Patient null
von Gianna Niewel und Thomas Fromm
Süddeutsche Zeitung vom 30.06.2020
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Patient null
Bei Webasto bauen sie Autodächer und Standheizungen. Aber weltberühmt wurden sie, weil hier der erste Corona-Ausbruch Deutschlands war. Das Virus haben sie im Griff. Und jetzt?
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Holger Engelmann hat eine besondere Beziehung zu diesem Virus, sie begann sehr früh, Mitte Januar, mit einer Reise von München nach Shanghai. Zu einer Zeit, als Corona noch weit weg war von Deutschland, flog er Corona entgegen. Es war Zufall, dass er sich nicht angesteckt hat. Als er ein paar Tage später zurück nach Bayern flog, reiste ihm das Virus hinterher. Wieder verpasste es den Manager – nicht aber sein Unternehmen.
Als Corona Ende Januar nach Deutschland kam, landete es bei Holger Engelmann, in den Büros des Automobilzulieferers Webasto in Stockdorf bei München. Jene Tage waren, nach allem, was man heute weiß, die Deutschlandpremiere des Virus, und Webasto war die Blaupause: Alles, was in den Wochen und Monaten danach im Land passierte, kannten sie hier schon.
Krisenstab einrichten, Massentests machen, Infektionsketten nachverfolgen. Wer hat mit wem in der Kantine gegessen? Wie viele Minuten lang, mit wie viel Metern Abstand? Sie hatten ganze Büroeinheiten erst ins Home-Office geschickt und dann in die Kurzarbeit. Und als sie Corona wegorganisiert hatten, waren da neue Fragen. Wie sollen sie umgehen mit der drohenden Wirtschaftskrise? Wie mit einer Automobilbranche, die lange von Wandel nur gesprochen hat und die jetzt endlich liefern muss? Und was heißt das für einen Zulieferer wie Webasto?
Die Zentrale des Unternehmens ist ein Gebäude aus Glaswänden und Stahlstreben, erst vor Kurzem gebaut, ein Statement. Jeder kennt BMW, Audi, Daimler. Aber Unternehmen wie Webasto, die Lieferanten hinter den Autokonzernen, kennen nur wenige. Kaum jemand wusste bis Januar, dass Webasto Schiebedächer, Cabriodächer und Standheizungen baut, seit einiger Zeit auch Batterien und Ladestationen für Elektroautos. Kaum jemand wusste von den 3,7 Milliarden Euro Umsatz im Jahr, den 14 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weltweit. Aber das mit Corona wussten bald alle. „Von den 16 bestätigten Fällen können 14 auf den Automobilzulieferer Webasto zurückgeführt werden“, schrieb die New York Times im Februar.
Webasto, der Patient null in Deutschland, ist wieder genesen, was nicht heißt, dass Vorstandschef Holger Engelmann das Virus los wäre. Er kämpft jetzt nicht mehr nur gegen Corona, sondern auch mit der einbrechenden Konjunktur. Deshalb versteht er die 3000 Menschen nicht, die auf dem Berliner Landwehrkanal in Schlauchbooten herumdümpeln, dicht an dicht. Oder jene, die auf der Theresienwiese gegen die Maßnahmen demonstrieren. Und er versteht wirklich überhaupt nicht, warum die Schlachthöfe von Clemens Tönnies in Rheda-Wiedenbrück nicht sofort geschlossen wurden.
Engelmann sitzt in einem sehr langen Konferenzraum auf der anderen Seite eines sehr langen Tisches. Dunkelblauer Anzug, hellblaues Hemd, keine Krawatte, sein Mundschutz hängt unter dem Kinn. Auf dem Tisch liegen verschweißte Päckchen mit Mund-Nasen-Masken, rechts von ihm sitzen – mit Abstand – zwei Pressesprecherinnen. Er hat lange überlegt, ob er noch mal darüber sprechen soll, wie sich das Unternehmen, wie vielleicht auch er sich in den vergangenen fünf Monaten verändert hat. Dann hat er zugestimmt.
Engelmann ist 55 Jahre alt, in Krefeld geboren, er sagt „überlecht“ statt „überlegt“. Er hat Wirtschaft studiert in Münster und Köln, seit 2013 ist er Chef bei Webasto. Viren sind nicht sein Spezialgebiet, zumindest waren sie es nicht. Dann kam Flug LH 726 von München nach Shanghai, Landung am 12.01.2020 um 16.35 Uhr Ortszeit.
Webasto produziert seine Autodächer – Holger Engelmann sagt „Dachsysteme“ – dort, wo auch die Autos produziert werden. Sie haben 50 Standorte weltweit, elf Werke allein in China. Im Januar wollten Engelmann und sein Team diese Werke besuchen, Guangzhou, Baoding, Jiaxing, jeden Tag eine Stadt. In den Zeitungen standen damals unscheinbare Texte über ein neuartiges Virus in der chinesischen Stadt Wuhan. „Wir hatten uns überlegt: Sollen wir fliegen, können wir fliegen, und wohin?“, sagt Engelmann. Sie hätten sich erkundigt, aber es habe keine Reisewarnung für China gegeben, das Infektionsrisiko in Wuhan sei als „extrem minimal“ eingestuft worden. Am letzten Tag der Reise, einem Samstag, wollten sie nach Wuhan, dort steht das größte Werk, erst im September eröffnet. Bilder von der Eröffnung zeigen Holger Engelmann mit Kanzlerin Angela Merkel. Blumenbouquets, Flaggen, sie halten ein durchgeschnittenes Flatterband in der Hand. Business as usual.
Die Reise im Januar lief gut, sagt Holger Engelmann, und weil sie ja wirklich gerade erst in Wuhan waren, ließen sie das Werk aus. Er lacht, er kann jetzt wieder darüber lachen. Beim zweiten Mal war es dann knapper mit ihm und Corona.
Ein paar Tage nach seiner Rückkehr landete eine chinesische Kollegin in München. Drei Tage Workshop, sie flog zurück. Am 27. Januar in der Früh kam dann die Nachricht: Sie war positiv getestet worden auf Sars-CoV-2. „Da habe ich mir schon überlegt: Mensch, du warst eine ganze Woche in China, du hast die Kollegin dort in der Zeit gesehen. Als sie in Deutschland war, hast du ihr die Hand gegeben – bin ich jetzt selber betroffen?“
War er nicht, trotz Händeschütteln, wieder Zufall. Sein Kontakt war Kategorie 2, weniger als 15 Minuten, anderthalb Meter Abstand. Holger Engelmann sagt, da habe er das Virus zum ersten Mal als unmittelbar empfunden. Es war ja auch ziemlich unmittelbar: Viele seiner Kolleginnen und Kollegen hatten sich infiziert, einige mussten im Krankenhaus behandelt werden. Ende Januar wurden dann Webasto-Mitarbeiter und ihre Angehörigen im Ort ausgegrenzt, beim Abholen der Kinder im Kindergarten, sagt Engelmann. „Die Bevölkerung dachte damals wohl noch, das wäre ein lokales Webasto-Problem.“ Dass seine Leute so stigmatisiert wurden, hat ihn damals ziemlich aufgeregt.
Wenn es also darum geht, wie das Virus ihn vielleicht verändert hat, ist das der erste entscheidende Punkt: Wie viel Glück er hatte. Der zweite ist die Reihenfolge, mit der Corona durch die Welt wütete.
Am 19. Mai, einem Dienstag, hielt Holger Engelmann seine Jahrespressekonferenz zum ersten Mal per Videokonferenz ab. Der Mann, der da vor der Kamera stand, ließ sich keine Emotionen anmerken. Er hangelte sich an den Bilanzzahlen entlang, Sätze wie aus einem Management-Lehrbuch. „Die Produktion weltweit ist derzeit erheblich beeinträchtigt und der Höhepunkt der Krise noch nicht erreicht.“ Das habe „gravierende Auswirkungen auf unsere Geschäftszahlen“. Einfacher gesagt: Wenn die Autohersteller keine Autos verkaufen, verkauft Webasto keine Dächer und Standheizungen. Dann aber machte er eine Ansage: Man wolle „weiter investieren und die Mobilität von morgen aktiv mitgestalten“. Nur, wo?
Es ist die Ironie dieser Geschichte, dass die Zukunft für Webasto genau da liegt, wo die Vergangenheit vor ein paar Monaten aufgehört hatte: in China. Engelmann erzählt, wie die Werke in Asien langsam wieder hochfahren, wie sich der chinesische Markt wieder erholt. Was am Anfang für sie als Nachteil begann, entwickle sich gerade zum Vorteil. Vorteil?
Um zu verstehen, wo Webasto nach Corona hinwill, muss man wissen, wo das Unternehmen herkommt. Schon in den Dreißigerjahren bauten sie Faltdächer für Daimler-Benz, in den Fünfzigern die ersten Schiebedächer, mit Dächern ging es weiter. Im Keller der Zentrale liegt eine riesige Halle, in Räume unterteilt. Hier testen sie, Tag und Nacht. Im „Water Spray Chamber“ fällt literweise Wasser auf ein Dach. Landregen, Sprühregen, Tropenregen. In einem anderen Raum bestrahlen sie ihre Dächer mit künstlicher Sonne. Es darf sich keine Folie lösen, kein Gummi verformen, jeder Raum ein anderer Stresstest. Noch heute machen sie 84 Prozent des Umsatzes mit allem, was bei einem Auto oben ist.
Die Zukunft von Webasto liegt neben einem Rapsfeld, in einer umgebauten Scheune. Im Dachgebälk nisten Tauben, die Räume sind fensterlos und kühl. Hier arbeiten sie an Batterien und Ladelösungen für Elektroautos. Keine Fotos, keine Details.
Cabriodächer und Aufladestationen für Elektroautos haben auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun. Aber wenn es so ist, dass in Zukunft immer weniger Menschen ein eigenes Auto kaufen wollen, oder sogar zwei, dann ist die Idee naheliegend: Warum nicht einfach mehr zuliefern für das gleiche Auto? Holger Engelmann spricht von „Auto-Absatzvolumen“, und dass sie davon ausgehen, dass das weltweit zehn bis 15 Prozent niedriger sein könnte als noch vor einiger Zeit angenommen. Vielleicht sogar zehn bis 20 Prozent.
Warum also nur bei den Dächern bleiben, wenn in den nächsten Jahren das Geschäft mit E-Autos boomt?
An der Wand hängt ein Schaubild, „Battery Management System“, daneben Batterieboxen, Aufladestationen, ein Solarpanel-Dach. Sie haben die Strategie schon 2016 entwickelt, lange vor Corona, aber solche Strategien dauern.
Es ist Juni und Holger Engelmann macht sich Gedanken darüber, wie schnell sich gerade die deutsche Automobilwirtschaft verändert. Die Entwicklungen seien schwerer einzuschätzen als in anderen Krisen. Wie belastbar ist das berechnete „Auto-Absatzvolumen“ in einer Zeit, die unberechenbar ist? Gehen die Menschen mit Mundschutz in die U-Bahn? Oder kaufen sie ein Auto? Und wenn sie eines kaufen: Benziner, Diesel oder E-Auto?
Die Bundesregierung will nachhelfen, sie beschloss in ihrem Konjunkturpaket eine Innovationsprämie. Wer bis Ende des Jahres ein E-Auto kauft, kriegt bis zu 6000 Euro Zuschuss – statt bisher 3000 Euro. Und der Bund gibt weitere 2,5 Milliarden Euro aus, um die Ladenetze für E-Autos auszubauen, Batteriezellen zu entwickeln. Eine Kaufprämie für Diesel und Verbrenner beschloss die Bundesregierung auf Druck der SPD nicht.
In einem Land, in dem sich Gerhard Schröder mal als „Autokanzler“ feiern ließ, in dem mit Hildegard Müller eine Frau Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie wurde, die von 2005 bis 2008 Staatsministerin im Bundeskanzleramt (CDU) war. In einem Land also, in dem sich die Politik oft genug an dem orientiert hat, was ihr Automanager, Gewerkschaftsbosse, Lobbyisten vorschlugen, ist das ein ernüchterndes Signal an eine Branche, die sich am Gestank von Auspuffgasen berauscht hat. Fünf Jahre, nachdem der Dieselskandal bei Volkswagen in den USA aufgeflogen ist, hat diese Industrie noch immer ein veritables Imageproblem. „Wenn man einmal die Glaubwürdigkeit verloren hat, ist es unwahrscheinlich schwierig, sie zurückzubekommen“, sagt Engelmann, der trotz seiner Pläne für den Wandel doch immer noch Teil dieser Branche ist.
Eine der Pressesprecherinnen schaut zu ihm, tippt auf ihre Uhr, aber er ist noch nicht fertig. Genau genommen hat er erst angefangen, es geht ihm jetzt nicht mehr um Dächer und Ladestationen, es geht ihm um die Politik, um Washington und Peking, auch um die aktuelle Lage in Deutschland, wie könnte es nicht darum gehen. Blick zurück, noch eine Viertelstunde.
Webasto, sagt er, sei ebenso chinesisch, wie es amerikanisch sei. Aber natürlich ist das gerade nicht so einfach, hier die Werke in den USA von Donald Trump, da die Werke im China von Xi Jinping. Hier Kung Flu, da Handelskonflikte. Und er mittendrin. Engelmanns Lösung heißt Europa. „Wir müssen stärker zusammenstehen, um mit den Amerikanern und den Chinesen Kompromisse auszuhandeln“, sagt er. Und deshalb bräuchte Europa eine eigene Industriepolitik, die nicht nur reagiert, sondern auch agiert. Europa bräuchte das Selbstbewusstsein, bei bestimmten Themen ein Veto einzulegen. Zu sagen: So geht das nicht.
83 Millionen Deutsche gegen 1,4 Milliarden Chinesen, das klingt nicht nach einem fairen Match. 447 Millionen Menschen in der EU gegen 1,4 Milliarden Chinesen, das klingt schon besser. Auch das ist eine der politischen Lehren aus Corona: So wie Europa durch die Krise gekommen ist, könne es der Welt ein Gesellschaftsmodell zeigen, das gut funktioniert. Er redet jetzt schneller, begeistert. „Es ist sozialer ausgerichtet, nicht rein kapitalistisch ausgelegt, was am Ende ein gutes Miteinander bringt. Wir sollten das auch selbstbewusst nach außen so darstellen.“
Holger Engelmann ist gelobt worden für seinen Umgang mit dem Virus. Er hat entschieden, geregelt, geklärt, bevor irgendwas entschieden, geregelt oder geklärt war. Er hat das transparent gemacht. Er hat mit einem Kollegen telefoniert, der beatmet werden musste und er hat sein eigenes Glück nicht vergessen. Noch heute schränkt er sich ein, beruflich, privat. Er fährt nicht mehr in die Stadt, schlendert nicht mehr einfach über den Marienplatz, er geht, wenn überhaupt, nur noch gezielt in ein Geschäft. Er hat alle Geschäftsessen abgesagt, alle Dienstreisen, er hält stattdessen Videokonferenzen ab. Und deshalb ärgert es ihn, wenn sich andere nicht so verhalten, wie es geboten wäre.
„Wenn eine zweite Welle verhindert werden kann, indem alle Beteiligten die Regeln einhalten, sollte man das unter allen Umständen machen.“ Sonst gefährde man doch alles, was man bisher erreicht habe.
Holger Engelmann, der schon im Januar von dem Virus verfolgt wurde, schaut gerade sehr verwundert auf die Schweinefabriken eines Clemens Tönnies. Auf rund 1500 positiv getestete Angestellte, auf Menschen mit Werkverträgen, die sagten, sie hätten weiterarbeiten sollen und schweigen, weiterinfizieren und schweigen, auf einen Chef, der irgendwann behauptete, er habe ihre Adressen nicht herausgeben dürfen, um Kontaktketten nachzuverfolgen, sorry. Datenschutz!
Der Leiter des Krisenstabs erklärte, das Vertrauen zur Firma sei „gleich null“, die Landesregierung beschloss wieder Einschränkungen für die Kreise Gütersloh und Warendorf. Und auch wenn die Fleischindustrie nicht die Autoindustrie sei, sagt Holger Engelmann: „Unternehmenslenker haben eine Fürsorgepflicht gegenüber den Menschen, die für sie arbeiten – das ist ethisch selbstverständlich und auch arbeitsrechtlich verankert.“ Schließlich wüssten alle seit Monaten, wie sie andere schützen können. Das nicht zu tun, sei einfach fahrlässig. Wie frustriert ist er, wenn er so etwas wie in Ostwestfalen sieht? „Nach den ersten positiv getesteten Arbeitern hätte das Unternehmen meiner Meinung nach sofort reagieren, Mitarbeiter aufklären, Kontaktpersonen testen und in Abstimmung mit den Behörden alle Hebel in Bewegung setzen müssen, um die Infektionskette zu unterbrechen“, sagt er. So hätte man den Lockdown einer ganzen Region vermutlich verhindern können. Und weiter: „Gesundheitlich sind wir für eine zweite Welle gut aufgestellt, wir wissen, was wir tun müssen, wenn Infektionen auftreten“, sagt er. Sein Unternehmen habe sich ja im Crashkurs vorbereitet. Wirtschaftlich hingegen wäre ein zweiter Lockdown ein „Schlag für uns alle“.
Holger Engelmann schaut auf die Uhr, er muss jetzt wirklich weiter. Über Nacht wurde er vom Autodach-Manager zum Corona-Manager, er redet nicht mehr nur über Ladelösungen, sondern auch über Verantwortung, er wirbt nicht mehr nur für Cabriodächer, sondern auch für Masken, Abstand, Hygieneregeln. Er weiß ja, dass man das besser nicht dem Zufall überlässt.
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Einschübe:
Es hat ihn damals ziemlich
aufgeregt, dass seine Leute so
stigmatisiert wurden
Jahrzehntelang hat sich die
Branche am Gestank von
Auspuffgasen berauscht. Vorbei
Natürlich, die Fleischindustrie ist
nicht die Autoindustrie, aber
Fürsorgepflicht haben sie überall
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Bildunterschrift:
Webasto-Vorstandschef Holger Engelmann kämpft jetzt nicht mehr nur gegen Corona, sondern auch mit der einbrechenden Konjunktur.