Die San Padre Pio war ihr Schicksal
von Reto U. Schneider und Aline Wanner
NZZ Folio vom 04.01.2021
Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.
Die San Padre Pio war ihr Schicksal
Die Crew eines Schweizer Tankers wird in Nigeria festgenommen. Damit beginnt eine lange Leidensgeschichte. Werden die Seeleute gerettet?
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Prolog
Von: Kapitän San Padre Pio
Gesendet: Montag, 25. November 2019, 18:39
Betreff: RE: Medienanfrage
«Guten Abend. Ja, wir werden als Geiseln festgehalten. Über die Situation und die Umstände äussere ich mich besser nicht schriftlich. Ich würde gerne mit Ihnen sprechen, aber Nigeria ist nicht der beste Ort, um sich zu treffen. Danke und beste Grüsse. Kapitän Andriy Vaskov »
Eine ganz normale Lieferung
Der 23. Januar 2018 ist ein friedlicher Tag im Golf von Guinea. Eine schwache Brise weht aus Südwest, es ist 26 Grad warm, die See ist ruhig. Die San Padre Pio liegt seit drei Tagen weit vor der Küste Nigerias vor Anker. Das Schiff ist eine Art schwimmende Tankstelle, die Treibstoff zu den Ölförderanlagen in der Region bringt.
Auf dieser Fahrt hat sie Diesel für das Odudu-Tanklager dabei, das die Seeleute in drei Seemeilen Entfernung ausmachen können. Das Tanklager des französischen Mineralölkonzerns Total ist ein Koloss: eine driftende Festung, so gross wie drei Fussballfelder, zu der das Öl über kilometerlange Pipelines von den Förderstellen am Meeresboden gelangt.
Kapitän Andriy Vaskov hat schon mehr als die Hälfte seines Einsatzes hinter sich. Er hat die San Padre Pio am 11. November 2017 in Lomé, der Hauptstadt Togos, übernommen. Wie üblich ist sein Vertrag auf vier Monate befristet – doch es wird viel länger dauern, bis er sein geliebtes Sewastopol auf der Krim wiedersehen wird. Vaskov ist ein bulliger Mann mit Glatze und Bart. Mit 52 Jahren hat er den Höhepunkt seiner Karriere erreicht. Wenn ein Schiff eine Insel ist, dann ist der Kapitän ihr König, heisst es unter Seefahrern. Aber das stimmt nicht ganz. Auf hoher See macht Vaskov nicht seine eigenen Gesetze, er muss Schweizer Recht durchsetzen.
Was die San Padre Pio zu etwas Besonderem macht, ist das Stück Stoff am Heck: Hier, sechzig Kilometer vor der Küste Westafrikas, flattert auf einem in China gebauten Schiff mit einem italienischen Namen und einer Mannschaft aus der Ukraine die Schweizer Flagge. Wie üblich ist unter dem Namen am Heck in Grossbuchstaben der Heimathafen angegeben: Basel. Eine Stadt, die das 2012 gebaute Schiff nie angefahren hat und nie anfahren wird. Dafür ist es mit 113 Metern Länge viel zu gross. Basel ist Sitz des Schweizer Seeschifffahrtsamts, wo die San Padre Pio registriert ist. Genauso wie die anderen 35 Schiffe, die noch zur Schweizer Handelsflotte gehören. Früher arbeiteten auf diesen Schiffen auch Schweizer Seefahrer. Doch dann verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen, und die Löhne sanken. Zudem gab es bald andere Möglichkeiten, die Welt zu entdecken, als auf einem Frachter anzuheuern. Das Leben als Seemann hat seine Romantik verloren.
Die Aufgaben an Bord der San Padre Pio sind klar verteilt: Erster, zweiter und dritter Offizier sind für alles zuständig, was sich auf Deck abspielt: Aufnehmen und Löschen der Ladung, Anlegen und Ankern, Navigieren und Steuern. Auf See arbeiten sie in Vierstundenschichten auf der Brücke. Ebenfalls an Deck arbeiten einige Matrosen und der Pumpenmann, der Ventile öffnet und Pumpen bedient. Der Arbeitsort der Ingenieure ist im Bauch des Schiffs, im Maschinenraum. Dort halten sie den Schiffsmotor und die Generatoren in Gang. Dann gibt es noch den Koch und ein paar Hilfskräfte. Über allem wacht Kapitän Vaskov, der Kontakt zu Reederei und Auftraggeber hält, mit Behörden verhandelt und für Ordnung sorgt. Sechzehn Männer sind an Bord, als die San Padre Pio am 18. Januar 2018 – fünf Tage vor den verhängnisvollen Ereignissen bei Odudu – mit 6267 Kubikmetern Diesel in den Tanks in Togos Hauptstadt Lomé ablegt und Kurs Südost aufs offene Meer nimmt. Die Ladung ist fast vier Millionen Dollar wert.
Die Rohstoffhandelsfirma Augusta Energy aus Genf hat die San Padre Pio für den Dieseltransport gechartert. Das Schiff gehört der Reederei ABC Maritime mit Sitz in Nyon. Die Mitarbeiter an Bord des Tankers haben ihre Verträge mit ABC Maritime abgeschlossen. Viele von ihnen arbeiten regelmässig für die Schweizer, sie haben in der Branche einen guten Ruf.
Die unerwartete Festnahme
Die Arbeit an Deck ist wie gewohnt anstrengend, die Pausen sind kurz, und doch gibt es manchmal diese Momente, die nur jenen gehören, die sich für Monate auf hohe See begeben. Andri Skoropupov, der dritte Offizier, postet auf Instagram Bilder von der Reise. Rot spiegeln sich die Wolken im Meer, in der Ferne verschwindet ein Schiff in den Wellen. #ocean #africa #gulfofguinea #sunset, schreibt er darunter.
Die San Padre Pio fährt in einem Bogen zum Odudu-Tanklager, denn wer im Golf von Guinea unterwegs ist, fürchtet vor allem Piraten in Küstennähe. Seit die Piraterie auf der anderen Seite Afrikas vor Somalia gezielt bekämpft wird, blüht sie in den Gewässern vor Nigeria und Benin. Die Küstenzone der beiden Länder gilt als Hochrisikogebiet. Für jeden Tag, den die San Padre Pio näher als zwölf Seemeilen von der Küste verbringt, erhält die Besatzung den doppelten Grundlohn – und die Hinterbliebenen im Todesfall die doppelte Entschädigung.
Von der Ankerstelle beim Odudu-Terminal bringen an diesem Dienstag kleinere Versorgungsschiffe das Dieselöl zum Tanklager. Für das Entladen sind mehrere Tage vorgesehen. Von der Brücke der San Padre Pio aus blickt der erste Offizier auf das Deck, wo der Kran den Dieselfähren die schweren Schläuche reicht, durch die dann stundenlang Treibstoff fliesst.
Den Brückenaufbau am Heck des Schweizer Tankers, wo die Crew ihr Quartier hat, umkränzen Stacheldrahtrollen in Mannshöhe. Sie sollen verhindern, dass Piraten die Brücke erreichen, wenn sie es an Bord geschafft haben. Doch das Unheil kündigt an diesem Tag nicht ein Piratenschiff an, sondern die Sagbama, ein Patrouillenboot der nigerianischen Marine. Ihr Kapitän, Leutnant Mohammed Ibrahim Hanifa, will die Bewilligungen für den Transfer des Treibstoffs sehen. Was Vaskov nicht weiss: Es ist kein Zufall, dass die Marine ausgerechnet die San Padre Pio kontrolliert.
In Nigeria kommt Rohöl in grossen Mengen abhanden. Es wird illegal raffiniert, gelangt auf verschlungenen Wegen ins Ausland, etwa in den Nachbarstaat Togo und von dort manchmal mit gefälschten Dokumenten per Schiff wieder zurück nach Nigeria. Um den Kontrollen im Hafen zu entgehen, wird der Treibstoff oft auf See von einem Schiff zum nächsten umgeladen.
Dieses illegale Schiff-zu-Schiff-Bunkern, wie Fachleute es nennen, bekämpft die nigerianische Marine, indem sie die Bewegungsmuster aller Tanker vor ihrer Küste überwacht. Dabei ist die San Padre Pio aufgefallen. Das Schweizer Schiff habe sich durch häufige Grenzübertritte verdächtig gemacht, wird später in den Gerichtsakten des Internationalen Seegerichtshofes stehen. Zudem sei Lomé in Togo, wo die San Padre Pio startete, ein beliebter Hafen bei Schmugglern. Und dann war der Tanker ziemlich genau ein Jahr zuvor schon einmal für illegales Bunkern verurteilt worden, damals vor der Küste Angolas. Die Busse betrug 40000 Dollar. Angola habe nie über die neuen Regeln informiert, verteidigte sich damals der Schweizer Charterer.
Der jetzige Zwischenfall beim Odudu-Tanklager wird nicht nur teurer enden, sondern auch tragischer. Leutnant Hanifa ist nicht zufrieden mit den Dokumenten, die ihm Kapitän Vaskov aushändigt. Er fordert ihn auf, den Anker der San Padre Pio zu lichten und der Sagbama in Richtung Küste zu folgen.
Die Fahrt endet im Bonny Channel, einer vierzig Kilometer langen Bucht im Osten Nigerias. Dort geht das Schiff am 24. Januar 2018 um sieben Uhr abends vor Anker – das letzte Mal für lange Zeit. Die sechzehn Männer an Bord dürfen den Tanker nicht verlassen, und das können sie auch nicht so einfach. Die San Padre Pio liegt eine Seemeile vor der Küste. Im Dunst können die Seeleute an Land trostlose Tanklager erkennen. Sie werden lange Zeit haben, sich an diesen Ausblick zu gewöhnen. Andriy Vaskov und seine Crew warten nun wochenlang. Sie wissen nicht, was die Nigerianer mit ihnen vorhaben. Dann, am 9. März 2018, endet die Ungewissheit – vorerst. Die Crew beobachtet, wie sich zwei mit Maschinengewehren bewaffnete Motorboote dem Schiff nähern.
Keiner der Seeleute wollte mit uns über die Vorgänge auf der San Padre Pio sprechen. Anrufe, E-Mails und Kontaktversuche über soziale Medien blieben meistens unbeantwortet. Das Milieu der Seefahrer ist ein schweigsames. Womöglich fürchteten die Männer auch um ihre berufliche Zukunft, sollten sie sich mit Journalisten austauschen. Bei der Schweizer Reederei ABC Maritime wollte ebenfalls niemand reden. Weder Hans Tanner, der das Unternehmen 1982 gegründet hat, noch sein Sohn Daniel, der die Firma heute leitet, gaben über das Schicksal der San Padre Pio Auskunft. «Leider müssen wir Ihnen jegliche Antworten verweigern», schrieb Hans Tanner in einer E-Mail.
Wir konnten das Los von Crew und Schiff in Nigeria jedoch mittels Dokumenten des Internationalen Seegerichtshofes in Hamburg rekonstruieren. Hunderte von Seiten diplomatische Noten, E-Mails, Seekarten, Logbucheinträge und Ladelisten erlaubten einen seltenen Blick hinter die Kulissen dieses diskreten Gewerbes. Die Dokumente veranschaulichen nicht nur, wie die Geschäfte ablaufen, sie zeichnen auch das schwere, aber typische Schicksal einer Crew nach, die den Entscheiden fremder Behörden, Richter und Reeder ausgeliefert ist.
Obwohl die Besatzungen von Handelsschiffen Tausende von Kilometern von uns entfernt ihre Arbeit verrichten, sind wir mit ihnen untrennbar verbunden. Weltweit werden neunzig Prozent des Warenverkehrs über das Meer abgewickelt. Die Crews auf den Handelsschiffen machen das Leben, das wir gewohnt sind, erst möglich. Eine davon ist jene auf der San Padre Pio.
Der Schock im Gefängnis
Die bewaffneten Motorboote der Nigerianer legen Steuerbord an, Offiziere und Beamte steigen auf den Schweizer Tanker. Jetzt übernimmt die Strafverfolgungsbehörde Economic and Financial Crime Commission (EFCC) den Fall. Damit dieser Vorgang gebührend Beachtung findet, haben die Offiziellen fünf Journalisten mitgebracht. Die Beamten besiegeln die Übergabe vor laufender Kamera mit Unterschrift und Handschlag. Danach muss sich die Mannschaft vor der Brücke mit dem Rücken zu den Presseleuten aufstellen. Das Foto erscheint noch am selben Tag in verschiedenen Onlinemedien. So wollen die Behörden zeigen, wie rigoros sie gegen mutmassliche Kriminelle aus dem Ausland vorgehen.
Noch während die Beamten an Bord der San Padre Pio sind, erhält Andriy Vaskov eine E-Mail von Augusta Energy, seinem Auftraggeber in der Schweiz: «Lieber Kapitän, bitte verlassen Sie den Tanker nicht ohne grünes Licht vom Besitzer.» Dieser Aufforderung kann Vaskov allerdings nicht nachkommen. Nachdem die Journalisten ausgiebig fotografiert und gefilmt haben, müssen die Seemänner in eines der Motorboote steigen und werden an Land gebracht. Ihre Kojen tauschen sie noch am selben Tag gegen eine Zelle im Gefängnis in Port Harcourt.
Das Gefängnis ist berüchtigt: Es ist eng, heiss, dreckig. Für 800 Insassen gebaut, sollen heute fast 5000 dort einsitzen. Wer mehr über sie erfahren möchte, dem kommt die eigenwillige Öffentlichkeitsarbeit der EFCC entgegen: Die Kommission betreibt eine Facebook-Seite, auf der sie die Bilder mutmasslicher Betrüger, Schmuggler und Fälscher mit Namen und Anschuldigung veröffentlicht. Drei Tage nach der Übergabe auf dem Schiff erscheinen auf der Seite Fotos der Crew: Die Männer in ihren orangen Overalls blicken müde in die Kamera, einige haben ihre Köpfe zu Boden gesenkt. Die Republik Nigeria erhebe Klage gegen die 16 Besatzungsmitglieder und das Schiff, heisst es zu den Bildern, der Vorwurf: illegaler Handel mit Diesel. Einer der knapp 300000 Abonnenten der Facebook-Seite wünscht in seinem Kommentar, dass «die Ukrainer die ganze Härte des Gesetzes erfahren». Ein anderer schlägt vor: «Schmeisst sie einfach ins Wasser.»
Die 16 Crewmitglieder teilen sich mit 12 weiteren Gefangenen eine Zelle. Das Essen ist ungeniessbar scharf, es gibt bloss vergammelte Matratzen und keine Privatsphäre. In welchen Schwierigkeiten sie stecken, erkennen die Männer, als sie im Gefängnis auf eine andere Schiffsbesatzung treffen, jene des griechischen Tankers Tecne. Auch dieser Mannschaft werden illegale Ölgeschäfte vorgeworfen. Das Schiff fuhr unter der Flagge Panamas, als es im Frühling 2017 von der nigerianischen Marine angehalten wurde. Seit einem Jahr schon sitzt die Crew – vom Kapitän bis zum Leichtmatrosen – nun im Gefängnis von Port Harcourt.
An Bord der Tecne waren auch zwei Ukrainer. Die beiden hier im Gefängnis zu treffen erschüttert die Männer von der San Padre Pio besonders. Sie ahnen, welches Martyrium ihnen bevorstehen könnte. Einer der Ukrainer der Tecne-Crew ist Chefmechaniker Alexander Kashernyi. Seine Familie in Odessa wusste drei Monate lang nicht, was mit ihm geschehen war. Als der Vater schliesslich erfuhr, dass sein Sohn in einem nigerianischen Gefängnis sitze, erlitt er einen Hirnschlag. Der Besitzer der Tecne will nichts mehr mit dem Schiff zu tun haben, und Panama, das als Flaggenstaat rechtlich zuständig wäre, kümmert sich auch nicht darum. Kashernyi gehört zu jenen 3500 Insassen des Gefängnisses, die auf ihren Prozess warten. Vaskov und seine Männer sind bloss sechzehn weitere, deren Leben in Port Harcourt stillsteht.
In Odessa fliessen Tränen
Odessa ist eine stolze Stadt mit einer langen Geschichte. Die russische Kaiserin Katharina die Grosse gründete das Zentrum der ukrainischen Seefahrt an der Nordküste des Schwarzen Meeres Ende des 18. Jahrhunderts. Heute lernen hier zehntausend Studenten an der Staatlichen Marineuniversität ihr Handwerk. Denkmäler in Odessa erinnern an den unbekannten Seemann, den verschwundenen Seemann oder die Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin, die 1905 gegen ihre Offiziere meuterten. Die jüngste Statue stammt aus dem Jahr 2002: Eine Frau aus Bronze, die am Pier aufs Meer hinausblickt. Sie hält einen Jungen, der auf dem Geländer steht und winkt. «Die Frau des Seemanns» erinnert daran, dass Seefahrer sich verabschieden, ohne zu wissen, ob sie je zurückkehren werden.
Dieser Abschied findet in der Ukraine heute häufiger am Flughafen als in der Bucht von Odessa statt. Das ist eine direkte Folge des grössten Ereignisses der jüngeren Weltgeschichte. Als die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken 1991 zerfiel, blieb die Ukraine mit vielen gut ausgebildeten Seeleuten, aber ohne die Schwarzmeerflotte der ehemaligen Sowjetunion zurück. Also boten die Matrosen und Offiziere ihre Dienste ausländischen Reedereien an. Heute stellt die Ukraine mit China, den Philippinen, Indonesien und Russland die meisten Seemänner für die internationale Handelsschifffahrt. Es sind zwischen 120000 und 150000. Mehr als 200 Crewing-Agenturen in Odessa vermitteln die Seeleute in alle Welt. Sie fliegen in eine Hafenstadt, arbeiten einige Monate für wenig Geld auf einem Schiff und fliegen dann von einem anderen Hafen wieder zurück.
Die Schweizer Reederei ABC Maritime heuert die Seeleute in ihrer Zweigstelle in Odessa selber an. Hier, im vierten Stock eines unauffälligen Geschäftsgebäudes im Zentrum der Stadt, kommt es am 16. März 2018 zu einem traurigen Treffen.
Sieben Tage nachdem die Crew der San Padre Pio ins Gefängnis von Port Harcourt gebracht worden ist, versammelt ABC Maritime die Familien der Seeleute im Konferenzraum ihres Büros. An den Wänden der gewundenen Gänge hängen Bilder der achtzehn Tanker und elf Versorgungsschiffe, die zur Flotte der Firma gehören. Zwanzig Angehörige sind gekommen, manche sind über drei Stunden angereist. Sie hoffen auf gute Neuigkeiten, doch es gibt wenig gesicherte Informationen. Die Männer sind im Gefängnis, die Ermittler haben Anklage erhoben, Anwälte sind beauftragt, die Löhne werden weiterbezahlt. Eine Kontaktperson hat die Crew im Gefängnis besucht und von der Möglichkeit berichtet, den Männern Essen, Wasser und Toilettenartikel zukommen zu lassen. In der E-Mail aus Port Harcourt steht allerdings auch: «Wir wissen nicht, wann die Crew freigelassen wird. Das kann morgen sein, was sehr unwahrscheinlich ist, denn die ganze Sache könnte auch sehr lange dauern.»
Manche Angehörigen reagieren verständnisvoll, andere weinen oder beschweren sich. «Die Leute waren frustriert», erinnert sich Oleg Grigoriuk. Er ist Präsident der grössten ukrainischen Seefahrergewerkschaft MTWTU. Grigoriuk hat die Statur eines Hünen und weiss, was es heisst, in Not zu sein. Der Gewerkschaftschef fuhr früher selbst zur See. Einmal strandete er in Liverpool. Von dort aus sollte er mit einem Schiff, das nicht mehr seetauglich war, aufs Meer hinausfahren. Grigoriuk weigerte sich und stritt mit der Firma, die ihn angestellt hatte. Die Gewerkschaft half ihm schliesslich, nach Hause zu kommen. So wurde Grigoriuk selbst zum Gewerkschafter – und stieg schliesslich bis an die Spitze auf.
Grigoriuk wird von ABC an die Treffen mit den Angehörigen der Männer auf der San Padre Pio eingeladen, um den Prozess zu begleiten und moralische Unterstützung zu leisten. Mit dabei ist auch Anna Morugova, Gründerin von Assol, einer Organisation, die sich um Angehörige von Seefahrern kümmert, die in Schwierigkeiten geraten sind. Was für die Crew der San Padre Pio und ihre Verwandten ein persönliches Drama ist, ist für Grigoriuk und Morugova trauriger Alltag: ukrainische Schiffscrews, die irgendwo auf der Welt feststecken und nicht mehr ein noch aus wissen.
Ihre Geschichten verbergen sich in einer langen Liste der Internationalen Arbeitsorganisation, einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Sie sammelt die Fälle der verlassenen Schiffe:
März 2011, Tenez, Algerien, der Reeder lässt die Agat ohne Essen, Trinkwasser und Treibstoff zurück und kappt die Telefonverbindungen.
August 2014, Dakar, Senegal, die Sea Soul 1 sinkt, gegen die Crew werden Vorwürfe wegen Waffenschmuggels erhoben, die Anklage wird fallengelassen, doch die Seefahrer erhalten keine Löhne und können nicht nach Hause reisen.
September 2016, vor Limbe, Kamerun, die Braveheart wird von einer kongolesischen Ölfirma festgenommen, das Schiff hat keinen Treibstoff mehr, der Reeder scheint bankrott zu sein, der Flaggenstaat Portugal reagiert nicht, eine Gewerkschaft organisiert die Heimreise.
Februar 2018, Kakinada, Indien, die 21 Seeleute an Bord der Evangelia haben nichts mehr zu essen, bekommen keine Löhne, der Flaggenstaat Liberia kümmert sich erst nach mehreren Monaten um die Anliegen der Crew.
Februar 2020, Manila Bay, Philippinen, die Crew der Celanova bittet um Evakuierung, weil gefährliche Fracht an Bord ist und mehrere Monate keine Löhne mehr bezahlt wurden.
Die Arbeitsorganisation zählt, aus welchem Land die Seeleute stammen, die irgendwo auf der Welt zurückgelassen wurden: aus keinem sind es mehr als aus der Ukraine.
Der Schweizer Botschaft in Nigerias Hauptstadt Abuja erfährt aus der Presse von den Schwierigkeiten der San Padre Pio und ihrer Crew. Am 13. März 2018 schickt die Botschaft eine diplomatische Note an das Aussenministerium Nigerias mit der Bitte, man möge sie möglichst rasch informieren. Das Schreiben ist in jener weichgespülten Diplomatensprache abgefasst, in der Nigeria und die Schweiz von nun an über die San Padre Pio verhandeln werden: Die Schweizer Botschaft grüsst das Aussenministerium «mit höchster Wertschätzung» und verabschiedet sich «mit der Versicherung seiner vorzüglichsten Hochachtung».
Zehn Tage nach der Überführung ins Gefängnis zeigen die Bemühungen der Schweiz einen ersten Erfolg: Die Klagen gegen zwölf der sechzehn Männer werden fallengelassen. Sie verlassen das Gefängnis und kehren auf die San Padre Pio zurück. Doch die Freude währt nicht lange. Obwohl nichts mehr gegen sie vorliegt, dürfen sie Nigeria nicht verlassen. Angeklagt sind jetzt noch Kapitän Andriy Vaskov und seine drei Offiziere.
Einige Wochen später handeln die Anwälte von ABC Maritime aus, dass der Kapitän und die Offiziere auch auf das Schiff zurückdürfen – gegen eine Kaution von 80 Millionen nigerianischen Naira, 215000 Franken. Die vier Männer müssen ihre Pässe hinterlegen und dürfen nicht ausreisen. Die San Padre Pio wird von nun an von nigerianischen Soldaten bewacht.
Was dann geschieht, so steht es in den Gerichtsakten, sei «einer Kafka-Geschichte würdig». Obwohl die vier Angeklagten vom nigerianischen Gericht offiziell zu Anhörungen vorgeladen werden, untersagt die nigerianische Marine den Seeleuten mehrfach, dafür an Land zu gehen. Auch die diplomatischen Bemühungen laufen ins Leere. Dass der Schweizer Botschafter in Nigeria, Eric Mayoraz, in einem Schreiben vom 5. Juni 2018 befürchtet, «diese delikate Angelegenheit könnte negative Folgen für unsere bilateralen Beziehungen haben», beeindruckt die Nigerianer nicht.
Zwölf Seeleute dürfen von Bord
Die Situation beginnt der Mannschaft zuzusetzen. Viereinhalb Monate sind vergangen, seit die Männer festgenommen worden sind. Ihre Verträge sind ausgelaufen, sie sollten längst zu Hause sein. Immerhin bezahlt ABC weiterhin ihre Löhne, und die Crew wird auf dem Schiff mit Lebensmitteln versorgt. Doch die Ungewissheit ist schwer zu ertragen. Zudem hat der Pumpenmann akute Zahnschmerzen, der dritte Offizier ein Herzleiden, und auch der Öler müsste zum Arzt. Doch nicht einmal für medizinische Untersuchungen lässt die Marine die Crewmitglieder an Land.
Anfang Juli gibt es für die zwölf Männer, die nicht mehr angeklagt sind, endlich positive Neuigkeiten. «Guten Morgen alle zusammen», beginnt die E-Mail von Kapitän Andryi Vaskov an ABC Maritime mit der erlösenden Nachricht, «zu Ihrer Information: heute 16.07.2018 @ 10:15 Lokalzeit gingen 12 abgemeldete Personen von Bord der San Padre Pio».
Neun Tage später fliegen die Seemänner nach Odessa zurück. Sie sind dem schlimmsten Albtraum ihres Lebens entkommen. ABC Maritime lässt dreizehn neue Seeleute aus den Philippinen einfliegen. Sie kümmern sich einige Monate um den Unterhalt des Schweizer Schiffs, bevor sie von einer neuen Crew abgelöst werden. Der Kapitän und seine drei Offiziere hingegen sind immer noch angeklagt. Für die vier ist die San Padre Pio zu einem Gefängnis geworden.
Weil die Angeklagten nicht Schweizer Bürger sind, kann sich die Schweiz nicht direkt für ihre Rechte einsetzen. Aber das Land kann seine Rechte als Flaggenstaat einfordern, ist die San Padre Pio doch ein Stück schwimmende Schweiz.
Das Flaggenstaatsprinzip beantwortete eine grundlegende Frage der Seefahrt: Welches Recht soll auf See gelten? Als die Europäer den Seehandel Ende des 16. Jahrhunderts international betrieben, erwogen sie, die Weltmeere in nationale Zonen aufzuteilen. Doch weil es unmöglich schien, die Gesetze in der Weite der Ozeane durchzusetzen, fand sich eine praktischere Lösung: Das Hoheitsgebiet eines Landes soll sich nur so weit ins Meer hinaus erstrecken, wie das Kanonenfeuer reicht. Das waren drei Seemeilen. Überall sonst galt auf einem Schiff das Recht des Flaggenstaates, also des Staates, in dem es registriert ist – unabhängig von der Nationalität seines Besitzers, der Besatzung oder des gegenwärtigen Auftraggebers.
Später wurden aus den drei Seemeilen sechs, und seit 1982 dürfen Staaten ihre Küstengewässer zwölf Seemeilen ins Meer ausdehnen. Diese Zwölfmeilenzone zählt zum Staatsgebiet, in dem vorrangig das Recht des Küstenstaates gilt. Wenn die Weltmeere bloss in Hochsee und Zwölfmeilenzone aufgeteilt wären, gäbe es kaum juristische Unsicherheiten, und die Crew der San Padre Pio wäre längst wieder zu Hause. Aber im 20. Jahrhundert erfanden Seenationen eine weitere Zone, die seit 1982 offiziell im Seerecht verankert ist: die Ausschliessliche Wirtschaftszone (AWZ), die 200 Meilen vor einer Küste endet. Diese Zone ist rechtlich ein Zwitter: Wie auf hoher See gilt dort an Bord eines Schiffes das Recht des Flaggenstaates, und es gibt ein Recht auf «freedom of navigation», auf unbehelligte Durchfahrt. Die wirtschaftliche Nutzung des Gebietes ist aber dem Küstenstaat vorbehalten. Er alleine darf in der AWZ beispielsweise fischen oder Bodenschätze fördern.
Diese neue Zone führte zu einer endlosen Folge rechtlicher Konflikte. Staaten geraten aneinander, weil sich ihre AWZ überschneiden, oder sie streiten um einst bedeutungslose Inseln, deren Mitgift nun aus dem Zugang zu Erdöl oder Fischschwärmen besteht. Es ist kein Zufall, dass die San Padre Pio innerhalb der AWZ von Nigeria angehalten wurde. Auch der Konflikt der Schweiz mit dem westafrikanischen Land dreht sich im Kern darum, wer in dieser Zone welche Rechte hat. Durfte Nigeria die San Padre Pio und ihre Crew kontrollieren und festnehmen? Aus Schweizer Sicht ist das eine Verletzung des Rechts auf «freedom of navigation». Nigeria hingegen beruft sich darauf, dass die Ölförderung in der AWZ in seine Kompetenz fällt und damit auch die Kontrolle der San Padre Pio, die Treibstoff an Ölförderanlagen liefert. Das Schweizer Schiff und seine Crew sind die Opfer eines Streites um die Deutung von Seerecht.
Die Schweiz teilt Nigeria mit, sie hege Zweifel, ob die «Klagen mit geltendem Recht vereinbar seien», und verlangt die Freilassung von Crew und Schiff. Doch nichts geschieht. Die Klagen werden im Gegenteil erweitert: zuerst ist es eine, dann werden zwei daraus, dann sechs. Eines Tages erscheint ein Beamter auf der San Padre Pio, der ein vierseitiges Dokument an eine Schiffswand pappt: Darauf erscheinen elf Klagepunkte.
Auf diplomatischem Weg macht die Schweiz Druck. Der Botschafter in Nigeria trifft im Mai 2018 Offizielle, im Juni schickt er dem nigerianischen Aussenministerium ein Memorandum, im September übermittelt der Schweizer Botschafter in Grossbritannien dem nigerianischen Hochkommissar im Vereinigten Königreich eine diplomatische Note, im November kommt die Angelegenheit bei einem Anlass in Genf mit dem nigerianischen Justizminister zur Sprache. Anfang Januar 2019 übergibt die Schweiz in Bern Nigeria ein drittes Memorandum. Nigeria geht nicht auf die Kontaktversuche ein.
Während Diplomaten in dunklen Anzügen wohlgeformte Sätze übermitteln, sind die Männer in ihrer Arbeiteruniform auf der San Padre Pio zum Warten verdammt. Seit das Schiff im Bonny-Channel vor Anker liegt, sind in der Ukraine die Badetouristen gekommen und wieder abgereist, das Laub in den Stadtparks von Odessa hat Farbe angenommen, und in der Deribasywska-Strasse wurde die Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt. Auf der San Padre Pio hingegen gleicht ein Tag dem nächsten, so nahe am Äquator gibt es keine Jahreszeiten. Es ist immer 30 Grad warm und immer feucht wie in einem Dampfbad. Seit fast einem Jahr sitzen Kapitän Vaskov und seine drei Offiziere nun in Nigeria fest. Bald verbringen sie ihre erste Weihnacht auf der San Padre Pio.
Die Crew bleibt wenn möglich über das Internet mit ihren Familien in Kontakt. Andriy Vaskov veröffentlicht Fotos auf seinem Profil bei Odnoklassniki, einem populären sozialen Netzwerk in Russland. Die Bilder zeigen den Eingang des Gefängnisses in Port Harcourt und Gefangene hinter dicken Gitterstäben.
Der Prozess in Nigeria geht nicht voran. Es sind zwar immer wieder Anhörungen geplant, aber oft fehlt das Boot, das die Männer an Land bringen könnte, oder der Termin wird verschoben, weil der Staatsanwalt der Verteidigung nicht alle Dokumente ausgehändigt hat.
Am Weltwirtschaftsforum in Davos unternimmt die Schweiz einen letzten Versuch, mit Nigeria ins Gespräch zu kommen. Bundesrat Ignazio Cassis übergibt dem nigerianischen Industrieminister Okechukwu Enelamah ein viertes Memorandum, das mit einer Drohung endet: «Falls nicht in Kürze eine diplomatische Einigung erzielt werden könne, erwäge die Schweiz, den Konflikt dem Internationalen Seegerichtshof zu unterbreiten.» Es wird Frühling, die Schweizer warten noch immer auf eine Antwort aus Nigeria.
Die Piraten stürmen aufs Schiff
Am Abend des 15. April 2019 um viertel nach neun tritt ein, wovor sich die Crew der San Padre Pio schon immer gefürchtet hat. Aus der Dunkelheit nähert sich ein Schnellboot dem Schweizer Tanker. Es dreht Backbord bei. Zwei Piraten mit Kalaschnikows klettern an Deck. Am Eingang zu den Kojen treffen sie auf eine der beiden nigerianischen Wachen. Sie eröffnen das Feuer.
Von Schüssen aufgeschreckt, hasten der Erste Offizier und der Chefingenieur zu den Kojen. Dort finden sie einen Wachmann verletzt am Boden. Eine Kugel hat ihn im Gesicht getroffen. Während ein Crewmitglied Erste Hilfe leistet, rennt der Erste Offizier auf die Brücke und versucht über Funk den Hafen zu alarmieren. Er erhält keine Antwort. Erneut fallen Schüsse. Aus den Bordlautsprechern klingt die Durchsage: «Die gesamte Besatzung sofort in den Panikraum.»
Der Panikraum, im Jargon auch Zitadelle genannt, gehört heute zur Grundausstattung von Handelsschiffen. In diesen Notraum, in dem Wasser und Nahrungsmittel für mehrere Tage lagern, kann sich die Mannschaft bei einem Piratenangriff zurückziehen. Aus der Zitadelle setzen die Männer einen weiteren Hilferuf ab.
Nun müssen sie ausgerechnet von jenen gerettet werden, die dafür verantwortlich sind, dass die Ukrainer seit über einem Jahr in Nigeria im Bonny Channel dümpeln. Die Marine reagiert rasch und schickt zwei Schnellboote. Die Soldaten durchsuchen das Schiff. Um zehn Uhr geben sie Entwarnung. Die Angreifer sind weg, und die Crew kann aufatmen. Die Männer verlassen die Zitadelle und kommen an Deck. Der verletzte Wachmann wird von Bord gebracht. Der Spuk ist vorbei, aber er könnte sich jederzeit wiederholen.
Die Schweiz klagt an
An einem Freitagvormittag Ende Juni 2019 ergreift Corinne Cicéron Bühler im grossen Saal des Internationalen Seegerichtshofs ITLOS das Wort. Das Gericht hat seinen Sitz in Hamburg-Nienstedten, einem noblen Vorort der Hansestadt. Und es scheint, als ob die Grösse der Erdoberfläche, über die hier Recht gesprochen wird, proportional zur Anzahl Richter sei: 18 Männer und 3 Frauen in schwarzen Roben blicken auf Cicérons Rednerpult herab. Der San-Padre-Pio-Fall Schweiz gegen Nigeria trägt die Nummer ITLOS/PV.19/C27.
Cicéron beginnt mit einem Hinweis auf den aussergewöhnlichsten Umstand dieses Falles. «Dies ist das erste Mal, dass ein Binnenstaat vor Ihnen auftritt», sagt sie, «es ist mir daher eine Freude, heute der Vertreter dieser Gruppe von Staaten zu sein, die im Rahmen des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen ausdrücklich anerkannt sind.» Corinne Cicéron Bühler ist die Direktorin der Direktion für Völkerrecht des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten. Ihr Büro an der Berner Kochergasse liegt 300 Kilometer vom nächsten Meer entfernt. Tatsächlich gehört es zu den unwahrscheinlicheren Fügungen der Schweizer Geschichte, dass ein Land, das für seine Berge bekannt ist, ein Gericht anruft, das über die Meere wacht.
Der Grund dafür liegt weit in der Vergangenheit. Als rohstoffarmes Land war die Schweiz im Zweiten Weltkrieg auf Nahrungsmittel und andere Güter aus dem Ausland angewiesen. Während des Krieges wurde aber einerseits der Frachtraum knapp, andererseits waren Handelsschiffe von Kriegsparteien auf See gefährdet und konnten nicht mehr alle Häfen anlaufen. Der Bundesrat entschied, dass die Schweiz Schiffe brauche, die unter eigener Flagge fahren. Am 9. April 1941 wurde die gesetzliche Grundlage für eine Schweizer Flotte geschaffen. Zehn Tage später fuhr das erste Hochseeschiff mit einer Schweizer Flagge am Heck: der Frachter Calanda. Im Krieg war die Eidgenossenschaft selbst Besitzer mehrerer Schiffe, später gewährte sie privaten Reedereien Bürgschaften unter der Bedingung, dass sie ihre Schiffe im Notfall sofort für Versorgungstransporte für die Schweiz zur Verfügung stellten. Wenn es in Europa zu einer Dürre oder einem Krieg kommen sollte, würden die Schiffe requiriert. Sie müssten ihre gegenwärtige Ladung löschen und dann Lebensmittel oder Mineralöl für die Schweiz in einen nahe gelegenen Hafen bringen. Von dort ginge die Ladung dann per Fluss, Strasse oder Schiene in die Schweiz. So sieht es ein Szenario des Bundesrates vor.
Für die Reedereien war das ein guter Deal, ist ein Versorgungsengpass doch bis heute nie eingetreten. Eine Bürgschaft der Eidgenossenschaft bedeutet, dass Banken für den Kauf neuer Schiffe unter Schweizer Flagge günstige Darlehen gewähren, im Wissen, dass der Bund einspringt, wenn die Reederei in eine finanzielle Notlage gerät. Weil die San Padre Pio unter Schweizer Flagge fährt, beanspruchte die Besitzerin ABC Maritime bei ihrem Kauf eine solche Bürgschaft.
Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Land wegen eines festgehaltenen Tankers den Internationalen Seegerichtshof anruft. «Viele Flaggenstaaten würden keinen Finger rühren», sagt Valentin Schatz vom Institut für Seerecht und Seehandelsrecht der Universität Hamburg. Für gewisse Länder sei die Beflaggung von Schiffen ein reines Geschäftsmodell, «für Geld rücken sie die Flagge heraus, ohne viel dafür tun zu müssen». Die sogenannten Billigflaggen von Panama, Liberia oder den Cayman Islands etwa bieten für die Schiffsbesitzer wirtschaftliche Vorteile: Registrierung und Steuern sind tief, Sozialverpflichtungen und Sicherheitsanforderungen gering, internationale Verträge können umgangen werden. Das Nachsehen haben oft die Crews. Und die Corona-Pandemie hat ihre Situation noch verschlechtert: Viele Seeleute können seit Monaten nicht nach Hause, weil die Reisevorschriften es unmöglich machen, Besatzungen abzulösen, oder weil ihre Reedereien konkursgingen.
Nigeria reagiert nicht
Als Nigeria auf die letzte diplomatische Intervention von Bundesrat Cassis am Weltwirtschaftsforum nicht reagierte, unterbreitete Corinne Cicéron den Streitfall am 6. Mai 2019 – drei Wochen nach dem Piratenangriff – dem Seegerichtshof. Und weil eine solche Streitbeilegung mehrere Jahre dauern kann, verlangte sie, dass in einem Eilverfahren «vorsorgliche Massnahmen» beschlossen werden: Die verbleibenden vier Crewmitglieder sollten sofort freigelassen und die San Padre Pio freigegeben werden.
Die 21 Richter, die an diesem Morgen zuhören, wie Corinne Cicéron das Schicksal der San Padre Pio rekapituliert, würden also nicht entscheiden, ob Nigeria oder die Schweiz im Unrecht sei, sondern bloss, welche «vorsorglichen Massnahmen» in diesem Fall ergriffen werden sollten, bevor der eigentliche Prozess beginne. Massnahmen, auf die Andriy Vaskov und seine drei Offiziere fünfeinhalbtausend Kilometer südlich von Hamburg nun schon 17 Monate warten. Es ist der zweite Sommer, den die vier angeklagten Seefahrer auf der San Padre Pio verbringen. Der Zustand des Schiffes hat sich in dieser Zeit dramatisch verschlechtert. Rumpf und Schiffsschraube hätten dringend von Tauchern gereinigt und die Sicherheitsausrüstung überprüft werden müssen. Zudem erlaubt die Leistung des Schiffsmotors nicht mehr, anderen Schiffen auszuweichen. Zwei Wochen vor der Verhandlung am Seegerichtshof war tatsächlich die Invictus, ein verlassenes Schiff, das die Nigerianer seit mehr als drei Jahren festhalten, mit der San Padre Pio zusammengestossen.
Cicéron kommt auf den grossen wirtschaftlichen Schaden zu sprechen, der entstand, weil die San Padre Pio so lange im Bonny Channel vor Anker lag: Jeder Tag koste den Charterer Augusta Energy, der das Schiff von ABC Maritime gemietet hatte, 12000 Dollar. «Die Summe beläuft sich gegenwärtig auf 6,2 Millionen Dollar», rechnet Cicéron den Richtern vor. Verluste, die «vollständig Nigeria zuzuschreiben sind». Cicéron beklagt sich darüber, dass der Prozess in Port Harcourt kaum vorankomme, der Staatsanwalt ständig den Inhalt der Klage ändere und Nigeria keinen Kontakt mit der Schweiz aufnehme. Die Anhörung dauert zwei Tage, an denen abwechslungsweise Vertreter aus der Schweiz und Nigeria Stellung beziehen. Nach den mündlichen Verhandlungen stellen sich die Delegationen vor den Fahnen der Mitglieder des Seegerichtshofs zum Erinnerungsfoto auf: Für die Schweiz sind neun Berater, Anwälte und Experten nach Hamburg gereist, für Nigeria siebzehn.
14 Millionen für die Freiheit?
Am 6. Juli 2019 veröffentlicht der Internationale Seegerichtshof eine Verfügung, die die ukrainische Crew endlich neue Hoffnung schöpfen lässt: Wenn die Schweiz eine Kaution von 14 Millionen Dollar zahlt, soll Nigeria das Schiff, den Kapitän und die drei Offiziere sofort gehen lassen. Wer welche Gesetze verletzt hat, wird später in einem anderen Prozess geklärt.
Die Crew ist der Freiheit noch nie so nahe. Die Schweiz ist bereit, die 14 Millionen Dollar sofort zu hinterlegen. Doch als ob die Männer mit einem Fluch belegt wären, taucht das nächste Hindernis auf: Die beiden Länder können sich nicht darüber einigen, wie die Kaution hinterlegt werden soll. Die Schweiz will sichergehen, dass sie das Geld zurückbekommt, wenn sie die Bedingungen des Gerichts erfüllt.
Während die Juristen im eidgenössischen Aussendepartement mit den nigerianischen Behörden nach einer Lösung suchen, bleibt den Seemännern auf der San Padre Pio einmal mehr nichts übrig, als zu warten.
Es ist Ende November 2019, als wir zum ersten Mal mit der Crew Kontakt aufnehmen, die E-Mail-Adresse des Schiffs finden wir in den Gerichtsakten. Kapitän Andriy Vaskov reagiert sofort auf unsere Anfrage. Er schreibt: «Ja, wir werden als Geiseln festgehalten. Über die Situation und die Umstände äussere ich mich besser nicht schriftlich.» Auf Nachfragen bekommen wir keine Antwort mehr, doch in der E-Mail steht die Nummer des Satellitentelefons der San Padre Pio.
Wir rufen den Schweizer Tanker am 28. November um 16.45 Uhr an und erfahren, dass der Kapitän und seine Männer von Bord gegangen und am Abend wieder da seien. Doch Andriy Vaskov und seine Offiziere werden nicht mehr auf das Schiff zurückkehren.
Der Fall der San Padre Pio nimmt nun eine unerwartete Wendung. Die Schweiz und Nigeria sind sich zwar noch immer uneinig über die Modalitäten der Kaution. Aber neben dem hängigen Prozess vor dem Seegerichtshof in Hamburg, der sich um die grosse Frage dreht, ob Nigeria den Schweizer Tanker überhaupt festhalten dürfe, gibt es noch ein zweites Verfahren in Nigeria. Dort sind Andriy Vaskov, seine drei Offiziere und das Schiff wegen illegalen Handels mit Diesel angeklagt. In dieses Verfahren kommt nun plötzlich Bewegung. Die vier Männer werden für Anhörungen zum Gericht in Port Harcourt gebracht und dort freigesprochen. Der Richter befindet, alle nötigen Bewilligungen für den Handel mit Diesel hätten vorgelegen. Das Geschäft sei legal abgelaufen. Ein Rekurs gegen das Urteil wird später abgewiesen.
Wenige Tage darauf fliegen Andriy Vaskov, Mykhaylo Garchev, Vladyslav Shulga und Ivan Orlovkyi heim. Zwei Jahre haben sie auf dem Schiff verbracht, 52 Tage im Gefängnis von Port Harcourt. Ein Leben in der Warteschleife auf einem Stahlkoloss 5000 Kilometer von zu Hause. Die San Padre Pio war ihr Schicksal.
Am 9. Dezember veröffentlicht der Bruder von Andriy Vaskov im sozialen Netzwerk Odnoklassniki neue Bilder. Sie zeigen die beiden Brüder Arm in Arm auf dem Weihnachtsmarkt in Odessa. Andriy Vaskov hat seine Uniform gegen eine weite Jeans und ein Sweatshirt eingetauscht und lacht in die Kamera. Was wirklich in ihm vorgeht, darüber will er, anders als er es in seiner Mail schrieb, nun doch nicht sprechen. Als wir noch einmal mit ihm Kontakt aufnehmen wollen, reagiert er nicht mehr. Womöglich verbietet ihm sein Arbeitsvertrag, mit Journalisten zu reden, oder er will sich nicht mehr an die Zeit auf der San Padre Pio erinnern.
Heute liegt das Schiff noch immer im Bonny Channel; dort, wo Kapitän Vaskov vor fast drei Jahren seinen Anker geworfen hatte. Alle Bemühungen der Schweiz, sich mit Nigeria über die Bezahlung der Kaution zu einigen, scheiterten. Seit März 2020 hat Nigeria nicht mehr auf die Vorschläge der Schweiz reagiert. Für die Reederei hat die Situation gravierende Folgen. Seit das Schiff festgehalten wird, kostet es nur noch und bringt keine Einnahmen mehr. Die Verluste gehen in die Millionen. Im März 2020 konnte die Besitzerin ihren finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. Die Bank, die den Kauf der San Padre Pio finanzierte, bezog die Bürgschaft vom Bund: 4,3 Millionen Franken. So hoch ist der Betrag, den die Reederei der Bank noch für das Schiff schuldet.
Der Fall vor dem Internationalen Seegerichtshof läuft unterdessen weiter. Am 3. Juli 2020 übergab der Schweizer Botschafter in Deutschland dem Gericht die 946seitige Klageschrift. Nigeria hat nun bis zum 6. Januar 2021 Zeit, darauf zu antworten. Bis der Seegerichtshof definitiv entscheidet, kann es aber noch mehr als ein Jahr dauern.
Die lange Zeit in Nigeria forderte auch vom Schiff ihren Tribut. Die San Padre Pio ist in der Zwischenzeit nicht mehr seetüchtig. Würde Nigeria je seine Abreise erlauben, müsste sie für Reparaturen in ein Trockendock geschleppt werden – die Tanks noch immer gefüllt mit einem ansehnlichen Teil jenes Diesel-Treibstoffs, mit dem die Affäre begann.
Epilog
Die Männer der San Padre Pio arbeiten heute längst wieder auf anderen Schiffen. Alexander Kashernyi hingegen sitzt immer noch in Port Harcourt. Der Schiffsmechaniker, den die Crew des Schweizer Tankers im Gefängnis in Nigeria getroffen hat, harrt seit fast vier Jahren dort aus – während seine Frau in Odessa auf ihn wartet.
Elena Zaizeva ist 45 Jahre alt, sie hat kurzes, platinblondes Haar und eine feste Stimme, die niemals bricht, während sie ihre traurige Geschichte erzählt. Wir treffen sie auf der Geschäftsstelle von Assol, jener Organisation, die auch die Angehörigen der San-Padre-Pio-Crew unterstützte. Assol hat sich zur Aufgabe gemacht, für Familien von Seefahrern da zu sein, die in Schwierigkeiten geraten. Das Zimmer mit dem stumpfen Parkett im Zentrum von Odessa dient Assol als Büro, Konferenzraum und Archiv. In einem wackeligen Regal lagern die Unterlagen der Seeleute, deren Angehörige hier Hilfe suchten. An der Wand hängen Bilder von wiedervereinigten Familien, jene von Elena Zaizeva gehört nicht dazu.
Zaizeva kommt aus einer Seefahrerfamilie und war selbst Schiffsköchin auf Hochseetrawlern und Fabrikschiffen, bevor sie heiratete und eine Tochter bekam. Sie kennt das Leben an Bord aus eigner Erfahrung. Als sie ihren Ehemann am 18. Januar 2017 in Odessa verabschiedet, ist sie sicher, ihn in vier Monaten wiederzusehen. Alexander Kashernyi fährt seit zwanzig Jahren zur See. Er hat sich zum Chefmechaniker hochgearbeitet und soll nun auf dem griechischen Tanker Tecne unter der Flagge Panamas Dienst tun. Sein Flug führt ihn nach Benin, dem westlichen Nachbarland von Nigeria, wo das Schiff vor Anker liegt. Doch die Fahrt kann noch nicht losgehen. Die Tecne sei in sehr schlechtem Zustand, erzählt Kashernyi seiner Frau am Telefon. Drei Monate wird repariert, bevor der pakistanische Kapitän und seine Männer aus Indonesien, Ghana, Benin, Nigeria und der Ukraine am 20. April in See stechen. Als Zaizeva danach nichts mehr von ihrem Mann hört, weiss sie, dass etwas nicht stimmt. Die beiden telefonieren sonst jeden Tag.
Es dauert drei Monate, bis sie vom ukrainischen Konsul in Nigeria erfährt, wo ihr Man steckt: im Gefängnis von Port Harcourt. Die Mannschaft der Tecne wurde, wenige Tage nachdem sie ausgelaufen war, festgenommen. Die Anschuldigungen: Grenzübertritt ohne Bewilligung und illegaler Handel mit Erdöl. Ob dieser Vorwurf berechtigt sei, kann Zaizeva nicht sagen: «Auf einem Schiff weiss nur der Kapitän, was wirklich läuft, die anderen können dafür nicht verantwortlich sein.»
Elena Zaizeva kämpft gegen die Resignation. Immer wieder sagt sie: «Jetzt hoffen wir, dass alles gut kommt.» Das ist mehr Beschwörung als Realität. Was sie in den kurzen Telefongesprächen erfährt, die sie alle drei Monate mit ihrem Mann führen kann, stimmt sie wenig hoffnungsvoll. Die Crew-Mitglieder leiden an Malaria und hatten Lungenentzündungen. Zaizeva fasst das Grauen in diesem Satz zusammen: «Die Männer verlieren ihre Zähne.»
Alexander Kashernyi hat weniger Unterstützung als die Crew der San Padre Pio. Es gibt keinen Reeder, der sich für ihn einsetzt, keinen Flaggenstaat, dessen Juristen sich durch Hunderte Seiten Seerecht arbeiten und schliesslich vor dem Internationalen Seegerichtshof sein Leid schildern. Einzig der ukrainische Konsul bringt ihm hin und wieder Medikamente, Essen und Geld, das seine Frau überweist.
Der Prozess geht schleppend voran, Besprechungen mit den Pflichtverteidigern werden immer wieder verschoben, Verhandlungstermine neu angesetzt. Ende November 2020 fällt das Gericht in Nigeria endlich ein Urteil: Alexander Kashernyi und sechs seiner Mannschaftskollegen werden zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.
Elena wird wohl noch lange auf Alexander warten müssen. Es sind Verlassene wie sie, an die jene berühmte Statue im Hafen von Odessa erinnert: die Frau des Seemannes.
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Einschübe:
Es ist kein Zufall, dass
die Marine ausgerechnet
die San Padre Pio kontrolliert.
Das Essen ist ungeniessbar scharf,
es gibt bloss vergammelte Matratzen
und keine Privatsphäre.
Der Botschafter schreibt: «Diese
delikate Angelegenheit könnte
negative Folgen für unsere bilateralen
Beziehungen haben.»
Von Schüssen aufgeschreckt,
hasten der Erste Offizier und der
Chefingenieur zu den Kojen.
Ein Land, das für seine Berge
bekannt ist, ruft ein Gericht an,
das über die Meere wacht.
Heute liegt das Schiff noch immer
im Bonny Channel; dort, wo Kapitän
Vaskov vor fast drei Jahren seinen
Anker geworfen hatte.