Ein deutsches Schweineleben
von Anja Stehle
Neue Zürcher Zeitung vom 13.05.2021
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Ein deutsches Schweineleben
Millionen Schweine leben in deutschen Hochleistungsbetrieben. Zwischen Geburt und Tod liegt ein leidvolles halbes Jahr. Das sind die 215 Tage im Leben von Schwein Falko.
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Als Falko die Augen öffnet, die Vorderbeine aufstellt und zu seinem ersten Schritt ansetzt, steht die Mittagssonne schon über den Feldern. Die Hitze der vergangenen Tage hat den Weizen kräftig wachsen lassen, die brandenburgischen Alleen leuchten grün wie auf einer Postkarte. Das Land freut sich über einen weiteren Sommertag.
Als Falko seinem Tod entgegengeht, auf die Laderampe galoppiert und im dunklen Bauch des Schlachttransporters verschwindet, schläft das Land. Schon seit Tagen liegen die Temperaturen unter null. Die Felder sind abgeerntet, der Wind peitscht über die brachliegenden Äcker.
Dem Schwein ist es einerlei. In Falkos Welt ist nie ein Sonnenstrahl vorgedrungen, nie hat es geregnet, nie hat er frisches Gras gespürt. Sein letzter Tag war wie der erste, und der erste war wie der letzte. Und nach 215 Tagen war es dann vorbei.
Das ist die Geschichte von Falko. Einem von rund 30 Millionen Schweinen, in einem System, das an seine Grenzen gekommen ist. Massenhafter Fleischkonsum, Billiglöhne und Kostendruck haben Tier, Mensch und Umwelt in eine Sackgasse geführt. Die Gesellschaft hat sich entfremdet von der Welt, die sie ernährt. In der deutschen Schweinezucht wird das besonders deutlich. Deutschland ist Europas grösster Schweinefleischproduzent. Weltweit steht das Land nach China und den USA an dritter Stelle. Zahlreiche Skandale haben in den vergangenen Jahren gezeigt, unter welch unwürdigen Bedingungen die Tiere in den Hochleistungsbetrieben leben und sterben. Dennoch hat sich in der Schweinehaltung kaum etwas zum Besseren verändert.
Sommer 2020
Schon seit Tagen ist Sau Nummer 1050 nicht mehr aufgestanden. Schwer atmend liegt sie auf der Seite. Sie ist dick geworden, 400 Kilo sind es nun. Es ist Zeit. Das Zucken wird heftiger, ihr Grunzen lauter. Bei jeder Bewegung drückt der Metallrahmen, der sie umgibt, in ihr Fleisch. In der Natur würde sie nun ein Nest für ihre Jungen bauen, um im Schutz der Grube gebären zu können. Hier im Stall soll sie diesen Drang ausleben, indem sie auf ein dünnes Stück Jutesack beisst. Jetzt schnappt sie so heftig danach, dass ihr Maul zu schäumen beginnt.
Falkos Geschwister hängen schon an den Zitzen, als das Ferkel auf den Boden flutscht. Ein kleines rosa Bündel, kaum grösser als eine flache Hand. Am weissen Flaum kleben Blut und Schleim. Eine Weile bleibt er noch so liegen, bis er sich aufrappelt und – die Nabelschnur hinter sich herziehend – die Zitzen seiner Mutter ansteuert. Noch sind die Füsse so schmal, dass sie in den Bodenritzen hängen bleiben.
Landwirt Ralf Remmert packt Falko und betrachtet ihn von allen Seiten. Das Ferkel zappelt und quiekt, als gehe es um sein Leben. «Ein Durchschnittsschwein», weder besonders schmächtig noch besonders kräftig, urteilt der Bauer. Dann malt er einen blauen Strich auf den Ferkelrücken und legt den kleinen Körper zurück zu seinen 15 Geschwistern.
Seinen Namen hat das Ferkel natürlich nicht vom Landwirt. Den hat sich die Redaktion ausgedacht. In Betrieben wie jenem von Remmert haben die allermeisten Tiere nicht einmal eine Nummer. 1300 Sauen, durchschnittlich 5000 Ferkel und 3500 Mastschweine züchtet er auf seinem Hof in Neudorf in der brandenburgischen Prignitz, zwei Stunden Autofahrt nordwestlich von Berlin. Der nächste Supermarkt ist zehn Kilometer entfernt, Handyempfang ist Glückssache.
2006 hat der Landwirt den Hof übernommen, eine Ansammlung von DDR-Bauten aus den 1970er Jahren. Der 53-Jährige lebt mit seinen beiden Kindern auf dem Gelände. Das Haus steht nur wenige Schritte von den Stallanlagen entfernt. Remmert ist Teil des Systems, Teil der auf Effizienz getrimmten Massentierhaltung – einerseits. Andererseits hat er vor vier Jahren einen Wandel angestossen und sich von einigen besonders umstrittenen Praktiken in der Schweinezucht verabschiedet.
Zum Beispiel vom Kastenstand. Das Metallgestänge ist etwa 2 Meter 50 lang und 70 Zentimeter breit. Darin eingezwängt, kann sich die Sau nicht drehen und nur langsam hinlegen. Das soll verhindern, dass sie sich auf den Boden plumpsen lässt und so womöglich Ferkel erdrückt. Bei den meisten Schweinezüchtern leben die Tiere normalerweise vier Wochen rund um den Geburtstermin in dem Gestänge. Remmert hat die Zeit auf eine Woche verringert. Zudem verzichtet er auf die Kastration und das Kupieren, also das Kürzen der Ringelschwänze. All das ist Standard in der deutschen Schweinezucht. Die Kastration soll den hormonell bedingten Ebergeruch verhindern. Die meisten Züchter kastrieren ohne Betäubung. Das Kupieren der Ringelschwänze wiederum soll verhindern, dass sich die Schweine in den trostlosen Ställen aus Langeweile beissen, was zu Entzündungen führen kann.
Natürlich treibt den Geschäftsmann Remmert nicht bloss die Tierliebe an. Die Haltungsform hat auch betriebswirtschaftliche Gründe. Remmert kann für seine Schweine einen höheren Preis erzielen. Mit der Supermarktkette Rewe und einem Fleischverarbeiter aus Brandenburg hat der Landwirt zudem vor zweieinhalb Jahren einen Vertrag über fixe Preise von etwa 30 Cent über den üblichen Marktpreisen und Abnahmegarantien geschlossen. Der Clou: Weil Remmert mehr Tierwohl bietet als sonst üblich und zudem mit Unternehmen aus seiner Region zusammenarbeitet, kann Rewe das Fleisch als Premiumprodukt vermarkten.
Der Vertrag macht den Landwirt unabhängig von den üblicherweise stark schwankenden Schweinepreisen. Jüngst ist der Preis wegen der Afrikanischen Schweinepest und des Importstopps seitens Chinas wieder deutlich gesunken. Aus Angst vor der Tierseuche lässt China, der grösste Abnehmer auf dem Weltmarkt, zurzeit kein deutsches Schweinefleisch mehr ins Land. Zeitweise ist der Preis gar auf 1 Euro 19 pro Kilo gefallen. 1 Euro 50 wären nötig, um die Kosten zu decken.
Remmert geht gebückt; und man weiss nicht, ob das an den tief hängenden Decken liegt. Oder daran, dass er schon seit drei Uhr morgens auf den Beinen ist. Der schmale, lange Gang führt ihn zu den einzelnen Ställen. Künstliches Licht flackert, die Luft ist warm und riecht nach Futter und Ammoniak. Hier und da stehen Mülleimer auf dem Boden; mit toten Ferkeln darin. Es sind Totgeburten oder Ferkel, die es nicht über die ersten Lebensstunden geschafft haben.
Weil die hochgezüchteten Sauen heute mehr als 15 Junge gebären, ist die Wahrscheinlichkeit von Totgeburten gestiegen. Auch der Kampf um die Muttermilch unter den Jungtieren hat zugenommen. Schliesslich hat eine Sau nur 14 Zitzen. Früher, als eine Sau noch 10 Ferkel bekommen hat, war das völlig ausreichend. Nun aber braucht es zusätzliches Milchfutter und sogenannte Ammensauen, die fremde Ferkel säugen. Und trotzdem verlieren manche Ferkel diesen Kampf.
Totes Kapital könnte man sagen – in Landwirt-Logik. Eine emotionale Bindung zu den Tieren darf man in diesem Job wohl gar nicht erst entwickeln. Maschinen seien die Tiere natürlich nicht, sagt Remmert. Und nach einer Pause: «Man stumpft ab.»
Bis zu 800 Ferkel kommen auf dem Hof in Neudorf jede Woche auf die Welt. Stall 6 ist so etwas wie der Kreisssaal des Betriebs. Eine «Abferkelbucht» reiht sich an die nächste. Darin liegen Sauen, die gerade gebären oder das schon hinter sich haben. Gelegentlich gehen Mitarbeiter durch die Reihen und sehen nach dem Rechten. Es ist leise. Logisch, denn gerade bei der Geburt sollten Tiere mit ihren Lauten keine Feinde anlocken.
An jeder Bucht hängt ein Blatt Papier mit den «betriebswirtschaftlichen Daten» der Muttersau, wie der Landwirt es nennt. Falkos Mutter kam 2018 zur Welt, im Schnitt hat sie 2,2 Würfe pro Jahr. In ihrem gesamten Leben werden es 5,7 sein. Auch nach Falkos Geburt wird es nur wenige Wochen dauern, bis Nummer 1050 wieder zur Besamungsanlage rotiert. So lange, bis «Verschleisserscheinungen» entstünden und die «Ferkelqualität» sinke, sagt Remmert. Dann haben die Sauen ihr Soll erreicht und werden geschlachtet.
Eine halbe Stunde nach der Geburt hat es Falko quer durch seine nun 4,6 Quadratmeter grossen Welt zur Wärmelampe geschafft. Immerhin liegt er hier in die Nähe der Zitzen. Vor seinen Augen hat der Kampf um die besten Plätze begonnen. Aus den vorderen Zitzen kommt meist mehr Milch, hinten wird es weniger. In wenigen Tagen wird sich unter seinen Geschwistern eine Rangordnung herausgebildet haben.
«Mal wieder alles auf Anschlag.» Remmert lacht. Es ist ein Lachen der Sorte, die Ärger überspielen soll. Gerade ist Erntesaison, und ausgerechnet jetzt sind drei seiner Mitarbeiter krank geworden. Der Landwirt arbeitet noch mehr als sonst, sieben Tage am Stück, und das seit vier Wochen. Normalerweise würde man wohl sagen, Remmert sei urlaubsreif. Aber unter Landwirten ist das natürlich Quatsch. Schweine sind auch an Feiertagen hungrig, und Supermärkte machen keine Ferien.
Das letzte Mal ist Remmert vor sechs Jahren in den Urlaub gefahren, oder vor sieben? Genau weiss er das nicht mehr. Nach Dresden und Prag ist er damals gereist. Der Landwirt steht in seinem Büro und blickt seinem blauen Arbeitsoverall entlang auf den Boden. An seinen Schuhen hängt ein Batzen Dreck. Zehn Jahre dauere diese «Durststrecke» nun schon. Der Schweinepreis zu niedrig, die Kosten für Futter und Investitionen zu hoch. Hoffnung macht dem Landwirt sein neues Vermarktungskonzept. Auf diesem Weg, so glaubt er, könnte er bald so viel verdient haben, dass er einen Betriebsleiter einstellen kann.
Falko spürt davon bisher nur wenig. Er ist jetzt vier Wochen alt und 6,7 Kilogramm schwer. Die rosa Haut ist mit feinen weissen Borsten überzogen. Es sieht so aus, als habe er sich im Kampf um die Zitzen das Mittelfeld gesichert. Jedenfalls wirken einige seiner Geschwister etwas kräftiger als er. Als sich Remmert ihnen nähert, quieken sie laut und flüchten in die Ecke. «Schwierige Phase», erklärt der Landwirt, «die suchen ihre Mutter.»
Vor einem Tag wurde Falko gemeinsam mit neun Brüdern in einen neuen Stall gesteckt. Alle haben nun eine Marke im Ohr und ein paar Impfungen hinter sich. Die Schwestern sind weg, auf sie wartet das Leben als Zuchttier. Jetzt muss es ohne Muttermilch weitergehen. Das Futter schiesst über ein Rohr in die Stahltränke. Die neue Umgebung heisst nun zwar Aufzuchtstall und ist mit zehn Quadratmetern etwas grösser als die Abferkelbucht. Die Tristesse ist geblieben: vier Wände aus Metall und ein Boden, durch den der Kot fliesst. Die Ausscheidungen sammeln sich unter dem sogenannten Spaltenboden. Erst wenn die Schweine nach drei Wochen wieder den Stall wechseln, spülen die Mitarbeiter das Abteil mit einem Hochdruckreiniger sauber.
Der Spaltenboden ist nicht nur der Grund für den fürchterlichen Gestank in den Schweinebetrieben. Er führt auch dazu, dass die Tiere meist nur staubiges Trockenfutter bekommen. Ein Mehlmix aus Getreide, Soja, Milchpulver, Kakaopulver und Brot. Festes Futter, etwa Kartoffelschalen, würde durch die Ritzen fallen und unter dem Spaltenboden vergammeln. Das alles liesse sich am Ende nur schwer reinigen. Artgerecht ist diese Form der Futtergabe nicht. «Schweine haben eigentlich das Bedürfnis, Futter mit ihrer Rüsselscheibe zu suchen und zu ertasten», erklärt Remmert. Eigentlich. So vieles könnte in der Schweineaufzucht «eigentlich» besser sein.
Wenn man Remmert dabei zuhört, wie er erst den eigenen Stall und dann das ganze System kritisiert, fällt es schwer, zu verstehen, warum er das trotzdem alles mitmacht. Da war kein Familienhof, den er übernehmen musste. Remmert ist Ingenieur. Seine Diplomarbeit hat er über Elektroantriebe verfasst und dann einige Zeit für Siemens gearbeitet. Seine zwei Töchter hat er auf die reformpädagogische Montessori-Schule geschickt. Er isst nicht einmal gerne Fleisch. Wenn überhaupt, dann solches vom Rind. Also warum das alles?
Remmert sagt, er wolle etwas verändern. Vor zwei Jahren hat er mit dem Bau eines neuen Stalls begonnen. Künftig soll ein Teil seiner Tiere dort untergebracht werden. Auf Stroh sollen sie leben, ausserdem soll es eine «Schweinetoilette» geben. Remmert hat sie selbst entwickelt: eine Ecke im Stall, aus der sich der Kot leicht abtragen lässt. Neben Trockenfutter soll es dann auch Kartoffelschalen geben. Die Ferkel sollen länger bei der Mutter bleiben. Und der Kastenstand kommt weg. Noch in diesem Frühjahr soll der Neubau fertig werden. Eine 1,2-Millionen-Euro-Investition. 40 Prozent der Gelder kommen aus staatlichen Fördertöpfen.
Seine Herangehensweise hat Remmert in der Branche den Ruf des Enfant terrible eingebracht. Nicht jedem gefällt, dass der Brandenburger vorführt, wie Schweinezucht auch funktionieren kann. Vor vier Jahren, als das Land Brandenburg ein Gremium zur Entwicklung eines Tierschutzplans zusammenstellen wollte, habe der mächtige Deutsche Bauernverband sogar verhindert, dass Remmert die Landwirte in dem Gremium repräsentiere.
«Remmert, du musst die Schnauze halten», hätten sie gesagt, «unsere Leute brauchen Ruhe, die müssen jetzt erst mal wieder Geld verdienen.» Ausgerechnet das Aktionsbündnis Agrarwende Berlin-Brandenburg, das gegen Massentierhaltung kämpft, habe ihm darauf ihren Platz in dem Gremium gegeben. Das treibt Remmert heute noch ein Grinsen ins Gesicht.
Der Landwirt stellt bei vielen seiner Kollegen «Betriebsblindheit» fest. Die Branche gebe ein fatales Bild ab. Viele Landwirte sähen die Probleme der Schweinehaltung, die schon seit dreissig Jahren existierten, gar nicht mehr. Vorwürfe macht er aber auch der Politik: «Es hilft nichts, noch ein weiteres Förderprogramm für einen neuen Stall aufzusetzen», sagt er. Stattdessen solle die Politik die Bauern dabei unterstützen, sich zu verändern, etwa durch Beratungsangebote.
Die ökologische Schweinehaltung in Deutschland ist eine Nische. Mit rund 22 500 Tonnen erreicht Öko-Schweinefleisch nur einen Marktanteil von 0,4 Prozent. Und die konventionelle Schweinezucht arbeitet seit Jahrzehnten nahezu unverändert. Auch aus Angst davor, dass Betriebe unter dem Kostendruck und der Konkurrenz auf dem Weltmarkt aufgeben werden, hat die Politik in den vergangenen Jahren Auflagen für Landwirte kaum verschärft. Nur langsam ändert sich etwas für die Tiere.
Nach jahrzehntelangem Hin und Her haben sich Bundestag und Bundesrat 2020 darauf geeinigt, den Kastenstand im sogenannten Deckbereich abzuschaffen. Sauen sind nicht nur bei der Geburt in den Metallrahmen eingepfercht, sondern auch bei der künstlichen Besamung. Die dauert zwar nur ein paar Minuten, trotzdem steht die Sau vier Wochen im Kastenstand. Denn Sauen würden nach der Befruchtung heftig um die Rangordnung in der Bucht kämpfen, das erhöht die Gefahr von Fehlgeburten. Allerdings sieht das Gesetz eine Übergangsfrist von acht Jahren vor. Und für die Abferkelanlagen gilt es nicht.
Seit Januar dürfen Ferkel zudem nur noch unter Vollnarkose kastriert werden. Die Änderung im Tierschutzgesetz wurde eigentlich schon 2013 beschlossen, das Inkrafttreten aber wieder und wieder verschoben. Geplant ist nun auch eine Abgabe auf tierische Produkte, eine Art Verbrauchssteuer. Denn noch immer ist Schweinefleisch viel zu günstig. Discounter locken mit Preisen von 2 Euro 99 für ein Kilo Fleisch – kein Landwirt kann von diesen Preisen leben. Es ist ein Paradox. In Umfragen sagen Verbraucher regelmässig, dass sie sich mehr Tierwohl wünschten und auch bereit wären, dafür einen höheren Preis zu bezahlen. Und trotzdem beträgt der Bioanteil beim Wurst- und Fleischkonsum weniger als 2 Prozent. Mit den Einnahmen aus der Tierwohlabgabe sollen die Landwirte die Ställe nun umbauen und so mehr Platz und mehr Tierwohl garantieren. Doch ob diese Abgabe noch vor der Bundestagswahl kommt, ist mehr als fraglich. Für Falko, das ist sicher, kommt sie zu spät.
Winter 2020/2021
Falko ist dick, viel zu dick. Der 162-Kilo-Leib liegt schwer und träge auf dem Boden. Die rosa Haut ist blass und mit Dreck und Kot bedeckt. Kaum noch regen sich die Tiere, wenn einer von Remmerts Mitarbeitern den Stall betritt, erzählt der Landwirt. Zahlreiche Corona-Fälle in dem nahe gelegenen Schlachthof haben den Betrieb im Januar und Februar nahezu lahmgelegt. Und bei Remmert stauen sich die Tiere im Stall. Auch Falko ist seit vier Wochen überfällig. Sonst wiegen die Tiere bei der Schlachtung rund 130 Kilo.
Der Tag, an dem das Leben von Falko und 150 weiteren Schweinen endet, beginnt früh. Um halb fünf Uhr morgens biegt der Transporter in den Kiesweg ein und fährt vor den Stallanlagen den Steg aus. Ein Lastwagen, in dem sich die Tiere auf drei Stockwerken stapeln. Die Arbeiter öffnen die Buchten, es sind kaum mehr als 100 Meter zum Transporter, ein letzter Aufgalopp.
Nach vierzig Minuten Fahrt kommt Falko beim Schlachthof im brandenburgischen Perleberg an. Hier endet die Spur von Falko. Wegen der Corona-Pandemie ist der Zugang für Aussenstehende nicht gestattet. Der Schlachthof gehört zum Vion-Konzern, einem niederländischen Fleischproduzenten mit Standorten auf der ganzen Welt. Vion gehört neben Tönnies und Westfleisch zu den drei grössten Schlachtunternehmen in Deutschland. Manche dieser Betriebe schlachten bis zu 35 000 Schweine pro Tag. In Perleberg sind es immerhin 4000 bis 5000 Tiere täglich; auch Schweine aus dem Öko-Landbau landen hier. Der Ablauf ist in all den Betrieben ähnlich.
Eine letzte Mahlzeit soll die Tiere nach ihrer Ankunft beruhigen. Denn Stress kurz vor der Schlachtung hat Auswirkungen auf die Fleischqualität. Schweine reagieren mit der Ausschüttung von Adrenalin auf Belastungen, die Zellen verlieren Flüssigkeit, das Fleisch wird zäh.
Dann beginnen die letzten Minuten im Leben der Tiere: In kleinen Gruppen laufen sie in die Betäubungsmittelanlage – eine Art Fahrstuhl, der die Schweine in eine drei Meter tiefer liegende Grube fährt. Dort lassen die Mitarbeiter Kohlendioxid ein. Etwa zwanzig Sekunden lang kämpfen die Schweine gegen ihren Erstickungstod an, erst dann setzt die Betäubung ein. Oben angekommen, liegen sie reglos auf dem Boden. Jetzt schlitzen die Mitarbeiter ihnen die Kehlen auf.
Auch beim Schlachten gäbe es die Möglichkeit, den Tieren Leid zu ersparen. Helium ist ein Gas, für das Schweine keine Rezeptoren haben, den Betäubungsprozess würden sie nicht spüren. Doch Helium ist kompliziert zu verabreichen, vor allem aber ist es teuer.
Die Mitarbeiter ziehen die Tiere an den Hinterbeinen hoch und reihen sie an einer Stange auf. An Haken hängend, bluten die aufgeschlitzten Körper aus. Dann trennen Arbeiter die Körper in zwei Hälften und schneiden die Organe heraus. Der Verkauf von Herz, Leber und Nieren ist ein Nebenverdienst für den Schlachter. Das meiste geht in den Export; in Deutschland gibt es dafür kaum einen Markt.
Nach 24 Stunden im Kühlraum sind die Schweinehälften fertig zum Transport. Falko ist nun bloss noch Teil einer Fleischlieferung mit Chargen-Nummer auf dem Weg zum Verarbeiter. Die Schlachtung hat Remmert 25 Euro pro Schwein gekostet. Je nach Gewicht des Schweins bekommt er von dem Fleischverarbeiter etwa 230 bis 250 Euro. Er sagt, er könne davon leben.
Beim Fleisch- und Wurstwarenbetrieb Eberswalder im 200 Kilometer entfernten Britz beginnt die Zerlegung: Schinken, Bauch, Filet, Kotelette. Was sonst noch abfällt, wird zu Wurst verarbeitet. Die einzelnen Fleischstücke landen in roten Plastikkästen für den Handel.
Rewe-Filiale, Berlin-Mitte. Zwischen Wurstwaren und Rinderfilet liegt an der Bedientheke das Fleisch von Remmerts Hof. Schweinegulasch vom Schinken für 9 Euro 99 pro Kilo und Schweinebauch mit Knochen für 7 Euro 90. Über der Auslage steht ein gelbes Schild mit der Aufschrift «100 Prozent regional» und «Hallo Zukunft – für mehr Tierwohl». Darunter zeigt eine Landkarte Brandenburg und den kleinen Ort Neudorf. Ob nun hier oder in einer anderen Berliner Rewe-Filiale ein Teil von Falko liegt, weiss niemand. Man kann ein deutsches Schwein nicht von Geburt bis zur Theke begleiten, dafür sorgt das System.
Wie hoch die Marge von Rewe ist, dazu will sich das Unternehmen nicht äussern. Experten gehen von 20 Prozent aus. Von Rewe heisst es, das Sortiment habe sich mittlerweile etabliert. Den Vertrag mit Remmert und Eberswalder habe man daher um fünf weitere Jahre verlängert. Dergleichen könne man sich auch für Wild, Geflügel oder Fisch vorstellen, jedoch brauche der Aufbau von regionalen Wertschöpfungsketten Zeit.
An der Fleischtheke hat sich mittlerweile eine kleine Schlange gebildet. Nach der Herkunft des Schweinefleischs fragt an diesem Tag keiner. Die meisten haben es eilig. Manch einer will heute zum ersten Mal im Jahr den Grill anwerfen. Es ist ein Samstagmorgen im März, das Land freut sich auf den ersten Frühlingstag.
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Bildunterschriften:
Kampf um Muttermilch: Der Kastenstand soll verhindern, dass die Sau ihre Jungen erdrückt.
Landwirt Ralf Remmert: «Man stumpft ab.»
1300 Sauen, 5000 Ferkel und 3500 Mastschweine leben auf dem Hof in der brandenburgischen Prignitz.
Kein Ferkel mehr: Schwein Falko fünf Monate nach seiner Geburt.
«Mal wieder alles auf Anschlag»: der Landwirt Remmert bei der Arbeit.
DDR-Architektur aus den 1970er Jahren: Ein Korridor führt zu den Ställen.
Einen Quadratmeter Platz haben Tiere in der konventionellen Schweinezucht.