Sind die Esten echt die Besten?
von Benedikt Becker
WirtschaftsWoche vom 06.03.2020
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Sind die Esten echt die Besten?
Ständig pilgern deutsche Politiker und Beamte nach Estland, um zu lernen, wie Digitalisierung geht. Leider kehren sie noch immer mit den falschen Lehren zurück.
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Peter Batt ist so etwas wie der stellvertretende IT-Beauftragte der Bundesregierung. Und wer den Beamten in seinem Büro besucht, könnte meinen, er verwalte die Vergangenheit: In einer Ecke steht ein mannshohes Smartphone - ein telegenes Vorführgerät, das bereits von Angela Merkel bedient wurde, damals, im Jahr 2012, als die Kanzlerin den Nachweis führen wollte, die digitale Verwaltung in Deutschland sei besser als ihr Ruf.
Lang, lang ist's her. Und seither ist verdammt wenig passiert.
Stimmt nicht, sagt Batt. Und um es zu beweisen, schaltet der Abteilungsleiter des Bundesinnenministeriums den übergroßen Smartphonedino an.
Die Kanzlerin konnte damals nur ein paar Service-Apps ansteuern. Heute stellen viele Behörden digitale PDF-Formulare bereit, die Bürger ausfüllen und ausdrucken können. Und schon bald soll das alles papierlos und online vonstatten gehen: Kindergeld beantragen oder Angelschein ausfüllen.
Alles perfekt also? Nein, natürlich nicht, sagt Batt. Es gebe noch viel zu tun. Aber der Eindruck, dass es sich bei Deutschland um eine Art Analogistan handle, sei falsch. Die Bundesrepublik dürfe sich aber nicht zu sehr an Vorbildern orientieren, die nicht geeignet seien - so wie das sympathische Land im Baltikum: "Die ständigen Vergleiche mit Estland bringen uns nicht weiter", sagt Batt.
Batt wirkt genervt. Und er ist nicht der einzige Regierungsbeamte, dem der bewundernde Blick nach Osteuropa zuwider ist. Im Kanzleramt, wo die Fäden aller digitalpolitischen Bemühungen zusammenlaufen, gibt es sogar eine Estland-Kasse: Das Phrasenschwein steht im Büro von Staatsministerin Dorothee Bär. Wer das E-Wort sagt, muss zahlen.
Und doch bleibt Estlands Hauptstadt Tallinn das beliebteste Reiseziel für Politiker auf digitalpolitischer Pilgerfahrt. Eine Pflichtstation: der E-Estonia-Showroom. Dort gibt es eine kurze Einführung, die die Verwandlung des kleinen Baltenstaates vom postsowjetischen Entwicklungsland zur digitalen Streberrepublik nacherzählt - auch auf Deutsch, versteht sich.
Man erfährt, dass Estland 1,3 Millionen Einwohner zählt und so groß ist wie Niedersachsen. Dass das Land außerhalb von Tallinn ländlich und dörflich geprägt ist. Dass es daher beim Verwaltungsaufbau nach der Unabhängigkeit in den Neunzigerjahren unmöglich war, alle Landstriche mit Behörden zu versorgen. Und dass Bürgerdienste auf eine andere Art zugänglich sein mussten.
Da kam das Internet gerade recht. Ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts investiert Estland jedes Jahr in die Digitalisierung der Verwaltung, derzeit knapp 300 Millionen Euro. Das reicht, um Bürgern 600 Onlinedienste des Staates anzubieten und Firmen weitere 2400. Und das reicht auch, um in vielen Rankings Spitzenplätze zu belegen. Der jüngste Pilger im Kanaan des Internets war vor wenigen Tagen Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Deutschland könne bei der Digitalisierung "viel von Estland lernen", lobte er. Ein Fall fürs Phrasenschwein.
Also was denn jetzt? Ist Estland ein digitales Musterland mit Vorbildcharakter, wie Altmaier meint? Oder gehört das estnische Digitalisierungsmärchen auf den Index, wie Bär und Batt es wünschen? Klare Antwort: Weder noch. Das Land ist zu klein und zu zentralistisch, um Deutschland als Vorbild zu dienen. Und als die Esten digitale Strukturen aufbauten, gab es kaum analoge, die hätten ersetzt werden müssen. Trotzdem kann sich die Bundesrepublik etwas abschauen. Wenn man genauer hinsieht.
DIE GRUNDLAGE: DER PERSO
Die Spurensuche führt nach Ülemiste City, ins baltische Silicon Valley. Hier sitzt Nortal, eine Firma, die enger mit Estlands Aufstieg zur Internetnation "E-Estonia" verbunden ist als jede andere - sie hat die meisten digitalen Bürgerdienste entwickelt.
Hendrik Lume ist erst 35 Jahre alt und schon Partner bei Nortal. Der Deutsche verbringt viel Zeit damit, Besuchern aus der alten Heimat die Erfolge seiner neuen zu erklären. So wie an diesem Wintertag. Aber bevor Lume loslegt, will er noch etwas klarstellen: "Es ist nicht möglich, Lösungen aus Estland eins zu eins auf andere Länder zu übertragen." Aber ja, das dachten wir uns schon, nach den widersprüchlichen Erfahrungen mit Altmaier, Bär und Batt.
Lume ruft im Browser das estnische Gesundheitsportal auf. Es gibt nur eins, weil es in Estland auch nur eine Krankenkasse gibt. Lume meldet sich mit seiner elektronischen Identität an, weist also online nach, dass Lume Lume ist. Dann guckt er nach, welche Ärzte seine Daten abgefragt haben. Zeigt, wie er auf die Daten seiner Kinder zugreifen kann. Und erteilt seiner Frau die Vollmacht, Medikamente für ihn abzuholen.
Das alles funktioniert problemlos, aber ist es auch sicher? Lume erzählt von einem Politiker, der im Krankenhaus lag und in der Presse Details über seinen Gesundheitszustand las. Es sei leicht gewesen, herauszufinden, wer die Daten angefordert hatte: "Die überführten Ärzte verloren ihre Zulassung."
Zum Schluss zeigt Lume noch seinen Personalausweis. "Er ist die Grundlage für die Authentifizierung." Mit dem Ausweis, inklusive eingebautem elektronischem Identitätsnachweis (eID), fing 2002 alles an. Heute nutze fast jeder die Onlinebürgerdienste.
Und warum macht in Deutschland hier fast niemand vom elektronischen Perso Gebrauch - obwohl es ihn seit 2010 gibt?
Bevor man diese Frage Peter Batt stellt, dem deutschen Beamten mit dem Mega-Smartphone, lohnt es sich, noch besser zu verstehen, warum Estland so erfolgreich ist.
DIE PFLICHT: DER POWER-USE-CASE
Also auf zu Station zwei der Spurensuche - auf in ein unscheinbares Gebäude an einer Ausfallstraße von Tallinn. Draußen staut sich der Verkehr - so fortschrittlich die Esten bei der Digitalisierung sind, so stark hinken sie beim Klimaschutz hinterher: Der CO2 - Ausstoß pro Kopf ist doppelt so hoch wie in Deutschland. Im Gebäude selbst weisen nur die vielen Türen mit Kartenleser darauf hin, dass man einen sicherheitssensiblen Bereich betritt. Dass Estland von hier aus gegen Cyberangriffe verteidigt wird.
Im siebten Stock arbeitet Margus Arm, Vizechef der obersten IT-Behörde RIA, also der Peter Batt von Estland, wenn man so will. Arm ist ein zurückhaltender Mann, einer, der immer erst kurz überlegt, bevor er antwortet. Zu Deutschland will er sich nicht äußern. Doch wer den estnischen Erfolg studiere, so Arm, merke schnell, warum es anderswo hakt.
Erste Lektion: "Ohne die Privatwirtschaft geht es nicht!" Arm weiß das aus eigener Erfahrung. Um die Jahrtausendwende, er war noch in der Wirtschaft tätig, baute er Prototypen fürs Onlinebanking: Die Regierung und die drei größten Banken des Landes arbeiteten eng zusammen. Heute nutzten die meisten Esten ihre eID fürs Banking.
Zweite Lektion: "Lass den Bürgern keine Wahl!" Der Personalausweis ist Pflicht; man kann die eID nicht nicht wollen. Bei der Distribution der Hardware halfen die Banken: Sie verteilten das Kartenlesengerät, das für die Nutzung der eID am Computer gebraucht wird, an ihre Kunden.
Dritte Lektion: "Du brauchst einen Power-Use-Case!" Damit die Esten schnell einen Sinn darin sahen, den Ausweis samt eID häufig zu nutzen, gab man ihnen einen Anreiz. Mit Perso gibt es in Tallinn etwa die günstigsten Tickets im Nahverkehr.
Und - warum gibt es kein Digi-Nudging in Deutschland, keinen sanften Zwang, keine Kooperation mit Firmen? Langsam, meint Peter Batt: "Unsere neue Ausweis-App hat mehr Downloads als Estland Einwohner." Sagt es und schließt seinen Personalausweis an seinen Smartphonedino an. Das Lesegerät ist so handlich wie ein USB-Stick. Immerhin.
Batt meldet sich mit seiner eID beim Portal der Rentenversicherung an. Er war nicht immer Beamter, hat mal selbst bei der Rentenversicherung gearbeitet. Es dauert keine 30 Sekunden, und er sieht seinen Rentenbescheid: "Ging ziemlich einfach, oder?"
Batt gibt sich dennoch selbstkritisch. Die Pflicht zur Onlinefunktion für den Personalausweis hätte die Regierung schon viel früher einführen können. Das sei aber korrigiert worden. Was bleibe: Das Problem, dass viele Bürger noch heute keinen Nutzen in den Onlinediensten erkennen könnten.
Wie auch? Es gibt ein paar Dutzend Anbieter, etwa die Rentenversicherung, bei der man sich online mit der eID authentifizieren, also anmelden kann. Aber das reiche nicht, sagt Batt und bemüht ein etwas schiefes Bild: "Wir haben es in den letzten Jahren nicht geschafft, über die Nutzenbrücke zu laufen." Dafür müsse es aber auch mehr Angebote aus der Wirtschaft geben.
Batt und seine Beamten stecken in einem Dilemma. Längst gibt es Firmen, die sichere Onlineauthentifizierungen anbieten. Auch deutsche Banken haben ihre eigenen Systeme. "Ausschließlich unsere eID staatlich zu pushen wäre ein unzulässiger Eingriff in den Markt", sagt Batt. Eine breite Nutzung der eID sei einerseits Voraussetzung dafür, dass die Onlinedienste der Verwaltung angenommen würden. Andererseits müssten die Services erst mal da sein, damit der Nutzen der eID überhaupt erkennbar würde. Es ist das typische Henne-Ei-Problem.
Was Batt bleibt, ist das Prinzip Hoffnung: Er setzt darauf, dass das digitale Verwaltungsangebot so gut wird, dass immer mehr Bürger ihren Perso mit eID nutzen. Bis 2022 sollen 575 Services digitalisiert werden, so hat es die Bundesregierung versprochen.
Batt und seine Mitarbeiter stehen dabei vor einem Problem, das ihr estnischer Kollege Margus Arm nie hatte: ein föderaler Flickenteppich mit gewachsenen Strukturen. Aber die Beamten stehen sich auch selbst im Weg: Sie wollen es, typisch deutsch, jetzt so perfekt wie möglich machen.
DIE ABKÜRZUNG: DIE E-SIGNATUR
Noch mal zu Hendrik Lume also, dieses Mal in sein Büro in Düsseldorf. Von hier baut Nortal gerade das Geschäft in Deutschland auf. Lume erklärt, was die Bundesregierung beim Blick nach Estland übersieht. Dazu hat er eine Grafik rausgesucht, auf der die Entwicklungsstufen einer digitalen Verwaltung zu sehen sind: Estland ist oben angekommen, arbeitet nun an der Automatisierung von Prozessen. Deutschland befindet sich mittendrin, an jener Schwelle, ab der einfache Transaktionen zwischen Staat und Bürger möglich werden. Man vergesse leicht, dass Estland Erfolg hatte, weil das Land den schnellsten Weg wählte, sagt Lume - und nicht gleich die perfekte Lösung suchte. Die eID sei ein Teil dieser Strategie; "der andere ist die elektronische Unterschrift". Lume zeigt per Klick auf ein PDF-Dokument, dass er elektronisch rechtsgültig unterschreiben kann. Zehn E-Signaturen zahlt ihm der Staat pro Monat.
In Deutschland unterschreiben bislang fast ausschließlich Notare elektronisch. "Dabei ist das Potenzial immens", sagt Lume. Schließlich hätten etliche Kommunen viele Anträge schon als PDF online gestellt, die man dann ausfüllen, ausdrucken und zum Amt tragen müsse. "Mit einer verbreiteten Nutzung der E-Signatur würde das sofort überflüssig", sagt Lume. Sein Rat: Statt sich vom heutigen Estland blenden zu lassen, sollte man aus dem frühen Erfolg der E-Signatur die richtigen Schlüsse ziehen.
Bei Peter Batt sorgen Lumes Weisheiten nur für ein müdes Lächeln. Es gehe ja auch darum, die Prozesse hinter den Bürgerdiensten zu vereinfachen, sagt er. Mit 19 Seiten langen PDF-Dokumenten sei niemandem geholfen - "egal, ob ich die online oder schriftlich ausfülle".
Klar, auch er wäre froh, wenn die E-Signatur verbreitet wäre. Aber: "Wir sind ein Opfer unseres eigenen Erfolgs." 1998 verabschiedete Deutschland ein Gesetz, das die elektronische Unterschrift ermöglichte. Nur: "Richtig investiert hat niemand."
Auch hier gilt: Würde der Staat einen Anbieter von E-Signaturen bevorzugt fördern, wäre das ein Eingriff in den Markt. Batt hofft daher, dass der Fortschritt bei der Onlineausweisfunktion das Problem löst: Mit der neuen Ausweis-App kann sich authentifizieren, wer seinen Personalausweis an die NFC-Schnittstelle seines Smartphones hält. Damit sollen bald auch elektronische Signaturen möglich sein. Klingt gut. Aber wie es funktionieren soll, versteht man auch nach mehrfachem Lesen der Broschüre aus Batts Abteilung nicht wirklich.
Vielleicht das geringste Problem bei der Digitalisierung? Als Estlands IT-Experte Margus Arm vom deutschen Fortschritt hört, klingt er fast schon neidisch. Authentifizierung über die NFC-Schnittstelle des Handys? "Das können wir leider noch nicht", sagt er. Aber vielleicht geht Arm ja bald auf Studienreise. Von Tallinn nach Berlin.
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Einschübe:
„Es ist nicht möglich, Lösungen
aus Estland eins zu eins auf andere
Länder zu übertragen“
HENDRIK LUME
Partner und Berater bei Nortal
„Ohne die Privatwirtschaft
geht es nicht!“
MARGUS ARM
Vizechef der estnischen IT-Behörde RIA
„Unsere neue Ausweis-App hat
mehr Downloads als Estland
Einwohner“
PETER BATT
Abteilungsleiter im Innenministerium
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Bildunterschriften:
Digitaler Durchblick:
Wer Estlands Hauptstadt
Tallinn besucht, spürt schnell
die Fortschrittsbegeisterung
Transparenz im Betonbunker:
Das Innenministerium gibt sich
bei der digitalen Verwaltung
durchaus selbstkritisch