Am anderen Ende der Leitung
von Max Rauner
Zeit Wissen vom 20.04.2021
Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.
Am anderen Ende der Leitung
Vorspann: Alle motzen über Callcenter. Und was denken die Callcenter über uns? Eine Bitte um Rückruf
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Wenn Sie sofort einen Mitorganisator der Corona-Hotline sprechen möchten, gehen Sie zu 1. Wie Callcenter auf pöbelnde Anrufer reagieren, lesen Sie unter 2. Wie ausländische Callcenter auf die Deutschen blicken, erfahren Sie unter 3. Über Sexismus lesen Sie unter 4, über Burn-out unter 5. Den Betriebsrat erreichen Sie unter 6, den Chef unter 7. Für die Moral der Geschichte springen Sie zu 8. Wollen Sie [AutorIn] beschimpfen, schreiben Sie an [E-Mail AutorIn]. Sie möchten seinen Vorgesetzten sprechen? [Telefonnummer]. Wir leiten Sie jetzt weiter zum Bundesinstitut für Berufsbildung.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat die Deutschen befragt, wie hoch sie 400 unterschiedliche Berufe ansehen. In der untersten Schublade landeten (m/w/d): Straßenbauer, Hausmeister, Staplerfahrer, Kurierfahrer, Gartenbauhelfer, Küchenhilfen, Landwirtschaftshelfer, Platzanweiser und Kartenkontrolleure, Zimmermädchen und Roomboys, Schornsteinfeger und Kaminkehrer, Reinigungskräfte, Aktienhändler, Versicherungsmakler, Haushaltshilfen, Telefonisten, Callcenter-Agenten, Spielhallenaufseher und noch ein paar mehr.
In einem dieser Jobs arbeitet Felix Licht. Seine Branche wird schon mal mit "moderner Sklaverei" verglichen. Niemand möchte ein Sklave sein. Wenn Felix Licht gefragt wird, was er den ganzen Tag so macht, sagt er: "Stell dir einen Flughafen vor."
Er sagt: "Da gibt es einen Tower. Und ich sitze mit meinem Team ganz, ganz oben und habe den Blick über den Luftraum und über das, was auf dem Airport passiert. Und unsere Aufgabe ist es, dass der Passagier zur richtigen Zeit am richtigen Gate ist, um in den richtigen Flieger zu steigen und zur richtigen Zeit abzufliegen und zu landen."
Felix Licht arbeitet in einem Callcenter in Dresden. Sein Arbeitgeber heißt Gevekom, es ist der siebtgrößte Callcenter-Betreiber Deutschlands, 1300 Mitarbeiter, das sind 400 mehr als vor der Pandemie, Firmenmotto: Your better place to work.
Die Passagiere in Felix Lichts Flughafenvergleich sind wir Anrufer. Jeden Tag 50.000 an den neun Standorten seiner Firma. Die Flugzeuge sind unsere Anliegen: einen Mobilfunkvertrag kündigen, einen Impftermin vereinbaren, ein Paar Schuhe umtauschen, über die Internetstörung schimpfen. Die Leute im Tower heißen Callcenter-Agents (ausgesprochen wie das englische agents, hat nichts mit Spionage zu tun). Und die Fluggesellschaften, das sind die Auftraggeber. Zalando, Thalia, Rossmann, myToys, Pyur, Bett1, GLS, HelloFresh.
Wer bei den Hotlines und Shops dieser Firmen anruft, landet je nach Traffic bei einem Callcenter-Agent der Gevekom: in Chemnitz, Berlin, Leipzig, Frankfurt am Main, Neubrandenburg, Belgrad, Palma de Mallorca oder Varna (Bulgarien). Auch die Deutsche Bahn und der ADAC nutzen die Dienste des Unternehmens. Außerdem ein Edelkaufhaus und andere, die nicht genannt werden möchten. Vielleicht schämen sie sich, denn die Beziehung der Deutschen zu Callcentern ist gestört.
Hierzulande arbeiten eine halbe Million Menschen in rund 7000 internen und externen Callcentern, schätzt die Gewerkschaft ver.di. Diese Menschen versuchen uns weiterzuhelfen. Sie sollen freundlich bleiben, wenn jemand brüllt. Sie telefonieren acht Stunden am Tag mit wenigen Pausen. Sie sollen unsere Probleme lösen und bekommen dabei selbst Probleme. Im Fehlzeiten-Report der AOK belegen sie den Spitzenplatz in der Diagnose "Psychische und Verhaltensstörungen".
Große Konzerne betreiben oft eigene Callcenter, betrauen aber auch externe Callcenter mit dem Kundenservice. Ein Drittel des Callcenter-Umsatzes hat die deutsche Wirtschaft an externe Firmen ausgelagert, schätzt die Unternehmensberatung pwc. Dort arbeiten etwa 140.000 Menschen. Ihre Arbeitsbedingungen sind besonders prekär. Sie verdienen nur den Mindestlohn oder ein bisschen mehr. Die Hälfte braucht einen Zweitjob, ein Viertel bezieht zusätzlich Sozialleistungen, sagt ver.di. Wir reden ständig mit ihnen, aber wir wissen nicht, wer sie sind, was sie denken, wie es ihnen geht. Wir wissen nichts über sie, aber sie wissen eine Menge über uns. Für diesen Text haben wir um Rückruf gebeten.
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Felix Licht, geboren 1986, ist einer von denen, die die Corona-Hotline organisieren. An einem Donnerstag im Februar meldet er sich aus dem Homeoffice. Früher wollte er mal Lehrer werden, erzählt er, Deutsch und Geschichte, aber im Studium brauchte er Geld. Er jobbte in einem Callcenter und blieb dort hängen. Damals, sagt Licht, haben ihn die Anrufer immer spüren lassen: Ich sitze in einem Ost-Callcenter. Ostdeutschland war Callcenter-Eldorado. Heute sei das den meisten Anrufern egal.
[Medium]: Wann haben Sie erfahren, dass halb Deutschland mit Corona-Fragen bei Ihnen anrufen wird?
Felix Licht: An einem Freitagabend Anfang Dezember. Wir hatten Hochsaison wegen des Weihnachtsgeschäfts. Wegen des Lockdowns war der Traffic noch höher als sonst. Da rief unser Geschäftsführer alle Anwesenden zusammen und schrieb eine riesengroße Zahl auf ein Flipchart: 800.000 Anrufe pro Monat. Wir haben das kurz sacken lassen. Corona hat jeden von uns beschäftigt, und jetzt gab es die Chance, zur Aufklärung beizutragen. Ich habe gesagt: Roman, ich bin mit an Bord. Am 21. Dezember haben wir den ersten Corona-Anruf angenommen.
[Medium]: Sie sind an der Corona-Hotline des Bundes beteiligt und betreiben die Impftermin-Hotline für die Stadt Hamburg. Anrufer klagen, sie würden ewig in der Warteschleife hängen. Was ist da los?
Licht: Wenn neue Termine zur Verfügung stehen, dann ist das so wie beim Rolling-Stones-Konzert: Die Leute stellen sich so früh wie möglich in die Schlange. In Stoßzeiten müssen Anrufer auch schon mal ein paar Minuten warten, aber wir haben in den Corona-Projekten eine Annahmequote von 98 Prozent, darauf bin ich stolz. Wenn es an Impfstoff mangelt, liegt das nicht in unserer Hand, aber wir können dann liebevoll und charmant sagen: [AutorIn], leider haben wir aktuell keinen Termin für Sie.
[Medium]: Warum spielen Sie nicht eine Ansage ab?
Licht: Wer jeden Tag die Ansage "Alle Termine sind vergeben" hört, gibt irgendwann auf anzurufen. Wir möchten persönlich für den Impfling da sein und ihm ein gutes Gefühl geben, sodass er aus dem Gespräch geht und sich denkt: In der nächsten Woche versuche ich noch mal mein Glück.
Zur Verbesserung unserer Servicequalität beobachten wir Ihr Leseverhalten. Wenn Sie nicht einverstanden sind, gehen Sie bitte zu 9.
Die 116 117 ist so etwas wie die Mutter aller Hotlines. 300.000 Anrufe pro Woche, 18 beteiligte Callcenter, das gab es noch nie. Die Nummer ist zur Chiffre geworden für den Frust und die Hoffnungen von Callcenter-Deutschland. Hoffnung, wenn man an der Telefonweiche zu den allgemeinen Corona-Fragen abbiegt. Dort sind die Wartezeiten sehr kurz. Frust, wenn man die Abzweigung zur Impfterminvergabe des eigenen Bundeslandes nimmt.
Schleswig-Holstein, Bandansage: "Leider ist die Wartezeit für telefonische Buchungen von Impfterminen gegenwärtig höher, als wir Ihnen zumuten möchten. Probieren Sie es bitte zu einem späteren Zeitpunkt." So kann man es auch machen. Der Gesundheitsminister des Landes sagt: "Callcenter-Agents sind zurzeit so schwer zu bekommen wie Impfstoff."
Callcenter sind jetzt systemrelevant. Es ist wie mit der Fleischindustrie, den Intensivstationen, den Altenheimen, den Paketdiensten, den Erntehelfern. Die Pandemie macht sichtbar, wer den Laden am Laufen hält und dafür mit seiner Gesundheit bezahlt.
Die Gevekom kannten früher nur Insider. Als die Impftermine auf sich warten ließen, riefen die Journalisten an. Nun hat die Firma eine Pressesprecherin. Sie hat die Interviews mit Gevekom-Angestellten für diesen Artikel vermittelt und die Antworten autorisiert. Es gab wenige Änderungswünsche. Die meisten betrafen Firmennamen, die nicht genannt werden sollen.
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Über Melanie Becker darf man verraten, dass sie vor allem für einen großen Telekommunikationsanbieter telefoniert. Sie ist seit Anfang der Pandemie dabei. An einem Freitag hat sie sich beworben, sieben Tage später den Vertrag unterschrieben. Zuvor arbeitete sie zehn Jahre lang für einen großen Kamerahersteller im Vertrieb.
[Medium]: Wie kommen Sie damit klar, zwischen Hotlines für Impfstoffe, Internet, Fahrkarten, Spielzeug-Shops und mehr hin und her zu springen?
Melanie Becker: Ich hatte es mir schwieriger vorgestellt. An manchen Tagen ist eine Support-Hotline sehr anstrengend, gerade bei Großstörungen im Telekommunikationsbereich. Manche Kunden vergreifen sich im Ton. Dann ist man froh, wenn man abends Bestellungen aufnehmen kann.
[Medium]: Was tun Sie bei aggressiven Anrufern?
Becker: Ich sage dann: "Bitte mäßigen Sie sich im Ton. Ich versuche nur, Ihnen zu helfen." Wenn es nicht besser wird, beende ich das Gespräch freundlich. Es passiert montags öfter als sonst, komischerweise. Wenn mich jemand anschreit, mache ich mit dem Rädchen am Headset einfach den Ton leiser. Meistens wollen die Leute im ersten Moment nur ihren Frust loswerden.
[Medium]: Sie brauchen therapeutische Fähigkeiten.
Becker: Tatsächlich wäre manche Person besser bei der Telefonseelsorge aufgehoben. Gerade im Kundensupport der Telekommunikations-Hotline hört man viele tragische Geschichten. Privatinsolvenzen und Firmenpleiten, Vormundschaft, Todesfälle. Die Leute wollen Verträge auflösen, aber sind noch gar nicht in der Lage, über ihr Anliegen zu sprechen. Eine Anruferin hatte ihren Mann relativ jung verloren, er war Jahrgang 1965, der habe ich gesagt: Ich habe eine gewisse Zeit für jeden Anruf, die darf ich maximal 20 Minuten überschreiten, und die gebe ich Ihnen jetzt. Lassen Sie uns schauen, ob ich Sie wieder auf die Höhe kriege. Dafür hat jeder Chef Verständnis.
[Medium]: Callcenter haben in Deutschland keinen guten Ruf. Spüren Sie das?
Becker: Klar. Die Grundannahme vieler Anrufer ist, dass wir dumm sind. Manche sprechen betont langsam. Auch im Bekanntenkreis ist oft die erste Reaktion: Na ja, hast nichts Besseres gefunden. Ich sage dann: Nee, ich mache genau das, was ich mir ausgesucht habe.
Wenn Sie Fragen zur Ausbildung von Callcenter-Agents haben, gehen Sie zu 4.
Die Pandemie lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Heer menschlicher Anrufbeantworter, das sonst inkognito arbeitet. Man ruft bei Volkswagen, Congstar, myToys, Sky oder Vodafone an und telefoniert in Wirklichkeit mit Majorel, Avedo, Gevekom, Teleperformance oder Walter Services. Selbst die Bandansage der 116 117 erweckt den Eindruck, als wäre man nur eine Etage unter Jens Spahn gelandet und nicht in einem Homeoffice: "Für Fragen zur Corona-Schutzimpfung, über die Sie persönlich mit einem Mitarbeiter der Servicestelle des Bundesministeriums für Gesundheit sprechen möchten, drücken Sie bitte die Eins." Vorwahlnummern haben keine Bedeutung mehr. Algorithmen routen die Anrufe kreuz und quer durchs Netz. Macht nichts, könnte man sagen, Hauptsache, die lösen mein Problem. Aber warum müssen alle Beteiligten permanent so tun, als wären sie andere Menschen in einer anderen Welt?
Wenn Angestellte in Dienstleistungsberufen Gefühle vortäuschen, die sie nicht empfinden, spricht die Psychologie von Surface-Acting, Oberflächenhandeln. Dazu gehört das "Fassadenlächeln" im Einzelhandel, dazu gehört auch die gute Laune am anderen Ende der Hotline. Zehn Prozent aller Anrufe empfinden Callcenter-Agents laut einer britischen Studie als unangenehm. Surface-Acting, schreibt der Psychologe Friedemann Nerdinger von der Universität Rostock, "führt zu emotionaler Dissonanz, die wiederum mit Gefühlen der emotionalen Erschöpfung korreliert". Burn-out-Gefahr.
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[Medium]: Wo erreiche ich Sie?
Gabriela Vasileva: Ich bin am Gevekom-Standort in Varna, ein paar Meter vom Strand entfernt. Der Raum hier ist die Teeküche, wo wir unsere Pausen verbringen.
Lidija Friedrich: Schöne Grüße nach Hamburg, meiner Perle. Ich habe 27 Jahre dort verbracht. Jetzt bin ich im Urlaub in Serbien, Ski fahren, ich bin ja schon geimpft. Unser Callcenter-Standort ist Belgrad.
[Medium]: Wie sind Sie zum Callcenter gekommen?
Friedrich: Ich habe BWL studiert und dann für ein Pharmaunternehmen gearbeitet. Mit zwei Kindern war mir das zu anstrengend, man reist viel. Wir sind vor einem halben Jahr nach Serbien zurückgekehrt, und ich wollte mein Deutsch auf einem guten Niveau halten. Nun arbeite ich sechseinhalb Stunden pro Tag bei der Gevekom.
Vasileva: Ich bin mit 14 nach Deutschland gezogen und habe dort zehn Jahre in Essen gelebt und eine Ausbildung als Hotelfachfrau gemacht. Vor vier Monaten bin ich zurück nach Bulgarien gekommen und habe bei der Gevekom angefangen.
[Medium]: Wissen die Anrufer, dass Sie in Belgrad und Varna sitzen?
Friedrich: Nein. Wenn mich jemand fragt, wo ich bin, nenne ich den Firmennamen des Shops. Die meisten denken dann, ich bin in Berlin. Und wenn sie mich bitten, mal kurz nachzuschauen, ob ein Plüschtier oder so im Lager vorrätig ist, sage ich, dass ich im Lager Bescheid gebe. Man lügt nicht, aber man lässt die Leute im Ungewissen. Für die Anrufer repräsentiere ich ja nicht die Gevekom, sondern den Shop.
[Medium]: Was gefällt Ihnen an dem Job, was nervt Sie?
Vasileva: Ich habe pro Tag 120 bis 160 Anrufe, das kann anstrengend sein. Aber am Empfang im Hotel zu arbeiten ist auch nicht einfacher. Beim Telefonieren kann man wenigstens die Augen verdrehen, wenn jemand unfreundlich ist. Schön finde ich, wenn die Kunden sich bedanken.
Friedrich: Manche kommen verärgert in ein Gespräch rein und gehen freundlich raus. Wir helfen ihnen, Stress abzubauen. Ich bin oft an der Spielzeug-Hotline, da rufen viele Mütter an, die während des Gesprächs mit ihren Kindern reden oder schimpfen. Das strengt an.
[Medium]: In Deutschland haben Callcenter einen schlechten Ruf. Wie ist das bei Ihnen?
Friedrich: Meine Mama hat komisch reagiert, mein Freund auch, als ich ihnen von dem Job erzählt habe. Du bist doch gebildet, haben sie gesagt, und jetzt Callcenter? Dabei muss man doch auch gebildet sein, um vernünftige Gespräche zu führen.
Vasileva: In Bulgarien sieht man Callcenter-Agent als einen sehr guten Job an. Man muss ja sehr gut Deutsch können.
[Medium]: Wie ist die Bezahlung?
Friedrich: Das Zwei- bis Dreifache des Mindestlohns in Serbien. Pro Monat ungefähr 95.000 Dinar, das sind 800 Euro. Meine Tante arbeitet am Schalter bei der Bank und verdient weniger als ich.
Vasileva: Wir können uns einen Bonus dazuverdienen. Letzten Monat habe ich 1850 Leva bekommen, umgerechnet 950 Euro. Mein Vater ist Food-&-Beverage-Manager, der bekommt 500 Leva mehr.
[Medium]: Was wünschen Sie sich von uns Anrufern?
Vasileva: Mehr Geduld.
Friedrich: Und bitte vorbereitet sein. Kunden- und Auftragsnummer bereithalten.
Möchten Sie ein Mitglied des Betriebsrats anhören? Gehen Sie bitte zu 6.
Der wichtigste Begriff, den ein Callcenter-Neuling lernt, ist "Average Handling-Time" (AHT). Das ist die Durchschnittszeit pro Anruf inklusive Dokumentation. Sie wird mit dem Auftraggeber vertraglich vereinbart. Typischerweise liegt die AHT bei drei bis zehn Minuten. Wenn Callcenter-Agents dauerhaft die AHT überschreiten, macht das Callcenter Verluste, und der Teamleiter macht Druck.
[Medium]-Anfrage an das Bundesministerium für Gesundheit: Wie hoch ist die vereinbarte AHT in der Corona-Hotline? Was kostet der Betrieb der Hotline? Wie viele Callcenter-Agents sind im Einsatz?
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[Medium]: Herr Neubauer, der Journalist Günter Wallraff hat die Arbeit im Callcenter einmal mit moderner Sklaverei verglichen. Als Leiter für Training und Coaching bei der Gevekom wären Sie dann der Mann mit der Peitsche.
Peter Neubauer: Sehen Sie das Landschaftsbild hinter mir? Ich sitze in dem Raum, wo normalerweise die Massagen angeboten werden. Hier gibt es Frühstück, und in der Corona-Zeit geht der Liefer-Oli von Etage zu Etage und verteilt kostenlose Sandwiches. Wir sprechen hier auf Augenhöhe miteinander. Sklaverei war gestern.
[Medium]: Callcenter-Agent ist der neue Traumjob?
Neubauer: Nicht für jeden und nicht überall. Bei meinem vorigen Arbeitgeber haben innerhalb eines Jahres 80 Prozent der Belegschaft in einem Projekt gewechselt. Als Trainer habe ich nichts anderes gemacht, als neue Leute einzustellen. Ich hörte auf, mir die Namen zu merken. Vorne Rinder rein, hinten Hackfleisch raus, so fühlte sich das an. Das war nicht mehr menschlich. Deshalb habe ich gewechselt. Hier ist die Fluktuation bei sieben Prozent pro Jahr, das ist superwenig.
[Medium]: Was ist die Königsdisziplin?
Neubauer: Technische Hotlines. Unterhaltungselektronik, Internet. "Ich habe die Kinder da, und der Fernseher ist kaputt." Das stresst die Menschen enorm. Dann werden sie sehr schnell sehr ungeduldig und sehr persönlich. Da haben Sie schon mal den älteren Herrn in der Leitung, der seit 45 Jahren "EDV" nutzt und von meiner Kollegin verlangt, einen Mann zu sprechen. Aber das wird seltener.
[Medium]: Was wünschen Sie sich von uns Anrufern?
Neubauer: Die Öffentlichkeit sollte kapieren, dass ein Callcenter-Agent kein Dummer ist, der keinen anderen Job gefunden hat.
Möchten Sie die Auskunft des Bundesgesundheitsministeriums zum Betrieb der Corona-Hotline hören? Sie befinden sich in Warteposition zwei.
Die Pressesprecherin scheint mit dem Verlauf der Gespräche zufrieden zu sein. Nach den ersten Interviews schickt sie eine Mail: "Mannomann, das wird eine fabelhaft positive Geschichte. Die Callcenter-Branche wird Ihnen eine Bronzestatue auf den Potsdamer Platz stellen!" Das ist nett gemeint, aber für einen knallhart recherchierenden Reporter wirklich kein Lob. Daher soll jetzt noch ein Betriebsrat zu Wort kommen. Und eine Frau, die im Callcenter an ihre Grenzen stieß. Sie war ein Jahr und drei Monate beschäftigt und kündigte im Juli 2019. Unter dem Pseudonym Manja Siber verfasst sie heute queere englischsprachige Fantasy-Literatur. Ihr Debüt A Song for Ghosts handelt von einem schwulen Opernsänger, der kurz nach der Revolution von 1848 am Hoftheater von Dresden sein Glück und seine Liebe findet. Manja Siber hat Geschichte, Literatur, Anglistik und Religionswissenschaft studiert.
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[Medium]: Frau Siber, warum haben Sie gekündigt?
Manja Siber: Ich war für den Klienten am anderen Ende einfach nur eine Stimme, die entweder sagt, was der Anrufer hören will, oder seinen Wunsch ablehnt, und dann war ich die Böse. Und für den Chef ist man eine Nummer, ein Produkt, das möglichst gewinnbringend ausgewrungen wird.
[Medium]: Für welche Hotlines haben Sie telefoniert?
Siber: Für ein Online-Reisebüro und Homeshopping-Kanäle, für Kabel- und Telefonanbieter, eine Buchhandlung, Kreditinstitute. Die ganze Bandbreite. Die ersten zwei Wochen sollte ich outbound telefonieren, damit ich mich an die Zeiterfassungsmaske gewöhne.
[Medium]: Also aktiv Menschen anrufen. Das ist anstrengender, als angerufen zu werden, oder?
Siber: Na sicher, weil man den Leuten dumme Fragen stellt, Sprüche klopft und selbst weiß, wie sehr man ihnen auf den Zeiger geht und was für beschissene Produkte man verkauft. Zeitungs-Abos, Lotterielose, Katzenfutter. Ich hab mir gesagt: Halte durch, es sind nur zwei Wochen. Die Homeshopping-Hotline, in der ich später hin und wieder einspringen musste, war allerdings genauso blöd. Da rufen Leute an, die irgendwo eine Werbesendung für irgendeinen Staubsauger gesehen haben. Dann muss man denen noch mehr aufquatschen, was angeblich gratis ist, aber leider 24 Euro Porto kostet. Ich ziehe vor den Kollegen, die das täglich machen, den Hut.
[Medium]: Wie ging es dann weiter?
Siber: Ich habe mir keine Pausen gegönnt, weil sonst die Uhr stoppt und Geld verloren geht. Und dann dieser massive Druck. Man kann an einem Tag 15 Reisen verkaufen, und trotzdem sagt der Chef: Ganz nett, morgen kannst du dann 30 rausziehen. Kurz bevor meine Vertragsverlängerung anstand, habe ich mich trotz einer Grippe zur Arbeit geschleppt. Wenn man zu viele Krankentage hat, ist man ja nicht rentabel. Dann bin ich zusammengeklappt.
[Medium]: Sie hatten einen Nervenzusammenbruch?
Siber: Ich hatte drei Nervenzusammenbrüche innerhalb von drei Wochen. Mein Vertrag wurde zwar entfristet, aber ich bin so gut wie jeden Abend heulend aus dem Büro gegangen und erst mal eineinhalb Stunden S-Bahn gefahren, um runterzukommen, und hab nur noch geweint. Dann habe ich mir gesagt: Entweder hörst du jetzt sehr schnell hier auf, oder du landest in einer Anstalt.
[Medium]: Vielleicht sollten Sie diese Lebenserfahrung in Ihren Büchern verarbeiten.
Siber: Das habe ich vor. Kennen Sie die BBC-Serie Good Omens von Neil Gaiman? Da geht es um den Kampf zwischen Himmel und Hölle. Bei mir wird das Fegefeuer ein Callcenter sein.
Wenn Sie eine Stellungnahme des Callcenter-Verbands CCV wünschen, gehen Sie zu 7. Wir verbinden Sie jetzt mit Michael Ilse, Konzernbetriebsratsvorsitzender von Tricontes360, einem Callcenter-Unternehmen mit mehr als 2500 Angestellten an 14 Standorten.
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[Medium]: Herr Ilse, welche Entwicklung macht Ihnen Sorgen?
Michael Ilse: Die vielen neuen Möglichkeiten, Mitarbeiter zu überwachen. Wir telefonieren nicht mehr auf eigenen Telefonanlagen, sondern über sogenannte Softphones auf den Anlagen des Auftraggebers. Auftraggeber und der Arbeitgeber können minutiös feststellen, wann jemand eine Pause macht. Die Callcenter-Agents sind komplett gläsern. Das geht schon Richtung Spionage. Ein häufig eingesetztes Tool hat seine Ursprünge in der Zusammenarbeit mit dem israelischen Geheimdienst.
[Medium]: Wie bitte?
Ilse: Googeln Sie mal "Verint". Die Software wandelt Sprache automatisch in Text um und analysiert Schlagworte. Zum Beispiel kann sie überprüfen, wie oft in Verkaufsgesprächen der Produktname oder der Name des Kunden genannt wird, das ist vom Auftraggeber ja oft vorgeschrieben. Sie könnte mithilfe zugekaufter Module Emotionen in der Stimme analysieren und automatisch erkennen, wie freundlich ein Mitarbeiter ist. Als Betriebsrat lehnen wir das ab, auch wenn Auftraggeber sich das wünschen.
[Medium]: Was haben Sie im Callcenter über den Kapitalismus gelernt?
Ilse: Nichts, was ich nicht vorher schon geahnt habe. Wir machen seit Jahren konzernweit Verluste in Millionenhöhe auf Kosten der Allgemeinheit. Mehr als 2000 Arbeiter schaffen für Gehälter unter dem Existenzminimum und werden oft vom Staat aufgestockt. Dennoch profitiert eine kleine Clique satt und gut von hohen, sechsstelligen Jahresgehältern.
[Medium]: Würden Sie wieder selbst telefonieren?
Ilse: Auf keinen Fall. Dann gehe ich lieber zu Lidl, Regale einräumen. Da habe ich 12,50 Euro bei null Verantwortung und kann während der Arbeit Musik hören.
[Medium]: Warum hängt hinter Ihnen ein T-Shirt mit einer 12?
Ilse: Das ist von der Gewerkschaft ver.di, vom "Team Mindestlohn". Wir haben 12 Euro pro Stunde gefordert. Diese Forderung ist allerdings schon wieder drei Jahre alt.
Möchten Sie die Auskunft des Bundesgesundheitsministerium zum Betrieb der Corona-Hotline lesen? Sie befinden sich in Warteposition eins.
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Der oberste Lobbyist der Callcenter-Branche ist Dirk Egelseer. Er ist Präsident des Callcenter Verbands (CCV). Der Job ist ein Ehrenamt. Im Hauptberuf ist Egelseer Rechtsanwalt und baut in Nürnberg sein eigenes Callcenter auf.
[Medium]: Herr Egelseer, die Gewerkschaft ver.di wünscht sich einen Arbeitgeberverband, einen Tarifvertrag und höhere Löhne. Warum machen Sie das nicht?
Dirk Egelseer: Das Problem ist, dass es keine Definition der Branche gibt. Die größeren Player sagen zu Recht: Es kann ja nicht sein, dass wir uns als Branche definieren und Regelungen unterwerfen, und die Schlaumeier fliehen rechts und links an der Regelung vorbei und sagen: Ich bin ja gar kein Callcenter, ich bin eine Bank, oder ich gehöre zu den Fensterputzern oder was auch immer.
[Medium]: Das ist doch nicht so kompliziert. Wer ein Großraumbüro anmietet, Telefone reinstellt und für andere Firmen den Kundenservice macht, betreibt ein externes Callcenter.
Egelseer: Diese Definition ist aber sehr begrenzt. Da fallen die internen Callcenter durchs Raster.
[Medium]: Die Belegschaft der internen Callcenter wird meistens doch schon nach dem Tarif des Mutterkonzerns bezahlt. Wenn Sie einen Flächentarifvertrag für die externen Callcenter vereinbaren, könnten Sie auch deren Löhne anheben.
Egelseer: Ja, könnten! Das ist in der Branche im Moment nicht durchsetzbar.
[Medium]: Sind Sie denn dafür?
Egelseer: Ich bin da ein bisschen hin- und hergerissen. Ich bin dafür, einen Arbeitgeberverband zu haben, der die Themen der Branche abschließend regeln kann. Aber ich habe wirklich keine Lust, dass andere diese Lösung nutzen, um zu sagen: Ich bin da jetzt nicht Mitglied und mache, was ich will.
[Medium]: Was wünschen Sie sich von uns Anrufenden?
Egelseer: Das, was ich mir von der ganzen Gesellschaft wünsche. Nämlich dass wir mal zur Kenntnis nehmen, dass – egal ob ich einen Tweet schreibe oder Herrn Lauterbach kritisiere oder Herrn Hoeneß – der andere genauso ein Mensch ist wie ich auch. Und dass man sich an die Grundregeln des Anstandes hält.
Wir verbinden Sie jetzt mit der Pressestelle des Bundesgesundheitsministeriums.
Nach zwei Wochen antwortet das Ministerium auf die [Medium]-Anfrage. Der Betrieb der Corona-Hotline durch die 18 Callcenter kostet 50 Millionen Euro von Januar bis Mai. Die Gespräche dauern im Durchschnitt 200 Sekunden, deutlich weniger als die vertraglich vereinbarte Average Handling-Time von 300 Sekunden. Der Vertrag ist neu ausgeschrieben, diesmal europaweit. Bis Ende April soll feststehen, wer den Zuschlag bekommt. Ruft man selber bei der 116 117 an, klickt sich eine freundliche Callcenter-Angestellte durch die Informationsdatenbank des Ministeriums und liest die Antworten über Impfstoffe, Nebenwirkungen und andere Fragen vor.
Wie geht es weiter? An den prekären Arbeitsbedingungen in externen Callcentern ist auch deren Auftraggeber schuld: die deutsche Wirtschaft. Sie lagert Kundenservices aus, drückt die Preise, deckelt die Average Handling-Time. Das müsste sich ändern. Dann ist da die neue Technik. In Zukunft werden Chatbots 80 Prozent der Anfragen übernehmen, prophezeit die Unternehmensberatung pwc. Künstliche Intelligenz werde Standardfragen beantworten, während sich "menschliche Agenten" auf Anliegen spezialisieren, in denen Empathie und Kommunikation gefragt seien. Und dann sind da noch wir Anrufer.
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[Medium]: Was haben Sie im Callcenter über die Menschen gelernt?
Michael Ilse: Dass die sozialen Instinkte vieler Anrufer am Telefon aussetzen.
Peter Neubauer: Dass Menschen sehr gemein sein können, wenn die Kommunikation nicht face to face stattfindet. Ich verstehe mittlerweile, warum es im Netz so schnell zu Mobbing kommt.
Lidija Friedrich: Dass 99 Prozent freundlicher werden, wenn man ruhig bleibt und sich bemüht. Und dass Opas am Telefon besonders mutig sind: Die fragen offen nach Potenzmitteln.
Melanie Becker: Dass die Deutschen sehr ungeduldig sind. Man sagt: Sie haben vor zwei Tagen angerufen, warten Sie bitte noch, Sie kriegen Bescheid. Dann heißt es: Nee, nicht dass es untergegangen ist. Ungeduldig und misstrauisch. Dass man irgendetwas eingebucht hat.
Dirk Egelseer: Dass wir in Deutschland kein Geld für Service ausgeben. Autowaschen geht gerade noch, aber alles andere auf gar keinen Fall.
Manja Siber: Dass Menschen sehr schnell Freunde werden, wenn sie zusammen in der gleichen Scheiße sitzen. Ich mochte meine Kollegen. —
Wie zufrieden waren Sie mit der inhaltlichen Beantwortung Ihres Anliegens? Fünfmal * steht für vollste Zufriedenheit.
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[AutorIn] hat für diese Recherche mit der Softphone-Technik telefoniert, wie sie auch Callcenter nutzen. Statt einer 45-seitigen Bedienungsanleitung und 18 Fehlerleitfäden wünscht er/sie sich nur eine einzige Taste: Record.