Digital und dezentral
von Christian Wermke, Nicole Bastian, Mathias Brüggmann, Thomas Hanke, Dana Heide, Daniel Imwinkelried, Katharina Kort, Martin Kölling, Kerstin Leitel, Sandra Louven und Axel Postinett
Handelsblatt vom 26.03.2021
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Digital und dezentral
Dank Homeoffice und Breitband-Internet muss künftig kaum noch jemand in der Großstadt leben. Metropolen wollen mit Lebensqualität punkten, um weiterhin Menschen anzuziehen. Eine Suche rund um den Globus nach den Städten der Zukunft - und der Zukunft der Stadt.
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Es war Freitag, der 13. März 2020, als Lauren Starkey-Efron mit ihren drei Töchtern in Brooklyn vor dem verschlossenen Spielplatztor stand und ihr klar wurde, dass sie New York verlassen muss. Die Schulen hatten gerade dichtgemacht. Immer mehr Menschen landeten mit Corona-Infektionen im Krankenhaus. Auch Starkey-Efrons Mann Zach, der für eine New Yorker Großbank arbeitet, wollte raus.
"Wir hatten Angst, dass sie New York komplett abschotten und dass wir mit unseren drei Kindern, zwei Katzen und einem Hund in unserer Wohnung eingeschlossen sind", erinnert sich Lauren. Am nächsten Tag buchte ihr Mann einen U-Haul-Umzugswagen. Am Sonntag machte die Familie eine letzte Fahrradtour durch ihr Wohnviertel Park Slope und den Prospect Park. Dann packten Lauren und Zach Kleider und Spiele für sechs Wochen ein, um vorübergehend bei ihren Eltern auf einer Farm in Pennsylvania unterzukommen.
Aus den sechs Wochen wurden sechs Monate. Heute lebt die Familie in Fairfield im Bundesstaat Connecticut, 80 Kilometer nordöstlich von New York. Dort haben sie im Sommer ein eigenes Haus gekauft. Viermal so groß wie ihre Brooklyner Wohnung und mit fast einem Hektar Land. Viele ihrer Nachbarn sind ehemalige New Yorker. "Wir sind Teil einer großen Welle", beobachtet Starkey-Efron.
400.000 New Yorker oder fünf Prozent der Einwohner haben laut Mobilfunkdaten im Zuge der Pandemie ihre Stadt verlassen. Über 100.000 sind bisher nicht zurückgekehrt. Warum auch? "Zu vermieten"-Schilder hängen vor allem in den Bürovierteln an den Fassaden. Dank einer erfolgreichen Impfkampagne kommt zwar langsam wieder Leben in die Stadt, von der es früher einmal hieß, dass sie niemals schlafe. Aber allen ist klar: Die Acht-Millionen-Metropole muss sich nach der Corona-Pandemie neu erfinden.
Nicht nur New York, sondern jede Metropole auf der Welt steht vor dieser Herausforderung. "Die Coronakrise ist ein Wendepunkt", sagt Star-Architekt Kengo Kuma dem [Medium]. Die Pandemie trieb nicht nur Bewohner in New York, San Francisco, Paris und London aus ihrer Stadt. Sie hat die Gesundheitsrisiken und die Enge in Städten wie selten zuvor ins Bewusstsein gerückt - und durch die erzwungene und technisch nun mögliche Arbeit von zu Hause Alternativen aufgezeigt.
Architekt Kuma sieht die Städte in ihrer jetzigen Form am Ende: "Ich glaube, dass wir von den großen Städten zur Natur zurückkehren, weil uns das Leben in den Metropolen kein Glück verschafft." Die verdichtete Metropole mit immer größeren Gebäuden sei an ihr Ende gelangt. "Die Corona-Pandemie wird nun alles ändern."
Man muss nicht gleich wie Kuma das Ende der Stadt beschwören. Es gibt genug Metropolen, die hart daran arbeiten, in der Post-Corona-Ära menschenfreundlicher und lebenswerter zu werden: In Mailand will der Bürgermeister Schulen, Büros und Geschäfte morgens gestaffelt öffnen, damit es zur Rushhour in Bussen und Bahnen nicht zu voll wird. In Toyotas Modellsiedlung "Woven City" sollen die Folgen aller Veränderungen vorab in einem Digitalmodell der Stadt simuliert werden bis zum Schattenwurf neu gepflanzter Bäume. Paris versucht den Verkehrsinfarkt nicht mehr mit immer neuen Straßen und U-Bahnen zu beheben, sondern indem möglichst viele Wege überflüssig werden. Und ausgerechnet in der Ölmonarchie Saudi-Arabien soll Neom entstehen, die erste Metropole, die ganz ohne fossile Energie auskommt.
Es ist ein Bruch mit der herrschenden Stadtplanungsideologie, der sich bereits vor Corona abzeichnete und durch die Pandemie drastisch beschleunigt. Der Konsens vor Corona lautete lange Zeit: Die Zukunft gehört den Metropolen, speziell den hochverdichteten "Global Cities", ein Begriff, den die Soziologin Saskia Sassen prägte.
Wo Menschen aus allen Kulturkreisen auf engem Raum zusammenkommen, wo wirtschaftliche und politische Entscheidungszentren konzentriert sind, da sollte unter dem Druck der Enge das Neue entstehen: kulturelle Trends, technische Innovationen, gesellschaftliche Ideen. Die ökonomische Logik dahinter: Weil es in Ballungsräumen auch für hochqualifizierte Arbeitskräfte eine Vielzahl potenzieller Arbeitgeber gibt, finden zum Beispiel Informatiker in San Francisco oder Finanzexperten in London immer jene Unternehmen, die ihre Fähigkeiten am effektivsten nutzen. Das befeuert die Produktivität und das Wachstum in Städten. Informelle Netzwerke zwischen den Experten sollen zudem beständig neue Ideen hervorbringen: Der After-Work-Margarita wird zum Fortschrittsmotor.
Einer der radikalsten Verfechter dieser Verdichtungsideologie ist Patrik Schumacher, der Geschäftsführer des Londoner Architekturbüros Zaha Hadid. Vor fünf Jahren plädierte er im Interview mit dem [Medium] für ein weitgehendes Ende von sozialem Wohnungsbau und Bebauungsvorschriften. Er forderte ein "Bekenntnis zur Verdichtung" nach dem Vorbild der asiatischen Metropole Hongkong: "In der Zukunft werden wir viel mehr kleine Single-Studios in der Stadt brauchen. Das wird heute massiv von den Stadtplanern blockiert."
Doch was wird aus den Global Cities, wenn deren Bewohner einmal gelernt haben: Single-Apartments können in der Pandemie zur Einzelzelle werden, die voll besetzte U-Bahn zur lebensgefährlichen Virenschleuder? Was wird aus den hochproduktiven informellen Netzwerken und After-Work-Drinks, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer häufiger im Homeoffice bleiben? Auch die Arbeitsmärkte der Metropolen könnten als Argument für die Verdichtung wegfallen. Wer in Zukunft einen anderen Job sucht, muss dafür nicht mehr zwingend in täglicher Pendeldistanz zum Arbeitgeber wohnen. "Durch Remote Working kann man eben arbeiten, von wo man will - und warum soll man dann nicht irgendwohin gehen, wo es besonders schön ist?", fragt der Chef des internationalen Immobiliendienstleisters JLL, Christian Ulbrich (siehe Interview auf Seite 50). Er prophezeit: "Die Côte d 'Azur wird sehr viel mehr ein Arbeitsort werden, Mallorca auch."
Umgekehrt heißt das: Wenn niemand um seines Berufs willen an die Stadt gebunden ist, dann muss die Stadt so attraktiv sein, dass die Menschen freiwillig bleiben. Doch wie lebenswert sind am Ende Global Cities, die ausschließlich auf die Bedürfnisse von gut verdienenden Wissensarbeitern ohne Kinder kalibriert sind?
Die Ökonomin Francesca Bria, Präsidentin des Italian Innovation Fund und Beraterin der Vereinten Nationen für digitale Städte, ist überzeugt: "Die Zeit der immer weiteren Verdichtung ist vorbei. Die Städte werden sich in eine Netzwerkstruktur verwandeln, indem sie sich mit dem Umland verbinden." Ein Netzwerk aus lebenswerten Stadtvierteln. Der renommierte Stadtentwickler Carlos Moreno drückt dies so aus: "Aus der Abhängigkeit der Peripherie vom Zentrum soll eine polyzentrische Stadtlandschaft werden." Die Zukunft gehört aufgelockerten Metropolen neuen Typs, die Lebensqualität für alle Einkommensschichten bieten, in denen digitale Vernetzung und kurze Wege die öffentlichen Verkehrsmittel entlasten und das eigene Auto ganz überflüssig machen.
Die Metropolen ändern sich, ihre Bedeutung aber bleibt. Schon jetzt lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. 2050, so prognostizieren die Vereinten Nationen, werden fast 70 Prozent der Weltbevölkerung im urbanisierten Lebensraum leben. UN-Beraterin Bria ist überzeugt, dass Städte für unser Leben die entscheidende Lebensform bleiben: "Die ökologische und digitale Transformation wird von den Städten ausgehen."
Auch nach der Pandemie gibt es gute Argumente für die weitere Verstädterung: Städte seien durch die hohe Bevölkerungskonzentration effizienter, argumentiert Smart-City-Experte Dominique Bonte von ABI Research. Infrastruktur wie Straßen und Gebäude, aber auch Autos und andere Güter können in Städten besser geteilt werden. Und weiterhin gilt: Kreativität und Innovation leben von ungeplanten Begegnungen und Impulsen, wie sie in großen Städten häufiger passieren als in der Provinz.
Die Stadt ist nicht tot, aber sie wird sich wandeln. Das [Medium] hat mit Architekten und Städteplanern, Bürgermeistern und Immobilienexperten auf der ganzen Welt gesprochen, hat nach Beispielen für gelungene Stadtentwicklung gesucht, um herauszufinden, was Städte in der Post-Corona-Ära erfolgreich machen wird. Das Ergebnis:
- Die Stadt der Zukunft ist ökologisch nachhaltig, um in allen Stadtvierteln eine hohe Lebensqualität zu bieten.
- Sie ist dezentral aufgebaut, um lange Pendelzeiten zu reduzieren.
- Sie ist effizient organisiert und nutzt dazu die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung.
- Und sie muss stärker als bisher für Menschen aus verschiedenen Einkommensschichten und Altersgruppen lebenswert sein.
Auf der ganzen Welt lassen sich Beispiele für Metropolen finden, die diese Herausforderungen angehen. In Deutschland hingegen, kritisiert Zukunftsforscher und Stadtgeograf Stefan Carsten, fehle das Verständnis für umsetzbare, gelebte Zukunftsvisionen. "Man optimiert häufig zu kurzfristig. Es fehlt an Planungshorizonten, die über das politische Mandat hinausreichen." Umso wichtiger ist es, den Blick zu weiten.
1. Die Stadt der Zukunft ist nachhaltig
Das wohl größte und spannendste städtebauliche Experiment läuft derzeit in einem Land, das man gemeinhin gar nicht mit Lebensqualität und Urbanität in Verbindung bringt und erst recht nicht mit Ökologie: in Saudi-Arabien. Keine Emissionen, kein Verbrauch von Grundwasser - und das bei einer Stadt, die mit 26.000 Quadratkilometern größer ist als Mecklenburg-Vorpommern, in der Hightech-Fabriken aus den Bereichen Biotechnologie oder Künstliche Intelligenz stehen. "Nachhaltigkeit ist kein Ziel, sondern hier einfach gegeben", lautet ein Motto von Neom, der 500 Milliarden Dollar teuren Reißbrett-Metropole, die derzeit am Roten Meer entsteht.
Von 2030 an sollen zunächst mehr als eine Million Menschen in Neom leben - und noch mehr Roboter dort arbeiten. Zu Fuß oder mit dem Fahrrad sollen die Menschen alle wichtigen Einrichtungen innerhalb von fünf Minuten erreichen können: Schulen, Läden und Apotheken, Ärzte, Universitäten und Büros. "Straßen und Autos wird es keine geben und keine Kohlenstoff-Emissionen", verspricht der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, der auch Chairman des Erbauers Neom Company ist. Die Nähe bringe den dort lebenden Menschen viel Zeit für Freizeit statt für Transport.
Das erste Stadtviertel entsteht entlang einer unterirdischen Hochgeschwindigkeitsbahnlinie namens "The Line", die die 170 Kilometer lange Stadt von der Küste bis hinter die Berge innerhalb von 20 Minuten durchquert. Hinzu kommen autonom fahrende Kleinbusse für Teilstrecken und wasserstoffgetriebene Lkw sowie von Künstlicher Intelligenz gesteuerte neue Transportsysteme für den Warenverkehr. Alle Versorgungslinien verlaufen unterirdisch. Überirdisch bleibt es zwischen den Gebäuden grün. Mit dem Bau soll Ende März gestartet werden.
Ziel für Saudi-Arabien sei, so der Kronprinz, dass "Hunderttausende Jobs entstehen und Dutzende Milliarden Dollar zu unserem Bruttoinlandsprodukt hinzukommen aus Neom". Neom steht für Neo (neu) und M wie arabisch Zukunft (mustaqbal). Kein Grundwasser soll verbraucht werden, sondern alles benötigte Wasser mit Entsalzungsanlagen aus dem Meer gewonnen werden. Damit diese keine fossilen Brennstoffe verbrauchen, werden gigantische Anlagen für Solarkraftwerke und Windparks aufgebaut. "In solch einem Ausmaß habe ich das noch nie gesehen", sagt der frühere RWE-Chef Peter Terium, der das Energieprogramm von Neom leitet - inklusive der gerade entstehenden weltgrößten Wasserstoffanlage der Welt.
Shailendra Kaushik, Mitgründer des Cities Forum for Urban Development in Dubai ist überzeugt: "Wenn Saudi-Arabien es schafft, wirklich modernsten, emissionsfreien, autonomen Transport aus dem Testlabor in eine richtig große Realität zu bringen, wäre das ein gewaltiges Vorbild." Wenn dann noch Zehntausende hoch bezahlte Jobs geschaffen und die globalisierte Wirtschaftselite angelockt würde, wäre Neom ein nachhaltiges Modell, dem andere Länder folgen könnten.
Das vielleicht größte Fragezeichen über dem Projekt: Kann eine lebenswerte Metropole in einer absolutistischen Monarchie entstehen, in der Menschenrechte ebenso wie ökonomische Freiheiten vom Herrscher allenfalls huldvoll gewährt und jederzeit wieder entzogen werden können?
Abgesehen von solchen Bedenken ähneln die Nachhaltigkeitswerte, denen Kronprinz Mohammed bin Salman in Neom nachstrebt, auf verblüffende Weise jenen Öko-Zielen, denen sich auch die meist links regierten europäischen Metropolen verschrieben haben - wenn auch in kleinerem Maßstab: Amsterdam will mit einem Projekt namens "City Doughnut" den Rohstoffverbrauch bis 2030 halbieren. In Stockholm ist der neue Öko-Stadtteil Hammarby Sjöstad fast fertig, mit rund 9000 Wohnungen, eigener Energieversorgung und eigenem Abfallrecycling. In Heidelberg entstand in den vergangenen Jahren die mit 116 Hektar größte Passivhaussiedlung der Welt. Ein klimaneutrales Viertel, das als so wegweisend gilt, dass in China derzeit eine exakte Kopie davon gebaut wird.
Nächstes Projekt in Heidelberg: "die Wissensstadt von morgen". Wo früher bis zu 8000 US-Soldaten stationiert waren, werden laut Plan einmal bis zu 10.000 Menschen leben und weitere 5000 arbeiten. Ein See im Zentrum dient dem Wassermanagement. Rund um das Gelände sind "Klimawäldchen" geplant, Nahrungsmittel sollen direkt vor Ort hergestellt werden. Und um Ökostrom zu erzeugen, sind auf anliegenden Ackerflächen Photovoltaik-Anlagen geplant. Quartiersgaragen am Rande des Gebiets sollen dafür sorgen, dass die Straßen ruhig sind und keine Autos öffentliche Flächen versperren.
Ob in Neom, in Heidelberg oder in zahlreichen europäischen Metropolen - überall wird die Zukunft ohne Autos gedacht, zumindest ohne solche mit Verbrennungsmotor. Jahrzehntelang gehörten Abgase und Verkehrslärm so selbstverständlich zur Großstadt wie elektrische Straßenbeleuchtung. Nun begreifen immer mehr Stadtregierungen: Öffentlicher Raum in Metropolen ist viel zu knapp und damit wertvoll, um ihn für Autos zu reservieren. Die Autos sollen nicht einfach nur aus der Stadt verbannt werden. All die alltäglichen Wege, die bislang mit dem Auto zurückgelegt wurden, sollen dabei in Zukunft am besten gar nicht mehr nötig sein.
2. Die Stadt der Zukunft ist dezentral
Im Norden Mailands radelt Paolo Pinzuti über eine Brücke, die für ihn zum Symbol geworden ist: Hier, am Bahnhof Garibaldi, haben Aktivisten mehrmals über Nacht die Fahrbahn mit illegalen Radspuren bemalt. Die Stadt ließ sie immer wieder entfernen. "Mittlerweile ist das eine der wenigen Straßen, auf der es mehr Platz für Radfahrer gibt als für Autos", ruft Pinzuti von seinem Faltrad - und zeigt auf die Markierungen am Boden: Für Fahrzeuge ist die Brücke nur noch Einbahnstraße, es gilt Tempo 30. Radfahrer haben separate Spuren in beide Richtungen.
Pinzuti, der mit seiner Firma Bikenomist Unternehmen und Gemeinden beim Umstieg aufs Rad berät, ist selbst überrascht vom radikalen Wandel. "Der Radweg hier muss ganz neu sein", sagt der 42-Jährige, als er weiter Richtung Norden radelt. Das passiere ihm jetzt immer öfter: Die Stadt baue das Netz so schnell aus, dass sie gar nicht mehr mit dem Kommunizieren hinterherkomme. Vom Pandemiebeginn bis Ende dieses Jahres sollen insgesamt 100 neue Kilometer Fahrradweg entstehen. Jeder fünfte Verkehrsteilnehmer ist mittlerweile ein Radfahrer. Selbst auf dem Corso Buenos Aires, der längsten Shoppingstraße Mailands, hat die Stadt den Autofahrern zwei Spuren genommen - und über mehrere Kilometer beidseitig Radstreifen markiert.
Die Vision von Mailands Bürgermeister Giuseppe Sala: In zehn Jahren sollen nur noch 40 statt bisher 50 Prozent der Mailänder ein Auto besitzen, und zwar ohne Verbrennungsmotor.
Wie aber kann eine Stadt, die sich - und davon gehen viele Experten aus - in Zukunft immer mehr wie ein Netzwerk in die Breite zieht, zugleich leiser, lebenswerter und autoärmer werden? Schließlich galt bislang: Je größer eine Fläche, die die Stadt belegt, desto größer unweigerlich auch die Automassen, die sich zwischen den zerstreut liegenden Vierteln und dem Zentrum hin- und herwälzen. Abschreckendes Beispiel: Los Angeles. Kaum jemand kommt dort auf die Idee, mit dem Fahrrad ins Zentrum zu pendeln.
Der Franko-Kolumbianer Carlos Moreno hat als Antwort auf dieses Dilemma das Konzept der "Stadt der Viertelstunde" entworfen: In jedem Stadtviertel soll man in 15 Minuten zu Fuß alle wichtigen Funktionen erreichen können: Wohnen, Schule, Arbeit, Einkaufen, Krankenversorgung, Sport und Kultur. "Von Durchgangszonen für den Verkehr sollen die dicht besiedelten Gebiete wieder zu menschenwürdigen Wohnquartieren werden", sagt Moreno, der unter anderem die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo berät.
Paris hat sich dieses Modell zum Ziel gesetzt und eine stellvertretende Bürgermeisterin für die "ville de quart-d'heure" zuständig gemacht, die Viertelstundenstadt. Die Stadt hat die Gesellschaft Semaest geschaffen, die Flächen und Gebäude ankauft und diese günstig an kleine Geschäfte oder Handwerker vermietet. Zwölf Schulen öffnen am Wochenende, um die sonst ungenutzten Räume Künstlern und Bürgerinitiativen zur Verfügung zu stellen. Straßen wurden begrünt, verkehrsberuhigt oder zu Fußgängerzonen gemacht.
Das ehrgeizigste Vorhaben ist die Verkleinerung der Fahrbahnen auf der Prachtstraße Champs Elysées, verbunden mit deren Begrünung. "Allen ist bewusst, dass wir mit der Pandemie eine Schwelle überschritten haben, es gibt kein Zurück mehr: Die Tendenz zur Nähe, zum Lokalen hat sich infolge der Lockdowns fest etabliert", sagt Moreno. Die Struktur von Paris als Ballungsraum werde nicht mehr wie eine Nabe mit Speichen organisiert sein. Der Weg ins alte Zentrum soll so oft wie möglich überflüssig werden. Das muss der öffentliche Nahverkehr widerspiegeln: In Paris wird am Grand Paris Express mit 65 neuen Bahnhöfen gearbeitet.
Auch Mailands Bürgermeister Sala plant, das Netz von U-Bahnen und Straßenbahnen um die Hälfte zu vergrößern. Das Gedränge in Bussen und Bahnen will er mit gestaffelten Öffnungszeiten reduzieren. Schulen, Geschäfte und Büros hätten immer alle zur gleichen Zeit geöffnet, "wir wollen die Zeiten ausdehnen, um den öffentlichen Nahverkehr zu entlasten."
Zum selben Ziel kann es auch beitragen, wenn nicht mehr jeder Arbeitnehmer jeden Tag ins Innenstadtbüro fährt. "Wir setzen darauf, dass immer mehr Unternehmen zu dezentralisierten Arbeitsstätten übergehen", erklärt Moreno. Das heißt nicht immer Homeoffice, weil nicht alle Platz dafür in ihrer Wohnung hätten. "Die großen Bürotürme aber, die gehören der Vergangenheit an."
Was Moreno da vollzieht, ist der endgültige Abschied der Stadtplaner von der "Charta von Athen", einem 1933 unter der Federführung des Architekten Le Corbusier verfassten Manifest, das über Jahrzehnte das Bild von der idealen Stadt geprägt hat: In der Mitte Büro- und Geschäftsviertel, drumherum Wohngebiete. Am Stadtrand die Industrie. Alles hübsch getrennt und zugleich durch breite Straßen miteinander verknüpft.
Wie sehr sich dieses Konzept überlebt hat, zeigt sich derzeit an den leer stehenden Ladenlokalen in vielen Innenstädten, während gleichzeitig Wohnraum knapp ist. Ein Trend, ausgelöst durch E-Commerce, beschleunigt durch den Corona-Lockdown. Allein in Deutschland, schätzt das Handelsforschungsinstitut IFH, werden bis 2023 bis zu 80.000 Geschäfte schließen müssen. Selbst in der Hamburger Mönckebergstraße, einer der teuersten Geschäftslagen der Republik, stehen derzeit direkt gegenüber vom Hauptbahnhof zwei ehemalige Warenhäuser leer. Eine Bürgerinitiative fordert, die Gebäude in Wohn- oder Veranstaltungsräume umzuwandeln. Die Zukunft gehört nicht mehr den Innenstädten, in denen niemand mehr wohnt und sich um 18 Uhr die Bürgersteige leeren. Sondern den vielen kleinen Mikrostädten, die zusammen eine Metropole ergeben.
3. Die Stadt der Zukunft ist digital
Autos raus, Fahrräder rein, Bäume pflanzen und immer schön den Müll trennen: Was europäische Metropolen unter Zukunftsfähigkeit verstehen, ist oft nah dran am grün-alternativen Okö-Idyll. In den Kategorien High-tech oder gar Science-Fiction denken europäische Stadtplaner und Bürgermeister selten. Da muss schon einer wie James Kuffner kommen. Kuffner ist Robotikexperte und Digitalvorstand von Toyota. Jetzt ist Kuffner für das größte digitale Stadtexperiment der Welt verantwortlich: die Woven City des Autobauers im japanischen Susono.
Hier sollen 2000 Bewohner und Wissenschaftler aus aller Welt in einer kleinen Stadt der Zukunft schon bald Produkte und Dienste ausprobieren, die übermorgen die Welt erobern könnten. "Eine autonome Stadt auf privatem Land zu bauen hat den Vorteil, dass wir neue Technologien schnell und in größerem Maßstab testen können", sagt Kuffner. Der japanische Telekomkonzern NTT ist Partner des Projekts. Denn zeitgemäße Städteplanung bedeutet heute Digitalplanung.
Toyotas Traum der künftigen Stadt sieht so aus: Zwei große Plätze auf beiden Seiten einer Autobahn, umgeben von Nutz- und Wohnanlagen. Solar- und Brennstoffzellen liefern kohlendioxidfrei Strom. Auf den Straßen fahren autonome, kastenförmige Fahrzeuge, die je nach Bedarf Busse, rollende Kioske oder Büros sein können. Am Himmel liefern Drohnen Pakete aus, Roboter helfen bei der Arbeit oder daheim.
"Das Konzept, das mich am meisten reizt, ist das des digitalen Zwillings", sagt Kuffner. Der digitale Stadtzwilling ist eine Softwareplattform, die alle Daten einer Stadt aggregiert. Das hilft nicht nur dabei, die Stadt mit diesen Daten effizienter zu steuern. Auch die Stadtplanung kann davon profitieren: So lassen sich bauliche Veränderungen virtuell ausprobieren, der Verkehrsfluss verbessern. Sogar der Schattenwurf von Bäumen und der Einfluss von Gebäuden auf die Windströme in den Häuserschluchten lassen sich im digitalen Zwilling der Stadt studieren, bevor in der Realität Fehler gemacht werden.
Die Woven City wird die digitale Stadt in Reinkultur zeigen, bestehende Städte müssen sich Stück für Stück wandeln. Ein Blick ins chinesische Shenzhen zeigt, was bei einer Stadt mit mehr als zwölf Millionen Einwohnern in Sachen Digitalisierung heute möglich ist - im Guten wie im Bedrohlichen.
"Außer Betrieb" steht in großen Schriftzeichen auf einem Schild vor dem Fahrkartenautomaten der U-Bahn-Station Futiankou'an in der Innenstadt. Wegen der Corona-Epidemie, so heißt es, kann man Fahrkarten nur noch per Smartphone kaufen. QR-Code scannen, App herunterladen und registrieren. Das Handy wird beim Reingehen in die U-Bahn und beim Rausgehen gescannt, das Geld vom WeChat-Konto, einer in China sehr verbreiteten Zahlungs-App, abgebucht. Kein Fahrgast muss sich mehr Gedanken machen, ob er das richtige Ticket hat. Die Stadt wiederum sieht genau, zwischen welchen Stationen sich die Passagiere bewegen, und kann so Busse und Bahnen bedarfsgerechter einsetzen.
Auch die Taxis in Shenzhen - fast alle sind inzwischen Elektroautos des chinesischen Herstellers BYD - werden mit Millionen von Kameras zentral kontrolliert. Die Stadt nutzt bereits jetzt im großen Stil Daten, um etwa Ampelphasen optimal zu steuern und Unfälle schnell zu entdecken. Shenzhen ist eine der sogenannten "Smart Cities", die vielerorts in China aufgebaut werden und die als Erprobungsplattformen für digitale Vernetzung dienen sollen.
Die Kommunistische Partei stellt den rasanten Aufstieg der Stadt als ihr Verdienst dar. Der Legende nach soll Chinas Reformer Deng Xiaoping aus dem kleinen verschlafenen Fischerdorf Shenzhen innerhalb von wenigen Jahrzehnten eine florierende Megastadt gemacht haben.
Doch als Deng den Ort, gelegen an der Grenze zum damals noch britischen Honkong, zu einer Sonderwirtschaftszone machte, war Shenzhen schon längst kein kleines Dorf mehr, sondern eine Stadt mit 300.000 Einwohnern. Und es waren auch nicht am Schreibtisch der KP-Kader ausgeklügelte Pläne, die Shenzhen zu dem machten, was es heute ist.
Architektur-Professorin und Stadtplanerin Juan Du von der Hong Kong University sagt über Shenzen: "Die Stadt ist nicht modern, weil sie Hochhäuser, Hightech-Parks und Finanzcluster hat, sie ist modern wegen der Menschen hier und ihrer Mentalität." Dass in Shenzhen so viele erfolgreiche Start-ups gegründet wurden, hat auch etwas damit zu tun, dass in der Region lange Zeit große westliche Techkonzerne produzieren ließen. Das technische Know-how bei den Einwohnern Shenzhens konnte sich so allmählich entwickeln.
In Shenzhen zeigen sich aber auch die dunklen Seiten der Digitalisierung. Tausende Überwachungskameras filmen nahezu jeden Schritt der Bürger und Besucher. Am Flughafen wird beim Einchecken Gesichtserkennungssoftware eingesetzt. Vieles von dem, was hier mit Daten gemacht wird, wäre in europäischen Metropolen unter den dort herrschenden Datenschutzbestimmungen unmöglich.
Doch auch in Europa gilt: Wie lebenswert und zukunftsfähig eine Metropole ist, hat mindestens ebenso viel mit erfolgreicher Digitalisierung und Datennutzung zu tun wie mit neu eröffneten Radwegen. Digitale Werkzeuge sind zentral, um Verkehrsnutzung, Gas-, Strom- und Wasserverbrauch effizient zu steuern, um öffentliche Verkehrsmittel optimal auszulasten und die Folgen von Stadtplanungsprojekten digital zu simulieren.
Barcelona etwa wertet Kreditkartendaten von zwei verschiedenen Betreibern aus, um zu sehen, wie sich Veränderungen in der Stadtplanung auf das Einkaufsverhalten auswirken. "Dabei zeigt sich nicht nur in Barcelona, sondern auch international: Wenn eine Geschäftsstraße für Autos gesperrt wurde, stieg der Umsatz dort", sagt Barcelonas Chefarchitekt Xavier Matilla.
Stadtgeograf Carsten kritisiert, dass es in Deutschland wenig Verständnis dafür gebe, wie eine digitale Vernetzung umgesetzt und genutzt werden könne. Es sei entscheidend, zunächst die Fragen zu stellen: "Was brauchen wir, um eine Stadt in die Zukunft zu führen, wie will ich leben, in welcher Stadt wollen wir leben?" - um dann die technologischen Werkzeuge dafür zu schaffen.
"Hier in Deutschland passiert das Gegenteil: Wir haben vielleicht die technologischen Möglichkeiten, aber kümmern uns nicht darum, wie und warum wir sie nutzen", sagt Carsten. In internationalen Smart-City-Rankings schaffen es deutsche Städte in der Regel nicht unter die Top Ten. Entscheidend bei der Digitalisierung der Städte wird die Hoheit über und die Nutzung der Daten sein. "Wir brauchen den richtigen Ansatz, wie wir die Infrastruktur der Städte modernisieren, aber zugleich demokratisch nutzen", mahnt Bria, die zuvor als Chief Technological Officer die Digitalisierung Barcelonas verantwortet hat. In Toronto etwa scheitere ein Smart-City-Projekt, das Google-Mutter Alphabet mit den kanadischen Sidewalk Labs auf zwölf Hektar Stadtfläche geplant hatte. Die Bewohner wehrten sich, dem Internetriesen auf Schritt und Tritt Daten zu liefern. Alphabet zog sich aus dem Projekt zurück.
4. Die Stadt der Zukunft ist durchmischt
Vieles in Metropolen lässt sich mit digitalen Werkzeugen vermessen. Doch der für die Zukunft der Städte so zentrale Begriff der Lebensqualität sträubt sich gegen die Operationalisierung: Welche Variablen entscheiden darüber, ob eine Stadt als lebenswert wahrgenommen wird? An Kreditkarten- und Handydaten lässt sich das nicht eindeutig ablesen.
Fest steht: Keine Stadt ist so lebenswert wie Wien. Seit Jahren verteidigt Österreichs Hauptstadt ihren Spitzenplatz in den Rankings. Ein wichtiger Grund hierfür in den Augen der Wiener: die bezahlbaren Mieten dank des massiven öffentlichen Wohnungsbaus. "Problemquartiere" gibt es in Wien nicht - gut situierte und ärmere Menschen wohnen in weiten Teilen Wiens in denselben Straßen.
Die sogenannten Gemeindebauten sind der große Stolz von Wiens Stadtregierung. Rund ein Viertel der 1,9 Millionen Einwohner leben in einer Wohnung, die der Stadt gehört. Die Dienststelle "Wiener Wohnen" sagt von sich, sie sei mit einem Immobilienbestand von über 220.000 Wohnungen Europas größte kommunale Hausverwaltung.
Die Vergabekriterien der seit Jahrzehnten sozialdemokratisch regierten Stadt sind dabei ziemlich großzügig gestaltet. So kann sich um eine städtische Wohnung bewerben, wer als Einzelperson im Jahr weniger als 47.740 Euro netto verdient. Zwei Jahre muss man zuvor bereits in Wien gewohnt haben. Zudem fördert die Stadt auch Wohnungsgenossenschaften, und private Altbauten unterliegen teilweise strikten Mietpreisbegrenzungen.
Gerade liberale Ökonomen sähen es lieber, wenn Wien bedürftige Einwohner direkt mit Wohngeld unterstützte, statt in großem Stil als Liegenschaftseigentümer aufzutreten. Denn die großzügige Wohnungspolitik ist teuer. In Österreich werden den Angestellten ein Prozent des Bruttolohns für die Wohnbauförderung abgezogen, und es profitieren bei Weitem nicht nur die Armen, sondern auch die Mittelschicht. "Die soziale Treffsicherheit der Wiener Wohnbaupolitik ist recht bescheiden", kritisiert Franz Schellhorn vom Thinktank Agenda Austria.
Doch die Zustimmung in der Bevölkerung ist hoch - und Wiens Stadtregierung will deshalb unter keinen Umständen von ihrer Wohnbaupolitik abrücken. Derzeit sind 5500 städtische Wohnungen im Bau oder befinden sich in der Planungsphase. Im neuesten Wohnbauprogramm ist die Miete pro Quadratmeter mit 7,50 Euro brutto veranschlagt.
Früher bekämpfte die Stadtregierung mit dieser Politik die Wohnraumknappheit. Heute ist die soziale Durchmischung in den Quartieren ein mindestens ebenso wichtiges Ziel. Denn die bedeutet Lebensqualität in vieler Hinsicht: Es ist das Miteinander von Menschen aus verschiedenen Altersgruppen, Einkommensstufen und Kulturkreisen, das eine Metropole interessant macht. Reibungsfrei verläuft dieses Miteinader nicht immer - doch gerade aus dieser Reibung entsteht jener kreative Wärmestrom, der einem durchgentrifizierten Yuppie-Viertel meist abgeht.
Kaum eine Metropole erlebt das derzeit so drastisch wie San Francisco. Schon vor der Pandemie trieben die hohen Wohnkosten die ersten Bewohner und Firmen weg, Covid hat diesen Trend beschleunigt: Knapp 90.000 Haushalte haben die Stadt im vergangenen Jahr verlassen, Ziel Nummer eins: das preisgünstige Las Vegas. Lange hieß es, das Phänomen sei vorübergehend. Doch Jim Wunderman, Chef des Branchenverbands "Bay Area Council", glaubt mittlerweile, dass der Exodus erst am Anfang stehe.
San Francisco gleicht derzeit in vielen Straßenzügen einer Geisterstadt: Restaurants und Bars vernagelt, Tausende Quadratmeter Bürofläche frei, da Unternehmen wie der Broker Charles Schwab oder die Datenbankfirma Oracle nach Texas umziehen. Im vergangenen Jahr sind die Mieten in San Francisco um 30 Prozent abgestürzt, ein 50-Quadratmeter-Apartment kostet aber immer noch im Schnitt 2700 Dollar Miete.
San Francisco müsse dringend in Lebensqualität investieren und die hohen Lebenshaltungskosten senken, meint Tilman Bender vom Deutsch-Amerikanischen Business Roundtable. In der Post-Covid-Zeit würde die Lebensqualität in Städten für die Arbeitnehmer zum entscheidenden Punkt.
In New York, das mit ähnlichen Problemen kämpft wie San Francisco, ist finanzierbarer Wohnraum eines der wichtigsten Themen. Da viele Unternehmen nach dem Ende des Lockdowns nicht mit voller Mannschaftsstärke in die Innenstadt zurückkommen dürften, will der Gouverneur des Bundesstaats New York, Andrew Cuomo, ungenutzte Büroflächen in Midtown Manhattans in Wohnimmobilien umwandeln.
Patrice Derrington begrüßt den Vorstoß. "Das ist gut für die Besitzer der Gebäude, deren Büros nicht mehr gebraucht werden", sagt die auf den Immobilienmarkt spezialisierte Professorin von der Columbia University. "Und es könnte helfen, mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen." Schließlich gelte die alte Marktregel: Wenn mehr Angebot da ist, gehen auch die Preise runter.
Eine ähnliche Umwandlung gab es schon einmal in den 90er-Jahren für den südlichen Teil Manhattans rund um die Wall Street, aus dem immer mehr Banken und andere Unternehmen weggezogen waren. Damit gewann ein Stadtteil an Leben zurück. Schon jetzt berichten Immobilienmakler, dass vor allem junge Menschen Wohnungen in Manhattan mieten, die heute viel günstiger zu haben sind als noch vor der Pandemie. Diese Mieter waren lange auf andere Stadtteile wie Brooklyn und Queens ausgewichen. Columbia-Professorin Derringer glaubt, dass eine Rückkehr der jungen Menschen Manhattan guttun wird: "Mit ihnen kommt Kreativität, aber auch ein neuer Lebensstil, einer, bei dem Leben und Arbeiten mehr ineinander übergeht."
Und was ist mit den eingangs erwähnten New-York-Flüchtlingen, die Brooklyn in der Corona-Krise gen Connecticut verlassen haben? Lauren Starkey-Efron und ihr Mann haben nicht die Absicht zurückzukommen. "Ich vermisse New York und die Gemeinschaft dort jeden Tag. Ich vermisse es, aus der Tür zu treten und mit den Nachbarn auf den Treppen vor dem Haus zu plaudern", sagt die Mutter von drei Mädchen. "Aber wir lieben die Natur und den vielen Platz, den wir hier haben."
Ihr Mann wird demnächst wieder häufiger nach New York fahren. Die Großbanken wollen ihre Mitarbeiter, soweit es geht, in die Büros zurückholen. Mit dem Zug sind es 90 Minuten pro Strecke. Eigentlich zu weit, um täglich zu pendeln, aber erträglich für zwei oder drei Tage pro Woche mit jeweils einem Tag Homeoffice dazwischen. Auch für die zehnjährige Tochter Adele ist das Thema New York noch nicht abgeschlossen. "Sie hat uns gesagt, dass sie mit 18 wieder nach New York zieht und an der New York University studieren wird", erzählt Lauren Starkey-Efron. "Außerdem trägt sie nur Schwarz und beschwert sich, dass die Leute in Connecticut keinen Sinn für Mode haben."
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Einschübe:
"Die Zeit der immer weiteren Verdichtung ist vorbei."
Francesca Bria, Präsidentin, Italian Innovation Fund
"Das Konzept, das mich am meisten reizt, ist
das des digitalen Zwillings."
James Kuffner, Digitalvorstand Toyota
"Die großen Bürotürme gehören der
Vergangenheit an."
Carlos Moreno, Architekt
70 Prozent der Weltbevölkerung
werden im Jahr 2050 laut einer
Prognose in einem urbanisierten
Lebensraum leben.
Quelle: Vereinte Nationen
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Bildunterschriften:
„Woven City“: Toyotas Modellsiedlung
Die Oper im Stadtzentrum
von Wien: Keine Stadt gilt
als so lebenswert.
Verkehrsberuhigte Straße in Barcelona:
Wo Geschäftsstraßen für Autos gesperrt
werden, steigt der Umsatz.
Passivhaussiedlung in Heidelberg:
So wegweisend, dass in China eine
Kopie gebaut wird.
Straßenarbeiter in Paris:
Straßen werden begrünt,
verkehrsberuhigt oder zu
Fußgängerzonen gemacht.
U-Bahn-Nutzer im chinesischen
Shenzhen: In der Zwölf-Millionen-
Einwohner-Stadt zeigt sich,
was in Sachen Digitalisierung heute
möglich ist.
Neom-Projekt in Saudi-Arabien:
Ausgerechnet in der Ölmonarchie
soll mitten in der Wüste die erste
Metropole entstehen, die ganz
ohne fossile Energie auskommt.
Blick auf die Skyline von Lower Manhattan:
Bezahlbarer Wohnraum ist eines der wichtigsten Themen.
Blick vom Stephansdom über Wien:
„Problemquartiere“ gibt es hier nicht.
Stille in New York: Corona brachte auch
das Leben in der US-Metropole zum
Stillstand – und bewirkte bei vielen
ein Umdenken.