier bekommt, darüber spekulieren Experten, seit er als Kind das erste Mal bei einer Logopädin saß. Einig sind sie sich darin, dass es besser werden muss, um, wie es in einem logopädischen Bericht heißt, "die aktive Partizipation zu sichern". Am Arbeitsmarkt, am Leben.
Sommer 2020, ein Altbau an einer Ausfallstraße, auf dem Klingelschild steht "Logopädiepraxis". Gelbe Wände, Bilderbücher, im Regal eine Gitarre mit Tigerentenmuster. Menschen, die hierher kommen, sind oft drei oder vier Jahre alt. "K wie Kind", sagt die Logopädin, die Lauber von der anderen Seite einer Plexiglasscheibe aus beobachtet, als er nachspricht: "Kind." "Ein Lebensmittel mit G?", fragt sie. Lauber rutscht auf den Rand des Stuhls, die Beine ein Knoten. Ihm fallen Gummibärchen ein. Dann soll er ein Gedicht vorlesen, Erich Kästner. Zwei Mal hat er geübt, als seine Mitbewohnerin nicht da war.
Er stockt, setzt neu an, wiederholt "abhanden", dann "Hut", er räuspert sich, entschuldigt sich, endlose 17 Zeilen. Die Logopädin ermuntert ihn, noch mal zu lesen, gerade zu sitzen: "Du zeigst damit deine innere Haltung", sagt sie. Und dann: "Wenn jemand nicht schnell oder deutlich sprechen kann, wird das als Beeinträchtigung wahrgenommen. Eine Folge hat das auf jeden Fall: Stigmatisierung." Das Wort kann Lauber nicht aussprechen, aber er begreift es. "Wenn ich es jetzt richtig verstanden habe", mailt er der Logopädin zwei Tage später, "muss es nicht heißen, dass eine Person mit LRS nicht Schreiben bzw. Lesen kann? Dies ist leider die Problematik, das es keiner weiß und Personen mit einer LRS als 'dumm' bezeichnen. Da schwächen in unsere wunderschöne Gesellschaft keiner hören möchte, da wir alle perfekt sind und wer das nicht ist 'loser'."
Das für Lauber zuständige Jobcenter erstreckt sich über mehrere Gebäude. Fliesenboden, Metallaufsteller, Prospekte. Hier heißen Menschen wie Lauber "Kunden mit multiplen Vermittlungshemmnissen". Dass sie genau genommen keine Kunden sind, weil sie keine Alternative haben, und dass Schicksale keine "Vermittlungshemmnisse" sind? Egal. Ziel ist es, jeden in Arbeit zu bringen.
Marius Lauber war das erste Mal 2015 hier, nach einer gescheiterten Ausbildung zum Physiotherapeuten. Das Gespräch, erinnert er sich, dauert keine 15 Minuten, eine "Katastrophe" nennt er es. Damals kommt nicht seine Vermittlerin, sondern eine Vertretung. Statt nach Wünschen fragt sie, warum er abgebrochen hat.
Ob es so war, ist schwer zu prüfen. Das Erstgespräch ist eigentlich dazu da, Dinge zu klären: Hat jemand Schulden, Süchte? 15 Minuten dürften selten reichen. Möglich, dass Lauber es mit dem Vorgespräch verwechselt, in dem Fakten abgefragt werden, damit der Vermittler Zeit fürs Wesentliche hat. Gleich, wie die Katastrophe ablief, sie steigert sich über die Jahre.
An einem Tag im Sommer 2020 soll Laubers derzeitige Vermittlerin, die dritte seit 2015, ihre Sicht auf diese "Katastrophe" erklären. Fünf Minuten vor dem vereinbarten Termin sagt der Sprecher, dass sie nicht kommt. Stattdessen sitzen die Amtschefin im Besprechungsraum, der Sprecher und eine "besonders auf das Thema Langzeitarbeitslosigkeit spezialisierte Vermittlerin". Sie nimmt sich zwei Stunden, die sie eigentlich nicht hat, sie ist für 300 Arbeitslose zuständig. "Von denen müsste ich zwei Drittel regelmäßig einladen." Bei 39 Arbeitsstunden in der Woche blieben ihr neun Stunden pro Arbeitslosem - im Jahr. Zu wenig für ein Leben, und vermutlich zu wenig für die unzähligen Angebote, Abteilungen, Vorschriften, die geprüft werden müssen.
Allein bei Lauber greifen die Sozialgesetzbücher 3, 9 und 12 für die Arbeitsförderung, für Behinderungen und Sozialhilfe. Der berufspsychologische Service testet, ob er geeignet ist, der Ärztliche Dienst überprüft, ob er einen Job schaffen würde. Lauber hat den Überblick darüber verloren, wer von ihnen über die Jahre was entschieden hat. Die Vermittlerin schaut nach. Elf Seiten und mehr als 20 Berufe umfasst das Dokument.
2016: Lauber will Fachinformatiker werden, der berufspsychologische Service hält seine Jobchancen für gering.
2017: Lauber will sich zum Triebfahrzeugführer weiterbilden und besteht den Eignungstest des Jobcenters. Der Bildungsträger kündigt ihm nach wenigen Wochen. Nebenher hat er einen Minijob in der Zahntechnik. Als die Firma ihn anstellen will, springt ein Großkunde ab.
2018: Lauber will Polizist werden, aber er wird abgelehnt, nicht belastbar. Er erfährt, dass er eine Stoffwechselkrankheit hat. Dazwischen: Maßnahmen, Weiterbildungen, in denen er lernt, Bewerbungen zu schreiben, seriös aufzutreten, Arbeitnehmer zu sein. Oder wie Lauber im Lebenslauf schreibt: "Nicht genannte Zeiten sind Zeiten der aktiven Arbeitssuche und der beruflichen Neuorientierung."
Lauber sitzt immer noch vor seinem Laptop in seinem Zimmer und schaut in sein eigenes Gesicht. Nur: Mit dem Mann, der ihm vom Foto seiner Bewerbung entgegenlächelt, hat er nicht mehr viel gemeinsam. Mehr als tausend Mal, schätzt er, hat er das Dokument verschickt. "Ein potenzieller Arbeitgeber erkennt: Da ist was im Busch", sagt die Vermittlerin. Wer einmal den Eindruck erweckt, keine Chance zu haben, hat keine Chancen.
Nicht nur im Beruf. Lauber wurde schon in der Schule verhauen, wenn er Mitschüler nicht abschreiben ließ. Seine letzte Freundin hatte er 2012, danach hat er Geld auf Datingportalen gelassen, aber andere Menschen, sagt er, "laufen weg, wenn du Hartz-IV-Empfänger bist". Wer geht schon auf ein Feierabendbier mit jemandem, der weder den Abend nach der Arbeit feiern kann, noch Geld für Bier hat? Wer will sich mit einem Mann verabreden, der sich keine Kinokarte leisten kann?
Lauber ist viel zu Hause, putzt oft, schaut Geschichtsdokus und Fußballspiele. Ab und zu läuft er zu einem Laden in der Nähe, dort gibt es abgelaufene Lebensmittel. So kann er sich von den 200 Euro, die ihm im Monat bleiben, Essen kaufen. "32 Jahre Gefängnis" nennt er dieses Leben. Mal ist er wütend auf sich selbst, "auf meiner Stirn steht geschrieben: lernbehindert, kleiner, dummer Junge, Monster". Dann sind alle anderen schuld an dem, was er die "Kettenreaktion meines Lebens" nennt: die Grundschullehrerin, die Abschreiberei durchgehen ließ, die Sekretärin, die ihn wegen Schreibproblemen gehänselt hat, die Freundin, die mit ihm Bewerbungen schreibt, sich aber abwendet, als es ihr zu viel wird. Und immer öfter: die Gesellschaft. Je öfter er allein ist, desto mehr fühlt er sich allein gelassen.
Und weil ihm niemand hilft, Tipps gibt oder Selbstbewusstsein, verschlechtern sich seine Chancen weiter. Experten nennen Leute wie ihn "arbeitsmarktfern". Richtiger wäre wohl: gesellschaftsfern.
Seit einigen Jahren richtet sich Laubers Frust auf das Amt. Als er Ende 2018 aus einer Ausbildung fliegt, schlägt ihm die Vermittlerin eine neue Maßnahme vor. Er ist skeptisch, aber nach Wochen, in denen er Wissenstests macht und lernt, Geschäftsbriefe zu schreiben, kommt er mit einer Hoffnung wieder: Ihm liegt Mathe, er ist sorgfältig, wieso nicht Steuerfachangestellter werden? Die Vermittlerin hat Bedenken, aber drei Wochen später beginnt ein Vorkurs, sie genehmigt ihn. Kurz darauf urteilt der berufspsychologische Dienst: Wegen seiner Schreibprobleme sei Lauber ungeeignet. Das Gutachten sieht er nie, in einer Stellungnahme schreibt das Amt: Weil er "erhebliche Schwächen im kognitiven Bereich" habe, "wären umfangreiche (...) Hilfen (...) nötig gewesen." Die könnte die Rehabilitationsabteilung nur genehmigen, wenn Lauber eine Behinderung hätte.
Es ist paradox: Lauber ist zu gesund, um Unterstützung zu bekommen. Aber zu eingeschränkt, um Arbeit zu finden.
Er schreibt immer dramatischere Mails an die Behörde: 15. Juli 2019: "Mein großer Wunsch ist es, eine Weiterbildung zu machen, die mich wieder am Leben teilhaben lässt. Die letzten Jahre haben mir gezeigt, dass ich dafür Unterstützung brauche."
3. August 2019: "Ich bin auf den Bildungsgutschein angewiesen, um der Hilfebedürfigkeit entkommen zu können, da andere realistische Optionen, die Arbeitslosigkeit zu beenden, mir derzeit leider nicht offen stehen."
In seinem Jobcenter-Mailordner landen Dutzende Antworten: Dass sein Fall in die Reha-Abteilung gegeben wurde, "zur Prüfung der empfohlenen Hilfen." Dass man nun auf Rückmeldung warten müsse und so lange nichts unternehmen könne.
Fordern und fördern lautet das Prinzip moderner Arbeitsmarktpolitik. Doch während die Vermittlerin fördern will, indem sie Alternativen sucht, ist Lauber überfordert. Er schreibt seiner Sachbearbeiterin: "Mich hat unser gemeinsamer Weg richtig fertig gemacht, Kraft gekostet und verzweifeln lassen."
Im September 2019 eskaliert die Situation. Lauber sagt, er sei gleich am ersten Tag nach einer Krankschreibung ins Jobcenter gekommen. Die Vermittlerin teilt ihm mit, dass sein Antrag auf Weiterbildung zum Steuerfachangestellten abgelehnt ist. "Herr Lauber, Sie sind nicht intelligent genug", habe sie gesagt. Das Amt spricht von "Erwartungsmanagement", und dass sie keine Maßnahmen starten dürften, die absehbar scheitern. "Es handelt sich um Steuergelder", sagt die Amtsleiterin. Zu Hause weint Lauber stundenlang.
Es ist nicht der erste Zusammenbruch. Einmal hat er nichts mehr gegessen, um sich zu strafen, einmal hat er sich mit dem Gürtel geschlagen. Am Tag nach dem Streit schickt ihn sein Hausarzt in eine psychosomatische Klinik. Den Winter 2020 verbringt er in Gruppensitzungen. Erst hier wird klar: Er hat nicht nur Probleme mit dem Lesen und seinem Stoffwechsel, sondern ein Trauma. Als Kind hat er mit angesehen, wie sein Vater versucht hat, seine Mutter zu töten. Anschließend hat sich der Vater das Leben genommen. "Depressive Störung" und "emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ" schreiben die Ärzte. Als Lauber davon erzählt, wirkt er fast fröhlich, endlich sei klar, wieso er Probleme hat, endlich hat er eine Diagnose. Doch er hat auch ein weiteres Vermittlungshemmnis.
Dass das jetzt erst rauskommt, "ist scheiße gelaufen", sagt er. Nur: Was muss anders laufen? Psychische Probleme haben viele Menschen vor der Arbeitslosigkeit. Wenn nicht, entwickeln sie sie mit hoher Wahrscheinlichkeit währenddessen. "Vater Staat", findet Lauber, "hat viele Fehler gemacht." Doch jener Staat hat im Kindergarten die Logopädin finanziert und später die Sozialpädagogin, die Lauber zum Realschulabschluss überredet hat. Der Staat zahlt nach der Klinik die Psychotherapie. Damit Lauber wirklich im Leben ankommt, müsste der Staat aber etwas anderes bieten: eine immer verfügbare Mischung aus Ärztin, Freund und strenger Chefin - einen multiplen Berater für multiple Hemmnisse.
Genau das hat Lauber nach der Klinik weniger denn je. Einige Monate nach der Entlassung, im Sommer 2020, sitzt er in einem Restaurant. Wenige Gäste sind auf wenige Tische verteilt. Es ist so still, dass Lauber noch leiser spricht. "Corona", sagt er, "hat mich seelisch vollends kaputt gemacht." Er klingt müde. Kaum war er aus der Klinik mit kleinen Hoffnungen für seine Krisen rausgekommen, kam die große Krise übers Land. Für Lauber hieß das: keine Therapie, keine Familienbesuche, keine Bewerbungsgespräche, Jobcentertermine nur in Notfällen.
Umso größer seine Hoffnung, als ein Schreiben kommt. Nächster Termin: 12. November, 9 Uhr, eine halbe Stunde. Tage vorher listet er Fragen auf: Was kann er tun, um die Weiterbildung zu bekommen? Eine neue Sachbearbeiterin, ein Neuanfang, hofft er. Das Telefonat dauert nicht mal zehn Minuten, die Vermittlerin fragt, wo er sich beworben hat. Antworten für Lauber hat sie nicht. Stattdessen erlaubt sie ihm, Weihnachten zu seinen Eltern zu fahren.
Als er nach vier Wochen zurückkommt, liegt Post auf seinem Schreibtisch. Lauber hat keine Lust, den Brief vom Jobcenter zu öffnen, tut es dann doch und kann es kaum glauben: Die Behörde hat ein Einzelcoaching genehmigt, 210 Stunden mit einem Sozialpädagogen. Vielleicht musste man kurz vor Jahresende Budget verplanen, vielleicht war es wegen der Pandemie. Für Lauber spielt das keine Rolle. Coaching, Logopädie und Therapie: fast jeden Wochentag eine Aufgabe. Oder wie er sagt: "Wieder ein Leben. Für mich ist das Hoffnung".
Für den Staat sind das ziemlich genau 25 844,20 Euro, die das Coaching kosten soll. Und die Entscheidung, Marius Lauber nicht aufzugeben.
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Einschübe:
Als er bei VW am Band steht,
hofft er auf einen Neuanfang.
Dann rutscht die Felge vom Stapel
Wer keine Chance im Beruf hat,
hat sie oft auch nicht im Leben.
Wer will einen Arbeitslosen daten?
Steuerfachangestellter? Beim Amt
sagen sie, er sei nicht intelligent
genug. Also Antrag abgelehnt
Er hat seine eigene Krise gerade
einigermaßen im Griff, da kommt
die große Krise übers Land