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Die letzte Wiese

von Wolfgang Bauer
Die Zeit vom 28.01.2021

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Die letzte Wiese

Am Rande eines schwäbischen Dorfes wachsen seit Jahrhunderten Blumen und Obstbäume. Jetzt sollen dort Häuser entstehen, denn Wohnraum ist knapp. Aber die Natur ist es auch. Die Geschichte eines Konflikts, wie er sich überall in Deutschland abspielt

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Die Wiese: Der Schnee ist über Nacht geschmolzen. Das Gras, das im Sommer bis zur Hüfte reicht, hoch und wild, fast wie in der Savanne Afrikas, liegt Ende Januar flach und niedergedrückt über dem Grund. Die Wiese ist vollgesogen mit Nässe, jeder Schritt auf ihr schmatzt. 75 Obstbäume stehen hier, die Hälfte wird in den nächsten Jahren sterben, sagen die Gutachter, sie seien zu alt. Das Fallobst des Sommers liegt im Gras, braune, aufgeweichte Äpfel, besprenkelt mit weißen Pilzen. Auf einem Quadratmeter Erde leben mehrere Hundert Tiere. Einer der artenreichsten Lebensräume Mitteleuropas: die Streuobstwiese.

Die Wiese schmiegt sich an den Ortsrand von Gönningen, einem Dorf im Schwäbischen. Sie ist nicht groß. 250 Meter lang, 75 Meter breit, 1,9 Hektar. Die Gemarkung "Hinter Höfen". Im örtlichen Grundbuch verzeichnet als Flurstück 410 bis 442.

"Ein Traum", sagt Elke Rogge mit Blick auf die Wiese. "Wenn die blüht, ist das fast wie ein Märchen." Rogge, 55, eine Musikerin, wohnt in einem von ihr selbst renovierten Bauernhaus, das direkt an die Wiese grenzt. "Wir müssen mehr tun, um sie zu retten", sagt sie. "Ich überlege ständig, was wir noch tun können."

"Ich liebe den Duft und den Gesang der Vögel", sagt Bernd Holwein, 59, von Beruf Krankenpfleger. Das Haus seiner Familie steht ebenfalls an der Obstwiese. Holweins Wangen sind so rot wie die Äpfel, die im Sommer auf den Bäumen der Wiese wachsen. Die Holweins lieben Äpfel, zur Erntezeit umgibt sie ihr säuerlicher Geruch, den sie mitnehmen, wohin immer sie gehen. "Ich habe nicht viel Hoffnung", sagt Bernd Holwein, "sie werden sich die Wiese holen."

"Für mich ist das ein Stück Heimat", sagt Uwe Rist, 54, Entwicklungstechniker im Scheinwerferbau.

"Das ist für das Dorf eine Katastrophe", sagt Birgid Löffler-Dreyer, 66, eine pensionierte Restauratorin. Ihr Bruder, der viele Jahre für die Wiese gekämpft hat, ist vor wenigen Monaten verstorben. Sie will seinen Kampf fortführen, sein Erbe, wie sie sagt.

Rogge, Holwein, Rist und Löffler-Dreyer, sie alle setzen sich in der Bürgerinitiative "Kein Neubaugebiet Hinter Höfen" für den Erhalt der Wiese ein.

Fast jeder Nachbar hat zur Wiese hin ein großes Transparent aufgehängt, befestigt an Zäunen und an Pfosten zwischen den Bäumen. "Hier kein Neubaugebiet!", steht darauf, oder: "Lasst die Wiese leben!"

In dieser Geschichte, die das Dorf Gönningen mit seinen 3800 Einwohnern durch vier Jahreszeiten begleitet, geht es um einen Konflikt, der in Europa immer mehr Orte erfasst. Das Land verschwindet, und das fast wortwörtlich: in den Niederlanden, in Belgien, in Norditalien, in Österreich, der Schweiz, besonders aber in Deutschland.

Es verschwindet unter Beton und Pflastersteinen, unter Straßen, Lagerhallen, Büro- und Fabrikbauten, unter Garagenauffahrten, Wohnhäusern, Terrassen und Steingärten.

Der Boden, der sich in Jahrhunderten gebildet hat, der Humus, wird von Baggern abgetragen und ersetzt durch Schotter und Asphalt. Jede Sekunde werden in Deutschland sieben Quadratmeter Boden verbaut, jedes Jahr eine Fläche, fast so groß wie Frankfurt am Main.

Es ist die Zeit der großen Landnahme. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland nennt es "das größte ungelöste Umweltproblem". Tatsächlich gibt es wenig, was Deutschland so verändert hat wie der Flächenfraß. Orte, die Dörfer waren, verschmolzen zu Kleinstädten, Kleinstädte quollen auf zu Großstädten. So entstand ein Siedlungsbrei, der allen Boden überzieht. Natur findet sich vielerorts nur noch in isolierten Schutzgebieten.
Die Ortsgrenze von Gönningen markiert den äußersten Rand der "Metropolregion Stuttgart", sie ist der fünftgrößte deutsche Ballungsraum. Von Stuttgart aus ist er 50 Kilometer bis hierher gewachsen. Die freien Flächen zwischen den Gemeinden wurden immer enger, Dorf für Dorf fiel in seinen Einzugsbereich, bis er haltmachte, an ebendieser Wiese.

"In dieser Geschichte bin ich doch sicher die Böse", sagt Christel Pahl, die Bürgermeisterin. Es ist der Frühling vergangenen Jahres, schon fast Sommer, die 65-Jährige sitzt in ihrem Amtszimmer an einem schweren Schreibtisch. Eine zierliche Frau, zart ergraute Haare, blaue Brille und ein Blick, der zwischen Strenge und Verletzlichkeit schwankt. Die Dorfverwaltung leitet sie nur nebenberuflich, im Haupterwerb arbeitet Pahl als Sozialpädagogin in der Jugendhilfe.

Das Rathaus mit seinen Arkadenbögen und Ziertürmchen ist ein Relikt aus der Zeit, als das Dorf noch eigenständig war. Anfang der Siebzigerjahre hat sich Gönningen der 15 Kilometer entfernten Großstadt Reutlingen angeschlossen, so wie viele Dörfer in Deutschland damals ihre Unabhängigkeit aufgaben. Kosten sparen, modernisieren, große Einheiten bilden, das war die Vorgabe der Politik. Pahl und ihr elfköpfiger Gemeinderat können nur noch Empfehlungen aussprechen, doch setzt man sich in Reutlingen selten darüber hinweg.

Auf dem Schreibtisch hat Pahl einen großen Plan ausgebreitet, Maßstab 1 : 500. "Wir brauchen Bauplätze", sagt sie, "wir müssen wachsen, sonst schrumpfen wir." Wo heute die Wiese ist, sind 26 Gebäude eingezeichnet, graue Rechtecke mit Quadratmeterzahlen und Winkelangaben, Reihenhäuser, Mehrfamilienhäuser, ein Kindergarten, insgesamt 11.830 Quadratmeter Wohnen. "Wir brauchen Platz für junge Familien", sagt Pahl. Die Jungen wanderten ab, weil sie im Dorf keine Wohnungen fänden. "Damit wir hier unsere Infrastruktur halten können", sagt sie, "müssen wir etwas tun."

Schon vor 50 Jahren sei die Wiese vom Gemeinderat zum "Bauerwartungsland" erklärt worden, aber noch immer ist kein einziges Haus gebaut. "Wenn nichts passiert", sagt die Bürgermeisterin, "dann blutet das Dorf aus, dann verliert es seine Seele."
Die Seele: Gönningen, sagen die alten Gönninger, unterscheide sich von allen anderen Dörfern in der Umgebung. Eingebettet in die Steilhänge der Schwäbischen Alb. Nach drei Richtungen hin steigen bis zu 870 Meter hohe Berge auf; noch in den Sechzigerjahren war Gönningen ein Urlaubsort. Über Gönningen ist wenig Himmel, dafür viel Wald, alte Buchen vor allem, im schmalen Talgrund fließt ein Bach.

Land gab es in Gönningen noch nie im Überfluss. Weil sie von ihren Feldern allein nicht leben konnten, begannen die Einwohner im 17. Jahrhundert mit Blumen- und Gemüsesamen zu handeln. Erst als Hausierer, später als Großhändler reisten sie mit ihrer Ware bis nach Russland und wurden wohlhabend. In Gönningen waren die Fachwerkhäuser größer als in den anderen Dörfern, die Schule war besser, eine Mittelschule mit Französischunterricht, es gab einen Bahnanschluss, 17 Kneipen und eine eigene Zeitung, die viermal in der Woche erschien.

Ende des 19. Jahrhunderts bestand der Ort aus knapp über hundert Häusern, die meisten von ihnen eng um die Kirche gedrängt. In den Zwanzigerjahren zogen die Vermögenderen aus dem Ortskern an die Hänge. In den Fünfzigern fanden kriegsvertriebene Donauschwaben auf Gönningens Äckern billiges Bauland und ließen sich in Reihenhäusern nieder. Von da an brachte jedes Jahrzehnt ein neues Baugebiet. Immer tiefer wuchs das Dorf in die Felder des Umlands hinein. Große Häuser mit großen Gärten entstanden. Die Bungalows kamen, dann die Fertigbauhäuser. Trugen die Straßen des alten Dorfs Namen wie Kirchstraße, Grabenstraße, Im Ländle, die sich durch jahrhundertelangen Gebrauch herausgeformt hatten, taufte man die Straßen der neuen Baugebiete Narzissenweg und Krokusweg.

Das Dorf wuchs nach außen und verdorrte nach innen. Die letzte Kneipe hat vor zwei Jahren geschlossen. Die Postfiliale ist zu, das Schreibwarengeschäft verlassen, nur noch einen Lebensmittelladen gibt es, und auch um den hat die Bürgermeisterin Pahl Angst. Der Ortskern ist unbelebt, geprägt von verfallenden Fachwerkdenkmälern, durchlärmt von einer Landesstraße. Das Schulgebäude, gleich neben dem Rathaus, einst der Stolz des Ortes, steht leer und soll abgerissen werden.

Was von der Seele des Dorfes übrig ist: ein Raum mit Vitrinen im ersten Stock des Rathauses, den sie Museum nennen.

"Wir brauchen ein neues Banner, etwas mit Wumms", sagt Uwe Rist in die Runde der Bürgerinitiative "Kein Neubaugebiet Hinter Höfen", als diese sich zu Beginn des Sommers nach langer Corona-Pause wieder versammelt. 17 Männer und Frauen, ein Kind, die meisten in kurzen Hosen und Shirts, sitzen auf Bierbänken und Klappstühlen. Uwe Rist, Halbglatze und Kinnbärtchen, das schon leicht ins Graue dreht, ist das Gegenbild eines Revoluzzers. Jäger, Mitglied des Schützenvereins. Er ist einer der Sprecher der Initiative, auch wenn er nicht immer den richtigen Ton trifft.

Einige der Protestplakate, die sie an der Wiese befestigt haben, sind kaum mehr lesbar, manche hängen dort bereits seit Jahren. Sie haben schon so viele Slogans verwendet, dass ihnen für das neue Banner keine Aufschrift mehr einfallen will. "Spazieren statt Betonieren?", fragt Elke Rogge unsicher in den Sitzkreis.
Sie beraten an diesem Tag über das neue Angebot der Bürgermeisterin, sich mit dem Gemeinderat und ihr zu einer öffentlichen Aussprache zu treffen. Noch ist das Baugebiet nicht genehmigt, noch hat nur der Gemeinderat von Gönningen zugestimmt, nicht der Stadtrat in Reutlingen. Der wird das neue Wohngebiet vermutlich nicht verhindern. Aber Pahl will sich nicht vorwerfen lassen, die Diskussion im Ort zu ersticken. "Das ist mehr, als wir bisher erreicht haben", sagt jemand in der Runde der Bürgerinitiative. Bisher hatte ihnen Pahl lediglich eingeräumt, bei den Sitzungen des Gemeinderats Fragen zu stellen, eine pro Person.

Die Bürgerinitiative ist fast so alt wie die Pläne, die Wiese zu bebauen. Aber von den Anfängen ist kaum einer mehr dabei, manche gaben auf, andere zogen weg. Was sie schon alles versucht haben: Simulationen, um die Landschaftsverschandelung zu visualisieren, Pressetermine, eine Unterschriftenliste mit immerhin 300 Namen. Sie baten Experten, die Artenvielfalt auf der Wiese zu bestimmen. Auf Druck der Initiative hat die Verwaltung sechs Mess-Sonden ins Erdreich getrieben, um die Fließrichtung des Grundwassers zu erkunden. Die Anwohner fürchten bei einer Überbauung der Wiese Überflutungen und volle Keller.

Die Natur, die das Dorf umgibt, ist sichtbar aus dem Gleichgewicht geraten. Es regnet viel weniger, aber wenn, dann heftiger. Erdrutsche gefährden die Hänge, fast jedes Jahr gehen sie ins Tal nieder. Im Sommer 2013 kam es fast zu einer Katastrophe, als auf der Rückseite des Gönninger Hausbergs, des Roßbergs, der Hang abbrach und eine Außensiedlung mit 15 Häusern und 29 Bewohnern unter sich zu begraben drohte. Nur mit Mitteln aus dem Katastrophenfonds des Landes konnte der Berg stabilisiert und die Siedlung wieder bewohnbar gemacht werden.

Auf dem Roßberg selbst, mit 869 Metern der höchste Gipfel in der Gegend, mussten im vergangenen Jahr fast alle alten Bäume gefällt werden. Sie waren krank, ein Pilz, die extreme Trockenheit. Die Kuppe des Berges ist jetzt nackt.

Der kleine Bach, der vom Roßberg, gleich hinter der Wiese, ins Dorf hinunterläuft, wird immer häufiger zum reißenden Strom und überspült die Straße. Viele alte Häuser im Ort zeigen Risse, die Steine trocknen aus, auch das ein Zeichen des Klimawandels. Das Fundament der Kirche senkt sich, ihr Turm hat sich um einige Zentimeter geneigt.

Und jetzt noch der Verlust der Wiese.

Sie ist das letzte Stück alter Ortsrand, so wie er seit Jahrhunderten war. Während die neuen Wohngebiete hart wie ein Kantenschlag enden, geht hier das Dorf sanft ins Umland über. Es klingt aus, erst mit Hausgärten, dann mit Obstbäumen. Von allen Seiten war das Dorf früher von solchen Streuobstwiesen umgeben, sie lieferten Nahrung und hielten den Wind ab. Wie in Watte geborgen lag das Dorf in ihnen. Die Wiese ist die letzte Erinnerung an eine Heimat, die es nicht mehr gibt.

"Als neulich wieder ein Gutachter auf der Wiese stand", erzählt ein Mitglied der Bürgerinitiative bei der Versammlung, "da habe ich ihn gefragt: Welche Art müsste man finden, um es zu verhindern? Der Gutachter hat mir gesagt: Einen Seeadler."

Die Politik in Deutschland bremst den Bauboom nicht, sie heizt ihn an. Noch weit vor dem Straßenbau ist der Wohnungsbau der größte Landschaftsfresser. Die große Koalition in Berlin will Wohnraum schaffen. 1,5 Millionen neue Wohnungen in der laufenden Legislaturperiode waren das Ziel, etwas mehr als die Hälfte wurde bisher erreicht. "Eine der wichtigsten sozialen Fragen unserer Zeit", heißt es über den Wohnungsneubau im Koalitionsvertrag von Union und SPD.

Die Mieten in den Großstädten sind in den vergangenen Jahren explodiert. 6,4 Millionen Menschen leben in Deutschland einer Studie der EU zufolge in zu kleinen Unterkünften, so viele wie seit vielen Jahren nicht mehr. Die Bundesregierung hat deshalb das Baugesetz um einen Absatz ergänzt, der es den Kommunen erleichtert, Neubaugebiete auszuweisen. Der Paragraf 13b. Der "Flächenfraßparagraf", wie die Naturschutzverbände ihn nennen.

Auch die Wiese in Gönningen soll mithilfe des 13b zu Bauland werden. Dadurch entfallen fast alle Umweltauflagen. In Baden-Württemberg entstanden in den vergangenen Jahren 80 Prozent der Neubaugebiete, die auf Wiesen und Äckern abgesteckt wurden, auf Grundlage des 13b.

Diese Woche wird im Bundestag darüber diskutiert, ob der Paragraf für zwei weitere Jahre gelten soll, eine Mehrheit dafür scheint sicher, obwohl der 13b nicht das bewirkt hat, was die Koalition sich erhofft hatte: soziales Wohnen. Achtzig Prozent der Häuser, die mithilfe der Gesetzesneuerung gebaut werden, sind Einfamilienhäuser – Wohnraum für Besserverdienende.

Eine Handbreit Erde nur, sagt Gönningens letzter Bauer, Fritz Weiß, 80 Jahre alt, dann stoße man unter dem Gras schon auf den Hangschotter. Ein karges Land. Es ist Mitte Juli. Weiß hat die Wiese vor wenigen Tagen abgemäht. Einen Hänger Heu, das seine Kühe fressen.
Alle im Dorf, die ihn kennen, das sind allerdings nicht mehr viele, sprechen von Weiß nur als: "der Fritz". Zweimal im Jahr mäht er mit seinem Traktor die Wiese, und jedes Mal denkt er, es ist das letzte Mal.

Das Grundstück, auf dem die Wiese wächst, hat viele Eigentümer, den meisten gehören jeweils nur ein paar Quadratmeter. Fritz Weiß aber hat bis vor Kurzem den größten Teil des geplanten Baugebiets besessen, dann hat er ihn seiner Nichte vermacht.

Noch ist nicht klar, ob sie ihr Grundstück für das Baugebiet hergeben wird, aber alle gehen davon aus. Sie ist Arzthelferin, wann wird sie noch einmal die Gelegenheit haben, an so viel Geld zu kommen? Ein Stück Land kostet hier in der Gegend zwischen 2,50 und 3,50 Euro pro Quadratmeter. Sobald es zu Bauland erklärt wird, steigt der Preis auf bis zu 330 Euro.

"Ich weiß nicht, wo das mal hinführen soll", sagt Fritz Weiß. "Wo sollen unsere Nahrungsmittel herkommen, wenn wir alles Land überbauen?" Aber er halte sich da heraus, das sollten die Jüngeren entscheiden, und jetzt ist es ja auch schon halb sechs, Zeit zum Melken.

Schon lange drängen das Umweltbundesamt und der Umwelt-Sachverständigenrat der Bundesregierung, darauf, dem Siedlungswachstum Grenzen zu setzen. Zahlreiche Gutachten und Studien stützen ihre Position: Weil immer mehr Boden verbaut wird, müssen die Bauern in Deutschland mit immer weniger Land auskommen, weshalb sie auf den verbleibenden Feldern immer mehr Pflanzengift versprühen. Landwirtschaftliche Flächen sind kaum mehr nennenswerter Lebensraum. Siedlungswüste stößt auf Agrarwüste, dazwischen Wälder, die häufig nicht mehr sind als Baum-Äcker. Die Insekten sterben. Um 70 Prozent ist die Zahl der Fluginsekten in den vergangenen drei Jahrzehnten zurückgegangen. Die Vögel sterben. Die Bestände von Braunkehlchen, Kiebitzen, Rebhühnern, Feldlerchen sind um bis zu 80 Prozent gesunken. Selbst Allerweltsarten wie Amseln und Spatzen ziehen sich aus der Landschaft zurück. 70 Prozent aller natürlichen Lebensräume in der Bundesrepublik gelten als gefährdet. In keinem anderen Land Europas sieht der World Wildlife Fund die Natur so unter Druck wie in Deutschland.

Als nach der Wiedervereinigung die Zersiedelung noch an Tempo gewann und manchmal an einem einzigen Tag bis zu 130 Hektar überbaut wurden, beschloss die Bundesregierung, den Flächenverbrauch einzudämmen. Bis 2020, so das Ziel, sollte er auf 30 Hektar pro Tag sinken. Tatsächlich hat sich das Wachstum der Neubaugebiete verlangsamt. Was allerdings nicht an der Politik lag. Die Baukonjunktur hat sich zwischenzeitlich abgeschwächt, zudem wurde die statistische Erfassung geändert, was die Zahlen drückt. Trotzdem werden auch heute noch jeden Tag im Durchschnitt 60 Hektar Landschaft vernichtet.

Die Bundesregierung nahm dies nicht zum Anlass, neue Maßnahmen zum schonenderen Umgang mit der Natur zu beschließen, sondern verschob schlicht das 30-Hektar-Ziel auf das Jahr 2030. Wie sie den Flächenverbrauch bis dahin reduzieren will, lässt sie offen. Die große Politik scheint derzeit genauso hilflos wie die kleine in Gönningen.

Um endlich eine neue Bleibe zu finden, hat Berta Schüle, 37, sich, ihren Mann und die Kinder fotografieren lassen – auf der Wiese, die bebaut werden soll. Das Familienfoto hat sie auf ein Plakat gedruckt und es im Dorf aufgehängt, in den Arztpraxen, bei der Apotheke, beim Getränkehändler. Hundert Plakate. Wohnung gesucht!

Ungewohnt ruhig ist es an diesem Vormittag im August in dem Haus, in dem Schüle mit ihrem Mann Mohamed Ben Yahya zur Miete wohnt, in derselben Straße wie Elke Rogge und die Familien Holwein und Rist von der Bürgerinitiative. Drei kleine Kinder haben sie. Eines ist in der Schule, eines bei den Großeltern, "der Kleinste schläft!", sagt Schüle. Erst vor einem Jahr sind sie hier eingezogen. Alles schien perfekt, ein ganzes Haus für sie allein, und bezahlbar. Yahya leitet als Sozialarbeiter die Asylunterkunft im Dorf, ein Containerlager.

Nur drei Monate später, Schüle war gerade mit dem dritten Kind schwanger, eröffnete ihnen der Vermieter, dass er wegen Eigenbedarf kündigen müsse. Seitdem sind Schüle und Yahya auf der Suche. Sie wollen in Gönningen bleiben, sie haben so lange auf den Kindergartenplatz gewartet, den Ältesten wollen sie nicht aus der Schule nehmen, Yahyas Arbeitsstelle ist gleich um die Ecke.
Sie haben das Plakat aufgehängt, im Internet annonciert, haben den Pfarrer angesprochen, die Mitglieder ihres Bibelkreises, die Erzieherinnen des Kindergartens, die Bürgermeisterin Pahl. Keiner konnte helfen.

Schüle und Yahya sagen, sie hielten sich aus dem Streit um die Wiese heraus. Aber natürlich würden sie dort gerne wohnen, so wie auch überall sonst im Dorf.

Der Vermieter zeigt sich bisher kulant, aber viel länger will er nicht warten. "Wir wollen einfach nur ein Nest für uns, wo wir es uns gemütlich machen können", sagt Berta Schüle. "Man lässt uns einfach nicht."

Im Hochsommer eskaliert der Konflikt um die Wiese. Uwe Rist, der Sprecher der Bürgerinitiative, greift in einem Leserbrief den Stellvertretenden Bürgermeister an. Der streitet seit Jahren leidenschaftlich für das Neubaugebiet, ist passionierter Imker und wurde kurz zuvor mit einem Umweltpreis des örtlichen Energieversorgers ausgezeichnet. Rist beklagt, es sei der Falsche geehrt worden. "Er ist mitverantwortlich für die Vernichtung von über 100 Bäumen, 1,8 ha ökologisch völlig intaktem Gebiet, Heimat von unzähligen Tieren, Insekten, Bienen." Rist fragt: "Liebt er unser Gönningen und unsere schöne Landschaft wirklich?"

Das ist für Gönningen, wo ständig übereinander gelästert wird, aber fast nie öffentlich, ungewöhnlich aggressiv. Viele im Dorf sind entsetzt. Der Stellvertretende Bürgermeister kann nächtelang nicht schlafen und erwägt seinen kompletten Rückzug aus dem Gemeindeleben. Wenig später beobachtet ein Mitglied der Bürgerinitiative, wie ein Unbekannter in den Garten der Familie Holwein eindringt und ein Protestplakat abreißt. Holweins erstatten Anzeige. Der Streit um die Wiese droht das Dorf dauerhaft zu entzweien.

Bauen war in der Menschheitsgeschichte fast immer ein Zeichen des Fortschritts. Bauen ist Wohlstand, Bauen ist Macht. Durch Bauen hofften die Herrscher der Antike unsterblich zu werden. Mit Bauen löste man Probleme. Nie war es anders. Nie war es wie jetzt. Immer mehr Menschen empfinden Bauen als Bedrohung, sehen im Bauen etwas Selbstzerstörerisches.

Große Bauprojekte sind in Deutschland kaum mehr durchsetzbar. Im Hambacher Forst in Nordrhein-Westfalen ketteten sich Aktivisten an Bäume an, mehrere Menschen wurden verletzt, einer starb. Dort ging es um Braunkohle. Im Dannenröder Forst in Hessen geht es um den Bau einer Autobahn, in Grünheide in Brandenburg um die Errichtung der Tesla-Autofabrik. In Bayern ist das Unbehagen mittlerweile so groß, dass der Flächenverbrauch die Landtagswahlen 2018 dominierte. Zum ersten Mal entschied sich damals eine Partei, die Landschaftszersiedelung zu ihrem wichtigsten Wahlkampfthema zu machen, die Grünen. Zur Überraschung der CSU gewannen sie dadurch auch in konservativen Wahlkreisen Stimmen dazu, landesweit holten sie 17,5 Prozent.

Auch in Dörfern, in denen Neubaugebiete stets begrüßt wurden, organisieren sich jetzt Anwohner, um sie zu verhindern. Je knapper der Raum in einer Region, desto höher die Zahl der Bürgerinitiativen. In der Stadt Reutlingen, zu der Gönningen gehört, provoziert fast jede neue Planung die Gründung einer neuen Bürgerinitiative. Fünf von ihnen existieren mittlerweile, vor zwei Jahren haben sie sich zu einem eigenen Dachverband zusammengeschlossen.

Es ist zehn Jahre her, da gewährte die Verwaltung in Gönningen der Wiese eine Gnadenfrist: Sie fror das Bebauungsplanverfahren ein. Die Musikerin Elke Rogge, der Entwicklungstechniker Uwe Rist, der mittlerweile verstorbene Bruder von Birgid Löffler-Dreyer, sie alle waren mit ihren Fotoapparaten durch den Ort gewandert und hatten erkundet, wo Häuser leer standen, wo Grundstücke in erschlossenen Baugebieten unbebaut waren, wo es freie Plätze im Ort gab, die sich mit Wohnraum füllen ließen. Sie kamen auf insgesamt 85.029 Quadratmeter, 8,5 ungenutzte Hektar.

Warum die Wiese opfern, wenn es so viel freien Raum im Dorf gebe, fragten sie. Die Verwaltung schrieb im Rahmen einer städtischen "Baulückenbörse" die Besitzer der unbebauten Flächen an. Das brachte einen gewissen Erfolg, einige Baulücken wurden bebaut – es entstanden neue Wohnungen. Doch jetzt ist auch dieser Platz aufgebraucht.

"Wir brauchen die Wiese", sagt Bürgermeisterin Pahl.
Die Natur in Deutschland wird zwischen zwei Widersprüchen zermalmt. Von 1993 bis 2018 stieg die Einwohnerzahl in der Bundesrepublik um etwa zwei Millionen. Im selben Zeitraum wurden sieben Millionen Wohnungen gebaut. Trotzdem besteht Wohnungsnot. Denn das Problem ist nicht, dass es zu wenige Wohnungen gibt. Es gibt eher zu viele, aber an den falschen Orten.

In den vergangenen Jahren zogen die Menschen zu Hunderttausenden vom Land in die Großstädte. Die Kommunen, die sie verließen, reagierten auf den Einwohnerschwund häufig mit: der Ausweisung neuer Baugebiete. In Gemeinden mit zurückgehender Bevölkerung fallen die Neubaugebiete oft am üppigsten aus. Mit billigem Baugrund wollen die Kommunen junge Familien im Ort halten. Statt platzsparender Mehrfamilienhäuser bieten sie ihnen großzügige Reihen- oder Einfamilienhäuser mit eigenem Garten an. Manchmal geht das Kalkül auf, häufig jedoch nicht. Zu viele Baugebiete konkurrieren um eine schwindende Zahl von Menschen.
In Gönningen schrumpft die Bevölkerung nicht, aber sie altert. Es gibt Straßenzüge, in denen fast nur noch über 80-Jährige wohnen, meistens Frauen, meistens alleinstehend – in viel zu großen Häusern. Ein weiterer Grund, warum die Siedlungen rasant in die Landschaft hineinwachsen: Der Einzelne füllt mehr Raum aus. 1960 lebte ein Bundesbürger im Schnitt auf 19 Quadratmetern Wohnfläche, 1998 waren es 39 Quadratmeter, 2019 schon 47 Quadratmeter.

Die Single-Haushalte haben den Flächenbedarf explodieren lassen. Die größte Quadratmeterzahl pro Kopf bewohnen die Alten, als Mieter im Schnitt 59 Quadratmeter, als Eigentümer 97 Quadratmeter. In Gönningen sind sie meist Eigentümer.

Beide Lager im Dorf, die Befürworter des Neubaugebiets und seine Gegner, wollen den Ort retten, jeder auf seine Weise. Ideen gibt es viele. Etwa die, eine Art Agentur einzurichten, die auf die Alten zugeht, die wohnungssuchende Junge und überforderte Senioren zusammenbringt, die beim Hausumbau und im Alltag hilft. Doch wer soll das organisieren?

Eine andere mögliche Lösung: Die Gemeinde kauft leer stehende Häuser auf und renoviert sie. Doch dazu ist Reutlingen nicht bereit. Zu teuer, zu aufwendig.

Christel Pahl, die Bürgermeisterin, schlägt den Bau von Mehrgenerationen-Häusern vor – auf der Wiese.

Für manche Regionen in Deutschland kommen solche Überlegungen längst zu spät. Metropolen wie Hamburg, München und Köln sind bis weit in die Peripherie hinaus gewachsen. Auch in Städten wie Karlsruhe ist bereits fast das gesamte zu bebauende Umland versiegelt. In der Rheinebene wurden in den letzten Jahren manchenorts 80 Prozent aller Ackerflächen neuen Siedlungen und Gewerbegebieten geopfert.

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen empfiehlt in dieser Notlage eine Teilentmachtung der Kommunen. Deutschland ist eines der wenigen Länder in Europa, die Städten und Gemeinden bei der Ausweisung neuer Baugebiete fast alleinige Verantwortung einräumen. Die Regierungsberater haben ein Modell entwickelt, das sie "Flächenkreislaufwirtschaft" nennen.

Funktionieren würde es so: Die Bundesregierung entscheidet jedes Jahr zentral, wie viel Landschaft überbaut werden darf, und bricht diese Menge dann auf die Bundesländer herunter. Gemeinden müssen ihre Baugebiete von der jeweiligen Landesregierung genehmigen lassen. Um das System elastisch zu machen, schlagen die Berater die Einführung von Flächenzertifikaten vor: Die Länder verteilen Zertifikate nach einem Punktesystem an die Kommunen, die untereinander mit ihnen handeln können. Wer nicht bauen will, kann seine Zertifikate verkaufen. Das Umweltbundesamt hat den Flächenhandel mit über 60 Kommunen in Planspielen erfolgreich simuliert.

Spätestens im Jahr 2050 aber, so die Regierungsberater, müsse mit Neubaugebieten weitgehend Schluss sein. Denn so komplex das Problem in den Details, so simpel ist die Mathematik: Fläche ist endlich. Deutschland geht das Land aus.

In der Mitte Berlins, 550 Kilometer von der Gönninger Wiese entfernt, sitzt Emmi Zeulner in ihrem Bundestagsbüro und sagt: "Wir können nicht von heute auf morgen aufhören zu bauen." Die 33-jährige CSU-Abgeordnete ist eine der wichtigsten Baupolitikerinnen der großen Koalition, Obfrau im Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen. An der Wand in ihrem Büro hängt eine großformatige Karte ihres Wahlkreises, Kulmbach in Oberfranken, viel Braun und Grün ist darauf und nur wenig Rot. Bei Zeulner zu Hause gibt es noch Land genug. Natürlich sei auch sie dafür, den Flächenverbrauch zu beenden, aber noch nicht jetzt. Der Schlüssel zu den Problemen der Baupolitik ist für Zeulner die Strukturpolitik. Um die Ballungszentren zu entlasten, müsse man die Infrastruktur des ländlichen Raumes stärken, in der Summe: noch mehr bauen. Sie argumentiert so, wie es Baupolitiker seit Jahrzehnten tun.

Das Recht des Bürgers, so zu bauen, wie er will, sagt Zeulner, dürfe nicht eingeschränkt werden. Auch Einfamilienhäuser sollten weiter gebaut werden. "Das ist der Urtraum des Menschen in Deutschland: die eigenen vier Wände, ein Stück Land, das nur ihm gehört."

In Gönningen ist es Herbst geworden; ein langer, viel zu heißer Sommer liegt hinter den Dorfbewohnern. Für Ende September hat Bürgermeisterin Pahl zur allgemeinen öffentlichen Aussprache zur Zukunft der Wiese geladen. "Das kann leicht außer Kontrolle geraten", sagt einer der Gönninger Gemeinderäte im Vorfeld und bittet, ihn nicht namentlich zu zitieren. Die Nervosität in beiden Lagern ist groß.

"Der Abend ist brutal wichtig für uns", sagt Elke Rogge von der Bürgerinitiative. Einen ganzen Tag lang hat sie ihre Rede ausgearbeitet, einen Vortrag von 20 Seiten. Das Ehepaar Holwein hat einige Tage zuvor bis in den frühen Morgen am Esszimmertisch gesessen und über die Wiese und das Leben an sich diskutiert. "Wenn es anders ausgeht, als man es sich wünscht, darf man nicht daran zerbrechen", sagt Frau Holwein mit Blick auf ihren Mann.

98 Personen kommen zur Aussprache in die Gemeindehalle, mehr lässt die Corona-Verordnung nicht zu. Pahl formuliert einleitende Worte: "Worum geht es heute? Es geht um das Baugebiet Hinter Höfen. Die einen sind dagegen, die anderen sagen, wann geht es endlich los?"
Dann redet der Referent des Reutlinger Stadtplanungsamts, ein Techniker, der nur selten von seinem Laptop aufsieht. Er spricht von einer "verträglichen Bebauung", weil in der Planung die Gebäudegrößen von innen nach außen abnähmen. Um den Verlust an Natur auszugleichen, würden in der Umgebung Nisthilfen aufgehängt. Die Obstbäume auf der Wiese – größtenteils nicht erhaltenswert. Das Grundwasser – kein erhöhtes Risiko für Überschwemmungen. Zum ersten Mal informiert die Verwaltung die Gönninger über den Ausgang der Gutachten.

"Es ist noch nichts entschieden", beschwört der Leiter des Reutlinger Stadtplanungsamts den Saal, als langsam klar wird, dass die Mehrheit der Anwesenden für den Erhalt der Wiese ist. Ein Bürger nach dem anderen tritt vor das Saalmikrofon.

"Dieses Neubaugebiet ist für alle von uns ein Schlag ins Gesicht."

"Das ist ein Fremdkörper."

"Gönningen wird danach ein Vorort wie jeder andere sein."

"Es leben da sogar Feuersalamander. Ich habe einen auf Video."

Immer wieder gibt es Szenenapplaus für die Gegner.

"Der Zuzug ist einfach notwendig", verteidigt Pahl die Pläne und damit auch sich selbst.

Dann melden sich nacheinander eine Frau und zwei Männer, alle drei in den Zwanzigern, einer ist der Sohn eines Gemeinderates, sie sagen, sie benötigten Wohnungen und das Baugebiet.

"Die, die ich hier gehört habe, haben alle schon ihre Einfamilienhäuser."

"Es gibt die jüngere Generation, die gerne nachrücken will."

Niemand hatte sich von diesem Abend eine Einigung versprochen, aber alle hoffen, dass der Ort wieder etwas zur Ruhe kommt.

Zur Verabschiedung sagt Pahl: "Der Abend ist sehr positiv verlaufen", und: "Danke fürs Kommen."

In getrennten Grüppchen verlassen Gegner und Befürworter der Bebauung die Halle. Die elf Mitglieder des Gemeinderats gehen Richtung Rathaus, wo sie letzte Weinbestände von einer Geburtstagsfeier neulich vermuten, die Mitglieder der Bürgerinitiative besprechen sich noch beim Ehepaar Rist.

"Die drei Jungen", sagt Elke Rogge später, "die hatten natürlich schon auch recht. Wir haben unsere Häuser."

Nachdenklich zeigt sich auch einer der Gemeinderäte, der im Ort das alte Haus seines Großvaters liebevoll umgebaut hat. "Ich weiß, dass ich eigentlich eine Scheißhaltung habe", sagt er. "Ich will das Wohngebiet, weil es gut für Gönningen ist, obwohl ich weiß, dass es schlecht ist fürs Weltklima."
Die Überraschung dann im Dezember, zwei Monate später: Die Stadt Reutlingen zögert mit der Genehmigung des Neubaugebiets. "Wir können so nicht weitermachen mit dem Flächenverbrauch", erklärt Stefan Dvorak, Leiter des Stadtplanungsamtes, den der Abend in Gönningen ebenfalls noch lange beschäftigt hat, später in seinem Büro. "Der Tag wird kommen, an dem wir uns umstellen müssen."
Dvorak hat einen Deal im Kopf: Gönningen stimmt zu, das Bauprojekt auf Eis zu legen, dafür setzt Dvorak seinen Mitarbeiter, der bisher an den Plänen für das Neubaugebiet saß, für die Sanierung alter Häuser und die Nutzung von Baulücken im Dorf ein. Ähnlich wie es damals die Bürgerinitiative betrieben hatte. Die Reserven seien noch lange nicht ausgeschöpft, sagt Dvorak. "Da ist eventuell mehr Wohnraum zu gewinnen als über das kleine Baugebiet."

Dvorak will das mit der Bürgermeisterin und dem Gemeinderat diskutieren. Das geplante Treffen vor Weihnachten aber scheitert an den verschärften Corona-Auflagen, auch der Ersatztermin im Januar kommt nicht zustande. So bleibt unklar, ob sich die Gönninger Lokalpolitiker auf den Vorschlag einlassen werden. So viele Jahre haben sie für die Bebauung gekämpft. Bei der Entscheidung über die Zukunft der Wiese geht es längst nicht mehr nur um Wohnraum, sondern auch um die schlichte Frage: Wer hat die Macht im Dorf?

Kurz vor Drucklegung dieser [Medium]-Ausgabe fällt wieder Schnee auf der Wiese. Er schluckt allen Schall. Nur das Geräusch einer Motorsäge ist zu hören. In wenigen Monaten aber wird die Wiese wieder erblühen, so wie seit Jahrhunderten, in Blau, in Gelb, in Weiß, in Rot. Und Fritz Weiß, der letzte Bauer, wird sie, wenn er es gesundheitlich noch schafft, wieder mähen.

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Einschub:

Die Wiese am Ortsrand ist die letzte Erinnerung an eine Heimat, die es nicht mehr gibt

Das Verschwinden der Landschaft beschäftigt [AutorIn] schon lange. Er/Sie ist in Niedersachsen und Bayern aufgewachsen, und überall sind die Äcker und Wiesen seiner/ihrer Kindheit von Straßen und Siedlungen überbaut. Für diese Recherche besuchte er/sie Dutzende Male das Dorf Gönningen. Als Literatur sei empfohlen das provokante Buch von Daniel Fuhrhop: »Verbietet das Bauen! Streitschrift gegen Spekulation, Abriss und Flächenfraß«

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Bildunterschriften:

Blumen auf der Wiese »Hinter Höfen« im August 2020.

Die Gönninger. Von links nach rechts: Christel Pahl, Bürgermeisterin. Familie Holwein, deren Grundstück an die Wiese grenzt. Fritz Weiß, der letzte Bauer des Dorfes. Elke Rogge, auch sie wohnt neben der Wiese

Die Wiese im Hochsommer.

Der Bebauungsplan für das Neubaugebiet