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Eine Ampulle Hoffnung

von Thomas Schulz, Martin U. Müller und Cornelia Schmergal
Der Spiegel vom 24.10.2020

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Eine Ampulle Hoffnung

In den kommenden Wochen könnten die ersten Impfstoffe zugelassen werden, entwickelt auch von deutschen Firmen. Die Bundesregierung plant bereits eine landesweite Impfkampagne. Doch kann uns das wirklich retten?

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Das letzte Mal als in Mainz Weltgeschichte geschrieben wurde, bastelte Johannes Gutenberg in einem spätmittelalterlichen Hinterhof an einer Druckerpresse mit beweglichen Lettern. Diesmal, mitten in der Stadt, in einer Straße mit dem verheißungsvollen Namen "An der Goldgrube", brütet hinter Sicherheitsschleusen und Desinfektionsbarrieren in einem Bioreaktor der Kandidat BNT162b2: eine "nukleosidmodifizierte messenger RNA, codiert für ein optimiertes Sars-CoV-2-Spike-Glykoprotein in seiner vollen Länge". Der vermutlich erste reguläre Corona-Impfstoff der Welt.

Entwickelt hat ihn federführend Professor Dr. Ugur Sahin gemeinsam mit seiner Frau Özlem Türeci, beide Kinder türkischer Einwanderer, schon das in normalen Zeiten eine fantastische Geschichte, aber zu vernachlässigen im täglich anschwellenden globalen Getöse: wie die zweite Welle noch zu stoppen wäre, der Krieg gegen die Pandemie bald vorbei sein könnte, gewonnen. Das hirnlose Virus besiegt durch menschliche Genialität. Der amerikanische Präsident twittert aus allen Rohren, sagt solche Sätze: "Bis April wird sich jeder Amerikaner impfen lassen können." Aber so einfach ist es nur in Hollywood oder eben auf Twitter.

Wer in diesen Tagen mit Sahin sprechen will, muss eine FFP2-Maske tragen. Es wird darum gebeten, nicht zu schreiben, wo genau im Gebäude sein Büro liegt. Draußen, vor dem Eingang, steht neuerdings ein Container mit muskulösen Wachmännern, der Verfassungsschutz versucht, vor virtuellen Attacken zu schützen. Zu viel steht auf dem Spiel, jetzt, da die Ziellinie zu sehen ist: Vielleicht schon kommende Woche kann feststehen, ob es einen ersten wirksamen Impfstoff gibt.

Sahin und die über 500 Wissenschaftler seiner Firma Biontech warten – "arg angespannt" – auf erste Ergebnisse der klinischen Studie mit 44.000 Teilnehmern, die in den vergangenen Monaten entweder BNT162b2 oder ein Placebo bekamen. Wenn sie überwältigend gut sind, und nur dann, würden die Mainzer Forscher eine Notfallzulassung beantragen. Schon in wenigen Wochen könnte geimpft werden. Noch kann sich alles verzögern, um Wochen, vielleicht auch um Monate: weil die Daten nicht ausreichen, weil die Zulassungsbehörden mehr Zeit brauchen. Oder weil der Impfstoff nicht wirkt.

Weltweit durchlaufen derzeit 48 Vakzine klinische Studien, 11 davon in der Schlussphase. Die Experten sind sich einig, dass es einen Impfstoff geben wird, viele sogar, und bald. Die zentrale Frage ist eine andere: Kann das wirklich die ersehnte Rettung sein, wird dann alles wieder gut? Oder wird das Drama nur gedämpft, weniger Tote, weniger Kranke, aber dennoch ein, zwei Jahre Maske, Abstand, Kampf?

Nie zuvor schaute die ganze Menschheit so gebannt auf die Entwicklung eines Medikaments. Nie zuvor wurden in so kurzer Zeit so viele Milliarden in ein Serum investiert. Und noch nie war der Druck auf Wissenschaftler, Pharmafirmen, Politiker so hoch zu liefern.

Es gelang, was kaum jemand für möglich hielt, die Entwicklungszeit eines neuen Impfstoffs von normalerweise acht bis zehn Jahren auf ein Jahr zu reduzieren. Eine unglaubliche Leistung und gleichzeitig ein Hinweis auf das, was nun kommen wird: keine Wunderwaffe, die mit einem Schlag die Pandemie beenden wird. Das muss vorweg gesagt werden.

Wahrscheinlicher werden es zu Beginn eher mittelmäßig wirksame Impfstoffe sein, die vor allem vor schweren Verläufen schützen, vielleicht den Ausbruch von Covid-19-Symptomen ganz verhindern. Wohl aber nicht die Ansteckung. Noch ist nicht einmal sicher, wie lange die Impfstoffe schützen werden: sechs Monate? Zwölf? Instant-Normalität wird es nicht geben.

Wahrscheinlich werden es stattdessen verwirrende, chaotische Monate. Mit vielen Fragen: Wie sicher sind die Impfstoffe? Was können sie? Wie viele Dosen werden wir haben, und wer wird zuerst geimpft? Wie impft man ein ganzes Land?

[Medium] hat in den vergangenen Wochen nach Antworten gesucht: bei drei der führenden Impfstoffentwickler, die auf die Zulassung ihrer Kandidaten warten, und dem Präsidenten des Paul-Ehrlich-Instituts, das über Impfstoffzulassungen entscheidet. Beim Bundesgesundheitsminister, der organisieren muss, wie man Millionen Menschen impft, und der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, die ihn dabei berät, wer wann zum Zuge kommen soll.


Mainz/New York

Das deutsche Biotech-Unternehmen Biontech entwickelt gemeinsam mit dem Pharmariesen Pfizer den wohl ersten Corona-Impfstoff der Welt – und muss sich dabei gegen den US-Präsidenten wehren.

Alles scheint in diesen Tagen ein Rennen gegen die Zeit zu sein. Gegen eine zweite Welle, gegen weltweit täglich Hunderttausende neue Infektionen, Tausende Tote. "Jede Woche zählt", sagt Ugur Sahin, und deswegen produziert Biontech seit Monaten Millionen von Impfdosen. Auf Vorrat, um Zeit zu gewinnen. Obwohl niemand weiß, ob BNT162b2 wirklich funktioniert. Wenn nicht, bleibt nur ein großer Haufen Müll.

Ein riskantes Unterfangen, selbst für einen großen Pharmakonzern. Erst recht für ein kleines Technologieunternehmen, auch wenn die Bundesregierung bis zu 375 Millionen Euro Sonderförderung bereitstellt. Rauchende Schlote und Fabrikhallen sucht man bei Biontech vergebens. In steril weißen Labors analysieren Gensequenzierer mittels kluger Algorithmen enorme Erbgutmengen, Flüssigkeiten werden mit Ultraschall in Ampullen geschossen, und künstliche Intelligenzen berechnen die Ergebnisse. Manche Räume sind fast menschenleer, automatische Roboterplattformen analysieren T-Zellen und Blutproben im Akkord.

Auf fünf Etagen haben Hunderte Wissenschaftler in den vergangenen zehn Jahren insbesondere Grundlagenforschung betrieben. Vor allem dank Millioneninvestitionen der Hexal-Gründer Thomas und Andreas Strüngmann. 20 Medikamente sind in der Entwicklung, vor allem Krebstherapien. Zugelassen ist noch keines. Die Technologie ist zu neu, zu revolutionär. Zu unerprobt.

Biontech forscht an mRNA-Wirkstoffen: Das Molekül ist ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Biologie, es dient als Bote, der Bauanleitungen zwischen dem Erbgut der Zellen und den Proteinfabriken der Zellen transportiert. Wer mRNA synthetisieren und in die Zellen transportieren kann, hat direkten Einfluss auf das, was im Körper passiert. Wenn man einmal herausgefunden hat, wie diese Zellboten zu programmieren sind, lassen sich theoretisch mit dem gleichen System alle möglichen Anweisungen erteilen: Sei es, T-Zellen zu befehlen, einen bestimmten Tumor anzugreifen. Oder das Immunsystem gegen Viren in Marsch zu setzen.

Klassische Vakzine dagegen bestehen meist aus abgeschwächten Viren oder Teilen davon, selbst kleine Mengen müssen über Wochen im Labor produziert werden. Biontech benötigte nur die genetischen Informationen des Coronavirus, stellte innerhalb von zwei Tagen die passende RNA her und begann direkt mit ersten Experimenten. Das war im Januar, als die Bundesregierung keine Gefahr für Deutschland sah. Noch vor dem Shutdown hatte Biontech 20 Impfstoffkandidaten.

Das Tempo überraschte viele Experten. Anfangs auch die eigenen Forscher. Aber vieles habe sich als Gewohnheit herausgestellt, sagt Sahin, eingefräst über Jahrzehnte: Es dauert eben, weil es immer dauert. Lange Wartezeiten, in denen nichts passiert, weil man 60 Tage auf die Antwort einer Behörde wartet, drei Monate auf neue Forschungsgelder.

Im Februar reisten die Biontech-Forscher nach Langen, einem Vorort im Süden Frankfurts, hier sitzt das Paul-Ehrlich-Institut, zuständig für die Zulassung von Impfstoffen in Deutschland. Sie präsentierten ihren Plan: eine klinische Studie ab Frühjahr, ein Impfstoff zum Jahreswechsel, wir werden alles dafür tun, seid ihr dabei? Die Antwort war: Ja.

Am 19. April reichte Biontech den finalen Antrag für eine klinische Studie von mehreren Impfstoffkandidaten ein. Am 22. April kam die Genehmigung. Am 23. April wurde der erste Proband dosiert.

Von den 20 möglichen Kandidaten sind zwei als besonders vielversprechend übrig geblieben. Beide zielen auf das Spike-Protein, das dem Virus seine markante Form gibt: Wie Zacken einer Krone stehen die Proteine von der Virushülle ab. "Soll ich die Unterschiede aufzeichnen?", fragt Sahin und ist schon auf dem Weg zu einer großen Tafel in seinem Büro, ohne eine Antwort abzuwarten. Mit ein paar schnellen Strichen ist das Protein skizziert, es werden Fachbegriffe und Statistiken hinzugezogen. Die schnelle Version geht so: Der eine Impfstoffkandidat fokussiert sich nur auf einen Teil des Spike-Proteins, der andere auf das komplette Protein in seiner vollen Länge. Mit beiden Ansätzen ließ sich das Virus deaktivieren. Die kleinere Komponente löste aber bei bis zu 70 Prozent der Probanden leichtes Fieber für ein bis zwei Tage aus. Wird das ganze Protein abgebildet, zeigten nur 10 bis 15 Prozent diese Nebenwirkung.

Sahin kann das gut, solche komplexen Prozesse präzise erklären, leise und eindringlich, mit wenigen Worten. Er lehrt seit fast 15 Jahren an der Universität Mainz, zuletzt als Professor für Onkologie. Auch in diesen angespannten Tagen betreut er noch Doktoranden, vielleicht weil er immer zuerst Wissenschaftler sein wollte, nicht Unternehmer.

Schon lange gilt er als einer der renommiertesten Krebsforscher der Welt, aber habilitiert hat er in Immunologie. Corona und Krebs liegen weit auseinander, sollte man meinen, Sahin widerspricht: "Wir sehen uns als Immuningenieure, wir möchten das Immunsystem dazu anleiten, uns vor bestimmten Krankheiten zu schützen."

Sahin und Biontech haben viel Erfahrung darin, neue Technologien zu erforschen. Aber keine, ein neues Arzneimittel aus dem Stand in die ganze Welt zu bringen und eine globale Produktion aufzubauen. Dafür schlossen sich die deutschen Forscher noch im Frühjahr mit dem amerikanischen Pharmariesen Pfizer zusammen. Die Produktionsanlagen des Konzerns sollen helfen, bis Ende 2021 insgesamt 1,5 Milliarden Dosen von BNT162b2 herzustellen. Mehrere Hundert Millionen Dosen sind schon vorab verkauft, an die USA, Japan, Kanada.

Pfizer übernimmt die Hälfte der Entwicklungskosten und wird Biontech im Erfolgsfall 748 Millionen Dollar zahlen. Analysten erwarten, dass sich beide Unternehmen die Einnahmen teilen, für 2021 geschätzte 3,5 Milliarden Dollar. Kein guter Deal für Biontech, sagen Kritiker, ein erster Covid-Impfstoff wäre viel mehr wert. Aber eben auch nur, wenn es überhaupt eine Zulassung gibt. Und der Weg dorthin ist immens teuer.

Vor allem die klinischen Studien kosten Hunderte Millionen, manchmal Milliarden. Sie bestehen aus drei Phasen: In der ersten Phase geht es vor allem um Sicherheit und Verträglichkeit. Phase zwei sucht unter anderem nach der richtigen Dosierung. Beide Phasen benötigen zusammen nur wenige Hundert Freiwillige. Erst die dritte Phase erforscht konkrete, breite Wirksamkeit und Sicherheit mit Zehntausenden Probanden.

Die Phasen lassen sich auch zusammenlegen. Biontech kombinierte zunächst die Phasen eins und zwei und rekrutierte dazu rund 200 Freiwillige in Deutschland, sie bekamen beide Impfstoffkandidaten in verschiedenen Wirkstoffdosierungen zwischen 10 und 100 Mikrogramm. Die richtige Dosierung ist kritisch: hoch genug, um zu wirken, niedrig genug, um Nebenwirkungen gering zu halten. Pfizer kopierte die Studie später in den USA, angeleitet von den deutschen Forschern.

Nach drei Monaten, am 24. Juli, strömten die Ergebnisse herein: Der Testkandidat "induziert hohe Sars-CoV-2-neutralisierende Antikörpertiter". Kurz gesagt: Die ersten Ergebnisse sahen gut aus.

Noch am selben Tag saßen 60 Mitarbeiter von Biontech und Pfizer in einer Telefonkonferenz und besprachen die nächsten Schritte: eine kombinierte Studie aus den Phasen zwei und drei, mit mindestens 30.000 freiwilligen Probanden zwischen 18 und 85 Jahren, verteilt auf 120 Studienzentren unter anderem in den USA, Deutschland, Argentinien. Jeder Proband bekommt entweder einen Impfstoff oder ein Placebo. Weder Biontech noch die Probanden oder die beteiligten Ärzte wissen, wer was erhält.

Pfizer leitete ab sofort die Studie. Zwar blieb Biontech formal Auftraggeber und hätte später auch die Kontrolle über einen zugelassenen Impfstoff. "Es ist unsere Technologie. Die Zusammenarbeit mit Pfizer ist eine ideale Partnerschaft, die uns ermöglicht, einen möglichen Impfstoff in kürzester Zeit zu entwickeln und verfügbar zu machen", sagt Sahin. Der Weg zur Zulassung wurde allerdings anfälliger für politische Einflussnahme.

Pfizer ist ein amerikanisches Unternehmen. Schon seit Beginn der Pandemie verkündet der US-Präsident, es werde bald einen Impfstoff geben. Nachdem die Phase eins so schnell und gut verlief, sind Biontech und Pfizer nun die globalen "Frontrunner", die beim Rennen um den ersten Impfstoff vornweg laufen. Und damit auch die Ersten im Visier des Präsidenten.

Was das bedeutet, ließ sich unter anderem beim TV-Duell der Kandidaten beobachten. Er habe gerade wieder mit Pfizer gesprochen, verkündete Trump vor Millionen Zuschauern. Der Impfstoff sei in wenigen Wochen fertig. "Alles nur politisch."

Pfizer-Chef Albert Bourla sah sich zwei Tage später gezwungen, einen offenen Brief an die Angestellten zu schreiben: Pfizer werde sich "niemals politischem Druck beugen", allein die Forschungsergebnisse würden das Tempo bestimmen.

Vielen Experten reichten die öffentlichen Bekundungen nicht. Die Studien müssten transparenter sein, fordern sie, damit auch externe Wissenschaftler prüfen könnten, ob nicht vielleicht doch abgekürzt, zu schnell entwickelt werde.

Mitte September gaben Biontech und Pfizer dem Druck nach: Sie veröffentlichten – wie mehrere andere Firmen auch – das normalerweise geheime Impfprotokoll, eine Blaupause der gesamten klinischen Studie. Auf 137 Seiten wird beschrieben, welche Gruppen von Probanden teilnehmen, welche Sicherheitsstandards gelten. Und vor allem: wann und wie beurteilt wird, ob der Impfstoff wirkt.

Um das zu prüfen, muss über die Laufzeit der Studie eine Mindestanzahl an Probanden an Corona erkrankt sein. Die Biontech-/Pfizer-Studie sieht 164 Fälle vor. Dabei wird verglichen, wie viele den Impfstoff bekommen hatten und wie viele ein Placebo. Wenn alle 164 Erkrankten aus der Placebogruppe stammen und keiner aus jener der Geimpften, wären die Vakzine rechnerisch 100 Prozent wirksam.

Da es aber relativ lange dauern kann, bis so viele Probanden erkranken, haben alle Impfstoffentwickler Zwischenanalysen eingeplant. Biontech und Pfizer wollen bereits nach 32 erkrankten Probanden erstmals prüfen, wie viele von ihnen geimpft waren. Bei einer so geringen Zahl liegt die Latte höher. Es muss "überwältigende Wirksamkeit" festgestellt werden. Was genau das heißt, ist in Europa Abwägungssache der Zulassungsbehörden, in den USA dagegen ist es klar definiert: Die Wirksamkeit muss in diesem Fall bei mindestens 77 Prozent liegen, also dürfen höchstens 6 der 32 erkrankten Probanden geimpft worden sein.

Kritiker werten eine erste Analyse mit nur 32 Fällen als zu früh, als überhasteten Versuch, so schnell wie möglich eine Zulassung zu erreichen. "Das ist vielleicht die wichtigste klinische Studie der Welt", sagt Professor Eric Topol, einer der führenden biomedizinischen Forscher und Chef des Scripps-Instituts in San Diego. "Sie sollte richtig gemacht und nicht vorzeitig gestoppt werden."

Die Zahl sei tatsächlich "relativ niedrig", sagt Sahin, und kleine Zahlen seien "fehleranfälliger"; um ein statistisch signifikantes Resultat zu erhalten, müsse die Impfstoffwirksamkeit sehr hoch sein. "Wir wollten aber die Chance haben, es früh genug zu sehen, falls die Ergebnisse wirklich sehr gut wären."

Pfizer-Chef Bourla hat in den vergangenen Wochen immer wieder gesagt, dass er bereits Ende Oktober mit der ersten Interims-Analyse rechnet. Und er hat damit auch Trump angestachelt, weiterhin einen Impfstoff vor der Wahl zu versprechen.

Hätten die Firmen sich die ganze politische Diskussion nicht sparen können, indem sie die Zwischenergebnisse bis nach der Wahl zurückhalten würden? Keine Option, findet Sahin, und eine "müßige Diskussion". Wenn 32 Erkrankungen erreicht seien, werde Biontech automatisch von den unabhängigen Experten des Data and Safety Monitoring Board benachrichtigt, die über die Studie wachen: Das Komitee aus Ärzten und Statistikern hebt dann die Verblindung der 32 Probanden auf und schaut nach, wer von ihnen geimpft war. "In dem Augenblick, in dem wir die Wirksamkeitsinformationen bekommen, können und werden wir sie nicht zurückhalten", sagt Sahin.

Inzwischen ist eine Zulassung vor der Präsidentschaftswahl ausgeschlossen – selbst wenn die ersten Studienergebnisse noch vorher kommen und überwältigend gut sind. Die FDA erließ Anfang Oktober eine Regel, dass sie Anträge auf Notfallzulassung erst entgegennimmt, nachdem alle Probanden im Mittel mindestens zwei Monate nach Erhalt der vollen Dosis beobachtet wurden. Im Falle von Biontech und Pfizer wäre das erst ab Mitte November. Trump hatte bis zuletzt versucht, die neue FDA-Regel zu verhindern – und lamentierte von einem "politischen Attentat".

Auch in Europa wäre eine Zulassung frühestens im November möglich. Die zuständige European Medicines Agency (EMA) ließ BNT162b2 für das sogenannte Rolling-Review-Verfahren zu: Dabei werden die Studienergebnisse nicht wie meist üblich auf einmal, sondern häppchenweise bei der Zulassungsbehörde eingereicht. So kann sich die EMA nach und nach durch die Datenflut arbeiten und schneller entscheiden – allerdings auch nicht von heute auf morgen.

Wie gut oder schlecht ein Impfstoff tatsächlich ist, wird sich erst nach Monaten oder Jahren zeigen. Sahin gibt sich aufgrund der bisherigen Forschungsergebnisse zuversichtlich: "Ich glaube, dass Impfstoffe idealerweise zwei Dinge leisten sollten: zum einen die Krankheit zu verhindern oder zumindest zu mildern, zum anderen aber auch die Übertragung des Erregers von Mensch zu Mensch zu verhindern." Beides zusammen wäre ein enormer Erfolg, dann ließe sich die Pandemie tatsächlich eindämmen.

Noch teilen wenige Experten Sahins Optimismus. Bisherige Studien deuten im Gegenteil darauf hin, dass auch geimpfte Menschen das Virus weitergeben, dass sie jedoch schneller genesen und dadurch weniger Menschen anstecken. Auch das würde gegen die Pandemie helfen, vorbei wäre der Kampf damit noch lange nicht.


Cambridge, Massachusetts

Der amerikanische Biotech-Star Moderna bekommt Hilfe vom US-Militär und sieht den Impfstoff nur als ersten Schritt zu einer neuen Medikamentenwelt.

Moderna ist ein zutiefst amerikanisches Unternehmen. Gegründet und mit Sitz in Cambridge, Massachusetts, ausgestattet mit Milliarden Dollar an Wagniskapital von US-Investoren, ein Star an der New Yorker Börse, wichtigster Kandidat im Regierungs-Impfprogramm "Operation Warp Speed". Aber der Chef ist ein schmaler, hartgesottener Franzose mit flinker Zunge und kräftigem Akzent. Gern wäre man dabei gewesen, wie Stéphane Bancel im Frühjahr im Weißen Haus stand und von Trump aufgefordert wurde: Mach mir einen Impfstoff, noch vor der Wahl.

Vor einigen Wochen kam schließlich eine verspätete, dafür aber öffentliche Antwort: Vergiss es. Das Unternehmen teilte mit, dass sein Impfstoff frühestens Ende November zur Verfügung stehen werde. Nach der Wahl.

Moderna ist derzeit der größte Konkurrent von Biontech. Die Amerikaner arbeiten an der gleichen mRNA-Technologie. Und wie die Mainzer sehen sie Impfstoffe als eine von vielen möglichen Abzweigungen auf dem Weg zu einer ganz neuen Medikamentenklasse.

"Wir bauen eine Plattform", sagt Bancel. "Wenn wir direkt das Innere der Zelle erreichen können, eröffnet das ganz neue Welten für Therapien von nahezu jeder Krankheit." Die Wissenschaftler des Unternehmens glauben, mit der mRNA den Schlüssel gefunden zu haben, um "die Software des Lebens" umschreiben zu können.

Das sind große Worte, vielleicht ein bisschen dick aufgetragen, aber Bancel ist nach neun Jahren als CEO zum lautesten Propheten einer Technologie geworden, die er selbst anfangs für "unmöglich" hielt: damals, 2010, als Stammzellbiologen der Harvard University erste Experimente zur mRNA-Medizin durchgeführt hatten und ein Unternehmen gründen wollten.

Bancel hat inzwischen viele andere überzeugt. Moderna legte den größten Biotech-Börsengang aller Zeiten hin, entwickelt Therapien für Krebs, Aids, Herzerkrankungen. Und Infektionskrankheiten. In den vergangenen beiden Jahren hat Moderna gemeinsam mit dem National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) an Mers, einem anderen Coronavirus, geforscht, um daraus vorsorglich eine Waffe gegen die nächste Pandemie zu entwickeln. Das NIAID wird von Anthony Fauci geleitet, dem Pandemieberater der US-Regierung. Anfang Januar besorgten sich Moderna-Wissenschaftler die DNA-Sequenz des neuen Virus, das gerade begann, sich durch die Welt zu fressen, Computer errechneten daraus seine dreidimensionale Struktur. Bancel schrieb umgehend an Fauci: "Sehen Sie das auch?" Die Spike-Proteine von Mers und dem neuen Coronavirus sahen fast identisch aus. Das für jeden Impfstoff benötigte Antigen, um das Virus auszuschalten, das Angriffsziel, schien damit bereits festzustehen.

Drei Wochen später war das Design des Vakzins fertig. Am 16. März impfte Moderna den weltweit ersten Probanden. Seit dem 27. Juli läuft die dritte Phase der Studie, organisiert gemeinsam mit Faucis NIAID. Der Zeitvorteil von einigen Monaten kann sich noch in Luft auflösen, wenn sich die bislang unerprobte Technologie in den groß angelegten letzten Phasen der Studien nicht bewährt.

In den ersten Monaten des kommenden Jahres werden auch herkömmliche Impfkandidaten so weit sein. Der US-Konzern Johnson & Johnson testet ein vektorbasiertes Vakzin an 60.000 Probanden in der dritten Phase, musste die Studie allerdings vorvergangene Woche stoppen, da ein Proband erkrankte. Ob im Zusammenhang mit der Impfung, ist unklar.

Ein gemeinsames Projekt der Universität Oxford und des britisch-schwedischen Konzerns AstraZeneca nutzt eine harmlose Version eines Erkältungsvirus. Auch diese Phase-drei-Studie musste wegen der Erkrankung eines Probanden unterbrochen werden, inzwischen aber läuft sie wieder. Der Pharmakonzern Merck setzt auf Vektorimpfstoffe, Sanofi auf proteinbasierte Totimpfstoffe, beide verfügen über jahrzehntelang aufgebaute Impfstofferfahrung – auch wenn sie erst in einem Jahr einen Kandidaten zulassungsreif haben werden.

Der US-Regierung ist egal, welcher Ansatz am schnellsten sein wird. Sie beschloss, allen über die Ziellinie zu helfen. Im April verkündete Trump "Operation Warp Speed": Bis Januar 2021 sollen 300 Millionen Impfdosen zur Verfügung stehen, dafür werden acht Unternehmen mit über zehn Milliarden Dollar gefördert.

Zugleich wurde eine Art zentrale Stabstelle geschaffen, die alle beteiligten US-Ministerien und Behörden koordiniert, vom Gesundheitsministerium über die Arzneimittelzulassung bis zum Verteidigungsministerium. So etwas habe es seit dem Manhattan Project nicht mehr gegeben, so Trump, als die Amerikaner alle Kräfte bündelten, um in kürzester Zeit die Atombombe zu bauen.

Zumindest teilweise ein passender Vergleich: Auch Operation Warp Speed ist eine überwiegend militärisch gesteuerte Organisation. Formell gibt es zwei Köpfe. Moncef Slaoui, einst Leiter der Impfstoffabteilung des Pharmariesen GlaxoSmithKline. Als Chef von Operation Warp Speed verantwortet er "Impfstoffe" und "Therapeutika". Ihm beigestellt ist der Viersternegeneral Gustave Perna, der bislang als Chef des Army Material Command fast die gesamte Materiallogistik der U. S. Army kommandierte. Perna ist zuständig für "Planung, Operationen, Analyse", "Sicherheit" sowie "Ausrüstung, Produktion und Distribution".

Wie tief die militärische Durchdringung ist, zeigt ein Organigramm von Operation Warp Speed: Von den 90 führenden Köpfen stammen rund zwei Drittel aus dem Verteidigungsministerium oder Militär. Die US-Armee sei nun einmal sehr erfahren mit komplexen logistischen Aufgaben, heißt es aus Washington.

Bancel bestätigt das: "Operation Warp Speed ist tatsächlich sehr hilfreich." Auch Moderna gehört zu den geförderten Unternehmen. "Über Sicherheit oder Materiallieferungen muss ich mir keine Sorgen machen, die Army ruft bei den Firmen so lange jeden Tag an, bis das Zeug da ist." Als Moderna vor einigen Wochen ein neues Entlüftungssystem für eine Produktionsanlage brauchte, begleitete ein Militärkonvoi den Lkw des Lieferanten mehrere Tausend Kilometer aus dem mittleren Westen der USA bis an die Ostküste. "Der musste an keiner roten Ampel halten", sagt Bancel. Dafür soll Moderna der US-Regierung in den kommenden Monaten 100 Millionen Impfdosen im Wert von 1,5 Milliarden Dollar liefern, mit der Option auf 400 Millionen weitere.

Trotz der Nähe zur US-Regierung sei kein politischer Druck auf das Unternehmen ausgeübt worden, beteuert Bancel. Abkürzungen bei der klinischen Studie seien ausgeschlossen.

Allerdings will auch Moderna nicht mit einer ersten Analyse bis zum Ende der derzeit laufenden dritten Phase von Kandidat mRNA-1273 warten. Erste Ergebnisse sollen noch im November nach 53 Corona-Erkrankungen unter den 30.000 Probanden vorliegen.

Warum sich nicht bis zum Ende der Studie gedulden? "Das wäre erst im Frühjahr, und wie es derzeit aussieht, stirbt auf dem Planeten bis dahin eine weitere Million Menschen am Virus", sagt Bancel.

Seit Juli produziert Moderna so viele Dosen von mRNA-1273 wie möglich und hat sich dazu keinen Pharmakonzern ins Boot geholt, sondern Herstellungspartner rund um die Welt. Bis Ende des Jahres sollen 20 Millionen Dosen bereitstehen. Im kommenden Jahr sollen mindestens 500 Millionen produziert werden. "Die Herstellung wird für alle ein dauerhaftes Problem sein, nicht nur am Anfang, sondern die nächsten 18 Monate", sagt Bancel. Vor allem die regulierten medizinischen Rohmaterialien – Zellkulturen, Enzyme, Lipide – sind ein Unsicherheitsfaktor: Wenn nur eine Komponente von einem der unzähligen globalen Zulieferer fehlt, stoppt die gesamte Produktion.

Und selbst wenn alles klappe, die Zulassungen, die Herstellung, die Lieferung, werde es auf absehbare Zeit zu wenig Impfstoff geben, prognostiziert Bancel: "Zumindest in den ersten sechs Monaten des Jahres werden wir nicht genug für alle haben."


Tübingen

Das Tübinger Unternehmen Curevac lässt sich mehr Zeit, um so einen besseren Impfstoff zu entwickeln. Und arbeitet schon an einer Lösung für die nächste Pandemie – gemeinsam mit Elon Musk.

Auf einem Hügel hoch über Tübingen steht das Hauptquartier von Curevac, große Fenster lassen tief bis in die Schwäbische Alb blicken. Alles ist so neu, dass es noch glänzt, nicht jeder Taxifahrer kennt den Weg. Nebenan wird schon weitergebaut, eine neue Produktionsanlage. 9000 Wissenschaftler aus aller Welt bewarben sich allein in diesem Jahr.

Curevac ist ein Pionier der mRNA-Technologie, 2000 gegründet, erste wegweisende Studien und wichtige Grundlagenarbeit entstanden in Tübingen. "Wer als Erstes den Weg durch den Dschungel freischlägt und eine Technologie breit anwendbar macht, braucht lange und holt sich bis dahin einige Schrammen ab, die anderen können dann einfach losrennen", sagt Franz-Werner Haas, der Vorstandschef.

Während Moderna in Cambridge Milliarden Dollar wert war, wurde Curevac in Tübingen jahrelang nur aus der Privatschatulle eines Mäzens finanziert. Dietmar Hopp, der Gründer von SAP, hat seit der Jahrtausendwende über eine Milliarde Euro in deutsche Biotech-Hoffnungen gesteckt. Weil es sonst keiner macht. Banken lassen die Finger von allem, was mit neuen Medizinprodukten zu tun hat. Der Staat fördert lieber Autotechnologie. Es ist eine typisch deutsche Geschichte: Die Grundlagenforschung ist Weltklasse, nur baut keiner Produkte, weil es an Geld und Glauben fehlt.

In den USA und China entstanden in den vergangenen beiden Jahrzehnten Hunderte neue Biotech- und Pharmaunternehmen, sie entwickelten neue Krebsmedikamente und Gentherapien. In Deutschland wurde Hopp verlacht für sein Engagement, weil er nur sein Geld verbrenne.

Geändert hat sich das erst 2015, ein bisschen zumindest. Da kam Bill Gates nach Tübingen und investierte, begeistert, 100 Millionen Dollar in Curevac. "Könnt ihr mit eurer Technologie Impfstoffe für einen Dollar machen?", hatte er gefragt. "Theoretisch schon", hatten sie ihm geantwortet.

Von da an hätte alles viel schneller laufen können, stattdessen kämpfte Curevac jahrelang bei Politik und Banken darum, eine Fabrik bauen zu können für die industrielle Produktion von Medikamenten. Eine Milliarde Dosen Impfstoff pro Jahr zum Beispiel. Die Anlage wird nun erst 2022 fertig.

Die deutsche Politik interessierte sich lange kaum für das schwäbische Unternehmen. Im März lud dafür Donald Trump Curevac zu einem Treffen ins Weiße Haus ein, gemeinsam mit anderen führenden Impfstoffherstellern. Wenig später hieß es, Trump habe bei der Gelegenheit das unmoralische Angebot gemacht, das deutsche Unternehmen zu kaufen, um dessen Impfstoff für Amerika zu sichern.

Es war ein Gerücht. Das Unternehmen dementierte, aber in Tübingen wurden Curevac-Mitarbeiter auf der Straße bespuckt und als Verräter beschimpft. "Das war eine sehr schwierige Zeit für uns und unsere Mitarbeiter", sagt Haas.

Wenig später ging Curevac auf die Bundesregierung zu: Wir brauchen Geld und Unterstützung, wollt ihr nicht Anteile kaufen? Im Juni übernahm der Staat für 300 Millionen Euro knapp 23 Prozent der Unternehmensanteile. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) spricht von der "hohen industriepolitischen Bedeutung" der Beteiligung. Weil damit nicht nur der Impfstoff im Land bleibt, sondern auch die Technologie und das Unternehmen.

Curevac, der Pionier, wird nicht zu den Ersten gehören, die einen Impfstoff zugelassen bekommen. Die klinische Studie des Tübinger Kandidaten steckt noch in den ersten beiden Phasen, Sicherheit und Dosierung. Phase drei soll Ende des Jahres beginnen. Mögliche Zulassung, wenn alles funktioniert, im März oder April.

Curevac hat sich bewusst mehr Zeit genommen. "Das Feld entwickelt sich ja auch rasant weiter, die ersten Stoffe werden vielleicht nicht die finalen sein", sagt Mariola Fotin-Mleczek, Curevacs Chief Technology Officer. Sie strebt nach einem Wirkstoff, der wirksamer, effizienter, auch besser zu transportieren ist, weil er wahrscheinlich nur bei Kühlschranktemperatur gelagert werden muss.

Die Tübinger Forscher haben längst die nächste Krise im Blick. Und glauben, eine Antwort gefunden zu haben: ein weißer Kasten, groß wie ein Wohnzimmerschrank, eine Glasscheibe erlaubt den Blick ins Innere. Inmitten von Schläuchen und Pumpen klemmt ein silbernes Ei, umhüllt von einem auf- und abfahrenden Magnetring, es produziert RNA. Die ganze Konstruktion lässt sich in einen Container stecken und um die Welt verschiffen: als portables Impfstofflabor, das in Unikliniken und Labors aufgestellt werden kann und dann per Onlineanweisung die gerade benötigten Wirkstoffe ausspuckt. "Wenn wir lokal so einen RNA Printer stehen hätten, könnten wir direkt vor Ort in kleinen Mengen den benötigten Wirkstoff produzieren, damit ein Ausbruch gleich lokal begrenzt werden kann."

Noch ist die Maschine ein Prototyp, aber spätestens in zwei Jahren soll sie in Serie gehen – mithilfe von Elon Musk. Die Tübinger Forscher sind keine Anlagenbauer, deswegen haben sie sich den Maschinenbauer Grohmann als Partner gesucht. Der wurde dann von Tesla übernommen, und so schlug schließlich Elon Musk selbst im Sommer in Tübingen auf, um sich den Mini-Bioreaktor erklären zu lassen, auf dem nun prominent das Tesla-Logo prangt. Musk war begeistert von der Technologie, aber nicht vom deutschen Entwicklungstempo: "Jungs, das muss schneller gehen", sagte er zum Abschluss des Besuchs und versprach persönliche Unterstützung.

"Da hat Musk wohl recht", sagt Haas. "Wir haben jetzt die Gunst der Stunde zu zeigen, was wir können."


Langen, Hessen

Der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts erklärt, wie und wann ein Impfstoff zugelassen wird und wie sicher er ist.

Wenn man sich einen Gegenpol ausdenken könnte zu den schicken Unternehmenszentralen der Pharmafirmen und der optimistisch geschönten Börsensprache ihrer CEOs, ließe sich kaum ein besserer Ort finden als das Paul-Ehrlich-Institut (PEI): ein Bau wie eine in die Jahre gekommene Gesamtschule im Industriegebiet eines Frankfurter Vororts. In einer Vitrine am Eingang ist ein Freundschaftsteller des mongolischen Gesundheitsministeriums ausgestellt, in der Bibliothek im zweiten Stock die Totenmaske von Paul Ehrlich, dem Namensgeber und Begründer der modernen Chemotherapie.

Das PEI ist eine von zwei deutschen Arzneimittelzulassungsbehörden, zuständig für Impfstoffe. Geleitet wird es seit elf Jahren von Klaus Cichutek, einem 64-jährigen Professor für Biochemie und die globale Instanz für Gentherapie. Er sagt: "Wenn die Daten den Kriterien eines günstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses entsprechen, dann ist es möglich, dass wir in den ersten Monaten des nächsten Jahres die Zulassung eines Covid-19-Impfstoffs haben werden." Und bald auch mehr als einen: "Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir auch Zulassungen für mehrere Impfstoffprodukte haben werden."

In den vergangenen Monaten hat das PEI alle verfügbaren Kräfte im Kampf gegen das Virus gebündelt. Klinische Studien wurden im Schnitt in 12 statt 65 Tagen genehmigt. Viele der Impfstoffentwickler wurden im Vorfeld wissenschaftlich beraten, damit sie ihre Studien richtig aufbauen. "Wir haben einige beraten, die jetzt schon in Phase zwei und drei sind", sagt Cichutek. Das deutsche Institut genießt weltweite Expertise, weil es nicht nur zulässt, sondern in eigenen Hochsicherheitslabors selbst forscht.

Auch die Zulassung soll nun schneller gehen. Womöglich wird für die meisten Corona-Impfstoffe zunächst eine "bedingte Zulassung" erteilt, weitere Daten – etwa zur Langzeitwirksamkeit – können dann nachgereicht werden.

Wird ein Stoff freigegeben, dann gleich EU-weit. Formell müssen die Anträge bei der europäischen Arzneimittelagentur EMA gestellt werden. Für Prüfverfahren werden dann Gutachter aus den nationalen Behörden nach Expertise ausgewählt. Das deutsche PEI gilt bei Impfstoffen als führend und hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten am häufigsten Vakzine für Europa geprüft.

Von den zehn Firmen, die derzeit im Rennen um einen Impfstoff vorn liegen, werden aus strategischen Gründen wohl nicht alle einen Zulassungsantrag in der EU stellen. Cichutek geht von anfangs drei bis vier Anträgen aus; das bedeute aber nicht, dass Ärzte eine große Auswahl hätten, welchen Impfstoff sie ihren Patienten geben. Auch sei es durchaus möglich, dass die US-amerikanische FDA einen Impfstoff aufgrund der spezifischen Pandemiesituation für marktreif hält, die Europäer aber nicht – oder umgekehrt. "Bei der Impfempfehlung nach der Zulassung geht es dann auch darum, wie der größte Nutzen für die Eindämmung der Pandemie zu erzielen ist und wie bestimmte besonders gefährdete Risikogruppen zu schützen sind. Das kann weltweit durchaus unterschiedlich sein", so der PEI-Präsident.

Die US-Behörde hat erklärt, einen Covid-19-Impfstoff ab 50 Prozent Risikominderung zuzulassen. In Europa gibt es solche fixen Grenzwerte nicht. Könnte also ein Impfstoff mit nur 40 Prozent Wirksamkeit durchgehen, wenn er für eine bestimmte Gruppe besonders geeignet ist? Theoretisch ja, sagt Cichutek: "Wir wollen je nach Situation und frei unter Bewertung der gesamten produktspezifischen Datenlage entscheiden können und uns nicht von vornherein ein Korsett anlegen."

Was muss ein Impfstoff können, um den Segen des Instituts zu bekommen?

Cichutek spricht etwas abstrakt wieder von einem "günstigen Nutzen-Risiko-Verhältnis". Unter dem Nutzen verstehen die Zulasser gemeinhin die Wirksamkeit, also die Vermeidung eines schweren Covid-19-Verlaufs oder die Verringerung der Todesrate. Momentan rechneten auch wenige damit, dass die Seren tatsächlich eine "sterile Immunität" hervorrufen, also eine Weitergabe der Infektion komplett verhindern können.

Die Maske werden wir also so schnell nicht los. Cichutek: "Wir müssen die Möglichkeit im Blick haben, dass wir uns auch weiterhin mit dem Virus anstecken können, und dies in manchen Fällen auch auf nicht immunisierte Personen übertragen können", sagt er. "Aber wir werden vor Covid-19 oder schweren Verläufen geschützt sein."

Die Sicherheit der Vakzine ist hingegen klar definiert: Eine vorübergehende Rötung an der Einstichstelle oder leichte Kopfschmerzen nach der Impfung hält Cichutek für akzeptabel, Schäden am Körper nicht. Mittelfristig würden die Vakzinen gegen Covid-19 wohl die am besten erforschten Wirkstoffe der Menschheitsgeschichte werden, weil potenziell Milliarden Dosen verimpft würden.


München

Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats denkt darüber nach, wer zuerst geimpft werden soll und ob zu schnell geforscht wurde.

Noch weiß niemand, wie viele Impfstoff es in den kommenden Monaten für Deutschland geben wird. Nur dass es zu wenig sein wird, viel zu wenig. Vielleicht genug für zwei Millionen Menschen, vielleicht genug für vier Millionen. Was tun?

"So gerecht wie möglich verteilen und dabei einbeziehen, was der Impfstoff genau kann", sagt Alena Buyx. Sie ist Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien und leitet das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Technischen Universität München. Im Mai wurde sie zur Vorsitzenden des deutschen Ethikrates gewählt. Der berät gemeinsam mit den Experten der Leopoldina und der Ständigen Impfkommission (Stiko) des Robert Koch-Instituts die Bundesregierung: wer wann geimpft werden sollte. Und was in einer Pandemie wichtiger ist: einzelne zu schützen oder die gesamte Gesellschaft?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte die drei Organisationen gebeten, sich zusammenzuschließen, damit die Bundesregierung "nicht im luftleeren Raum" entscheiden müsse, welche Gruppen bevorzugt werden. "Aus ethischer Sicht darf der Staat priorisieren, solange eine echte Knappheit besteht und nicht für alle genug Impfstoff da ist", sagt Buyx.

Dazu müssen grundlegende Kriterien herangezogen werden. Selbstbestimmung etwa, sodass nicht jede Krankenschwester gezwungen wird, sich für das Gemeinwohl impfen zu lassen. Oder Gleichbehandlung: Wenn zuerst Lehrer geimpft werden, dürften Berufsschullehrer nicht ausgeschlossen werden.

Erste Empfehlungen sollen kommende Woche in einem gemeinsamen Bericht von Ethikrat, Leopoldina und Stiko vorliegen. Ganz konkret können die Gruppen aber erst festgelegt werden, sobald die Wirkprofile der Impfstoffe feststehen. Daraus können die Experten dann computergestützte Modelle entwickeln: Ergibt es mehr Sinn, vor allem alte Menschen zu impfen, weil sie eher schwer erkranken? Oder vor allem das Pflegepersonal in Heimen?

Schwierig wird es bei Kindern und Jugendlichen: "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sie haben eine andere Physiologie und brauchen eigene Forschung", sagt Buyx. Bislang testen nur Biontech und Pfizer ihren Kandidaten auch an 12- bis 18-Jährigen.

Buyx bereitet es keine Sorgen, dass schneller entwickelt wurde als normal. "Ich sehe keine Anzeichen, dass Sicherheitsstandards übergangen wurden."

Was aber, wenn die forschenden Firmen das Ziel doch irgendwie scheinbar näher heranrücken, indem etwa Biontech und Pfizer schon nach 32 positiven Corona-Fällen unter ihren Probanden prüfen, ob der Impfstoff wirkt? "Frühe Zwischenanalysen sind aus forschungsethischer Sicht an sich kein Problem." Nur sollten die Wissenschaftler auch bei einer positiv verlaufenen Zwischenanalyse weiterforschen und die Studie möglichst abschließen.

Aus Patientensicht sei es durchaus positiv, wenn es frühe Ergebnisse gibt. Das zwingt die Forscher dazu, ihre Impfstoffkandidaten nicht mehr gegen Placebos, sondern an den bereits erhältlichen Vakzinen zu messen.

"Wir werden uns in der Zukunft hoffentlich den besten aussuchen können", sagt Buyx. "Und mit Glück ist vielleicht in der nächsten Runde schon einer mit sehr hoher Wirksamkeit dabei."


Berlin

Wie die Bundesregierung plant, Millionen Menschen durchzuimpfen

Ein grauer Oktobertag in Berlin, in das Büro des Bundesgesundheitsministers strömt kalte Luft. Jens Spahn hat die Fenster weit aufgerissen, an diesem Morgen kann etwas Durchzug nicht schaden. Die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland steigt täglich, ebenso der Druck auf die Politik, und Spahn ist nun einmal das Gesicht der Krise. Noch ahnt er nicht, dass er sich bald selbst mit dem Virus infizieren wird.

Seit Beginn der Pandemie verfolgt Spahn ein Problem. Streng genommen ist der Einfluss eines Gesundheitsministers begrenzt. Der Infektionsschutz ist in normalen Zeiten Sache der Länder. Sie sind es auch, die für den Notfall Vorräte an Impfstoffen anlegen müssen, in der Regel jedenfalls. In der Pandemie übernimmt jetzt der Bund. Weil die Krise längst zu groß ist und die Möglichkeiten eines einzelnen Bundeslands viel zu klein, feilscht Spahn mit Pharmamanagern um Preise, besichtigt Produktionsanlagen und denkt über die richtige Impfstrategie nach.

"Anfang nächsten Jahres", sagt Spahn an diesem Morgen, rechne er mit einem Impfstoff für die deutsche Bevölkerung. Es könne Januar sein, vielleicht auch Februar oder März – oder sogar noch später. Er müht sich, die Erwartung nicht zu hoch zu treiben. Wer weniger verspricht, kann später nicht enttäuschen. "Natürlich wäre es das Beste, ein Impfstoff würde Neuinfektionen verhindern. Aber es wäre auch schon ein Gewinn, wenn er den Krankheitsverlauf milder macht."

Im Ministerium rechnet man damit, dass der Andrang groß sein wird. Sobald ein Impfstoff zugelassen ist, soll nach Möglichkeit in großen Zentren geimpft werden. Hausarztpraxen könnten anfangs mit der Logistik überfordert sein, fürchtet Spahn.

Die Länder und der öffentliche Gesundheitsdienst suchen bereits nach geeigneten Standorten wie Messehallen. Dazu müssen Transport und Logistik organisiert werden: Wahrscheinlich sollen die Vakzine an 60 bis 100 Zentrallager verteilt werden. Benötigt werden besondere Kühllager- und -Lkw. Die Impfstoffe werden in Großpackungen mit Dutzenden Dosen kommen, nicht in einzelnen Ampullen. Einmal geöffnet, müssen sie innerhalb weniger Stunden aufgebraucht werden.

Viel Zeit bleibt nicht mehr, all das zu organisieren.

Die Hallen müssen vor allem viel Platz bieten, das gilt erst recht bei Minustemperaturen beim Impfstart im Winter. In Gruppen von 20 bis 30 sollen die Menschen zunächst geschult und aufgeklärt, dann in separaten Räumen geimpft werden. Anschließend müssen die Impflinge noch mindestens eine halbe Stunde beobachtet werden. "Für all das braucht man Platz, die Turnhalle im Dorf wird dafür nicht ausreichen", sagt Spahn. Nicht zu vergessen: Sicherheitspersonal, um die knappen Impfstoffe zu bewachen. "Es wird am Anfang sicher so sein, dass wir Leute abweisen müssen, wenn sie ohne Termin kommen."

Bezahlt werden soll der Impfstoff aus dem Haushalt und nicht etwa über die gesetzliche Krankenversicherung. "Es kann keine Lösung sein, dass die Menschen in den Impfzentren erst aufwendig nachweise müssen, ob sie gesetzlich oder privat versichert sind", sagt Spahn.

Die Bundesregierung steuert nun die Entwicklung mehrerer digitaler Anwendungen: eine Lösung für das Terminmanagement, "ganz banal, aber sehr wichtig", wie Spahn sagt. Zum anderen müssen statistische Daten erhoben werden, vor allem für das RKI. Eine andere App soll die einfache Erfassung von Nebenwirkungen ermöglichen. "In einer idealen Welt gehört das alles in ein einziges großes digitales Tool", sagt der Minister. "Aber die Erfahrungen der vergangenen Monate haben gezeigt, dass so was unter Zeitdruck schnell schiefgeht", deswegen gebe es "mehrere Stand-alone-Lösungen".

Die Länder sollen sich im Gegenzug um alles Kleinteilige kümmern, vor allem um die Beschaffung von Impfzubehör, von Pflastern bis hin zu Kanülen und Spritzen. "Das schlaue Land kauft jetzt", sagt Spahn – und es klingt wie eine spitze Ermahnung. Spahn selbst war im Frühjahr daran gescheitert, die Republik frühzeitig mit einfachen Centprodukten auszustatten: Das Maskendesaster gilt als sein größtes Versagen in der Krise.

Und wer soll zuerst geimpft werden? Spahn will die Vorschläge der gemeinsamen Kommission abwarten. "Pflegekräfte, Ärzte und medizinisches Fachpersonal müssen aber sicher ganz oben stehen." Absehbar ist, dass noch mindestens das ganze erste Halbjahr rationiert und priorisiert werden muss.

Eine Impfkampagne der Bundesregierung soll das alles erklären. "Wir wollen die Bürger nicht zu einer Corona-Impfung ermuntern, damit sie dann feststellen, dass kein Impfstoff für sie da ist."

Einen Plan, bis wann eine kritische Masse der Deutschen durchgeimpft sein soll, gibt es nicht. Spahn sagt, alles hänge davon ab, wie viele Impfstoffe in den kommenden Monaten zugelassen werden und wie viele Dosen dann bereitstehen. Sobald es genug Impfstoff gebe, so Spahn, könnte durchaus "in sechs, sieben Monaten ein großer Teil derjenigen, die wollen, geimpft werden".

In den USA wurden bereits genauere Ziele definiert. "Anfang des Jahres könnten wir 30 bis 40 Millionen Menschen impfen lassen", sagt Moncef Slaoui, der Chef von Operation Warp Speed. Danach könnten rein logistisch – wenn genügend Dosen vorhanden sind – jeden Monat 80 Millionen Amerikaner geimpft werden.

Derartige Vorgaben lehnt Spahn ab: "Es wird keine Impfpflicht geben", sagt er. "Deswegen bringt es nichts, Ziele vorzugeben."

Die Bundesregierung ist an die europäische Impfstoffinitiative gebunden: Die Brüsseler Kommission verhandelt für die ganze EU mit den Herstellern. Die Dosen werden dabei nach dem Bevölkerungsschlüssel der EU verteilt. Je mehr Einwohner, desto mehr bekommt ein Land.

Einige Verhandlungen ziehen sich dagegen seit Monaten hin, auch mit Biontech und Pfizer. Spahn ist ungeduldig, das kann er im Gespräch kaum verbergen. Aus bestehenden Verträgen der EU stehen Deutschland rechnerisch bislang mindestens 150 Millionen Dosen zu, die als monatliche Teillieferungen erwartet werden, sobald sie verfügbar sind.

Weitere Millionen Dosen sollen unabhängig von der EU über Biontech und Curevac kommen, garantiert durch die Hunderte Millionen Euro an Fördergeldern für die beiden Unternehmen. Es ist eine Wette auf den Erfolg.

"Wir sichern uns deutlich mehr Impfstoff, als wir brauchen werden", sagt Spahn. Wenn etwas übrig bleibe, könne immer noch an andere Länder weiterverkauft oder an arme Nationen gespendet werden. "Aber Impfstoffentwicklung ist viel zu komplex, als dass wir nur auf einen Kandidaten setzen können. Wir brauchen Alternativen."

Vor allem eines will die Bundesregierung unbedingt vermeiden: Nur auf ein Pferd zu setzen, das vielleicht doch noch kurz vor der Ziellinie zusammenbricht.

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Einschübe:

2,7 Mrd. Euro stellt das Soforthilfeinstrument
der Europäischen Kommission den Mitgliedsstaaten
zur Bekämpfung der Pandemie bereit.
Ein erheblicher Teil davon entfällt auf
Abnahmegarantien für Impfstoffhersteller.
Quelle: Europäische Kommission

Mindestens 800 Mio. Impfdosen hat sich die
Europäische Kommission von sechs
verschiedenen Herstellern zusichern lassen.
Quelle: Europäische Kommission

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Bildunterschriften:

Teilnehmer eines Forschungsprojekts in Leipzig

Biontech-Chef Sahin:
»Wir sehen uns als Immuningenieure«

Impfstoff-Produktionsanlage in Visp in der Schweiz:
Die Herstellung wird ein dauerhaftes Problem

Curevac-Chef Haas:
»Wir haben jetzt die Gunst der Stunde«

Ethikratvorsitzende Buyx:
»Kinder sind keine kleinen Erwachsenen«

Politiker Spahn im September:
»Es wird keine Impfpflicht geben«