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Ohne Kumpels und Kapital

von Sophia Bogner und Paul Hertzberg
brand eins vom 01.07.2019

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Ohne Kumpels und Kapital

In Äthiopien fordert eine Unternehmerin die Regierung heraus – weil sie keine Lust mehr hatte, Taxi zu fahren.

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Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie war 17 Jahre alt, er zwei. Sie war eine junge Äthiopierin, er war silbern und nicht größer als eine Handtasche. Noch nie hatte sie etwas wie ihn gesehen. Er war: ein Laptop. „Als ich auf der Tastatur A drückte, erschien auf dieser leuchtenden Fläche auch ein A“, sagt sie. Das war der Anfang von Samrawit Fikrus außerordentlichem Weg. „Was ist das?“, fragte sie ihren älteren Bruder. Er lachte und sagte: „Ein Laptop.“ Fikru wollte immer Ärztin werden. Jetzt hatte sie einen neuen Traum: „Ich mache etwas mit Computern.“ Und genau das hat sie getan. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten Digitalunternehmerinnen Äthiopiens, eine der berühmtesten Geschäftsfrauen des Landes und gerade einmal 29 Jahre alt.

Ihr Unternehmen Ride ist ein Fahrtenvermittlungsdienst, ähnlich wie Uber. Nur dass es Uber in Äthiopien nicht gibt. Wer in Addis Abeba von A nach B kommen will, „ridet“. In Äthio­piens Hauptstadt leben knapp vier Millionen Einwohner. Die Straßen haben keine Namen, aber eine Menge Schlaglöcher. Esel, rostige Minibusse und Passanten behindern den Verkehr. Trotzdem funktioniert Ride fast immer. Es sei denn, man steht um fünf Uhr morgens am Stadtrand, irgendwo im Nirgendwo.

Fikru tippt auf ihrem Handy herum, aber ihre App findet keine Rides. Es ist noch dunkel, aber sie will als Erste im Büro sein. Also muss sie ein gewöhnliches Taxi nehmen. Sie tut das ungern. Sie weiß, dass der Taxifahrer sie erkennen wird. „Sind Sie nicht die Ride­-Lady?“, fragt er dann auch, und schon an sei­nem Blick merkt sie: Das wird eine lange Fahrt. Seit es Ride gibt, kämpft das Unternehmen gegen die Taxigewerkschaft, gegen die Fahrer und gegen die Regierung. Fast hätte sie diesen Kampf verloren. Fast.

Fikru sieht nicht aus wie jemand, der sich mit der Regierung anlegt. Sie ist nicht klein, sie ist winzig. Sie trägt ausgelatschte Schuhe und ein Polo­Shirt, kein Make­up. Der erste Eindruck ist: IT­-Praktikantin. Nicht einmal ihre Familie hatte damit ge­rechnet, dass sie einmal erfolgreich werden würde. Als Kinder mussten sie und ihre acht Geschwister jeden Abend von ihrem Tag erzählen. Einer musste aufstehen und laut vortragen. „Präsentationstraining“ nannte ihre Mutter das. Samrawit war dafür meist zu schüchtern. Wenn sie sich doch einmal dazu durch­rang, winkte ihre Mutter häufig ab. „Samri“, sagte sie, „bleib sitzen.“

Samrawit Fikru ist jemand, der Ideen hat, niemand, der Ideen präsentiert. Der Einzige, der das immer sah, war ihr Bru­der Abraham. „Samri gibt nie auf“, sagt er. „Sie hält so lange durch, bis sie alles verstanden und verbessert hat.“ Abraham war es nicht nur, der ihr erklärte, was ein Laptop ist. Er war es auch, der ihr riet, genau wie er Informatik zu studieren. „Ich wusste immer, dass sie dieses Land verändern wird“, sagt er.

>> Es gibt noch viel zu digitalisieren <<

Es sieht so aus, als hätte der Bruder mit dieser Prophezeiung recht gehabt. Seine Schwester ist berühmt geworden. Ihre Fir­ma, Hybrid Designs, die hinter Ride steht, ist geschätzte sechs Millionen Euro wert. Umsatzzahlen will sie nicht verraten. Nur so viel, Ride sei profitabel. Mehr als 1.300 Fahrer und 200.000 Nutzer führt die App inzwischen zusammen. „Riden“ ist in Ad­dis Abeba zum Synonym für Taxifahren geworden, und an jeder Fahrt verdient Fikru mit: Zwölf Prozent des Fahrpreises gehen an ihre Firma.

Allem Erfolg zum Trotz erinnert der Firmensitz eher an ein Einwohnermeldeamt als an ein erfolgreiches Start­up. Hinter durchnummerierten Schaltern füllen Frauen in gelben Ride­-Shirts Formulare aus. Davor stehen Männer mit weiteren For­mularen und warten. Neonröhren flackern. Es riecht nach Men­schen, die Schlange stehen. „Alles zukünftige Fahrer“, sagt Fikru. „Sie melden sich gerade an.“ Im Nebenraum absolvieren andere ihr erstes Training. Inhalt: keine kurzen Hosen, keine privaten Gespräche am Steuer, keine waghalsigen Fahrmanöver.

Ride-Fahrer verdienen gut. Im Schnitt machen sie täglich zwölf Fahrten, und bei jeder verdienen sie zwischen vier und sie­ben Euro. Bis zu 1500 Euro im Monat kann ein Fahrer verdienen – mehr als das Zehnfache des äthiopischen Mindestlohns von etwa 140 Euro im Monat. Vor allem aber mehr als jeder Taxi­fahrer. Das ist Fikrus Hauptargument im Kampf gegen die Ge­werkschaft: Im Gegensatz zu Uber muss sich Ride nicht vorwer­fen lassen, dass Fahrer für einen Hungerlohn arbeiten. Und noch etwas hat sie verändert. „Es gab keine einzige Taxifahrerin in Addis“, sagt sie. „Jetzt gibt es mehr als 300. Ride ist ein System, das ihnen zu mehr Selbstständigkeit verhilft.“

Das perfekte System, das ist Fikrus Lieblingsthema. Überall in Äthiopien sieht sie Dinge, die verbessert werden müssen. Die Banken, das Verkehrswesen, die Industrie – ihr Ansatz ist im­mer der gleiche: „Das lässt sich digitalisieren.“ Als Fikru 18 war, arbeitete sie in einem CD­-Geschäft. Nachts schrieb sie ein Pro­gramm, das die Buchhaltung erleichterte. Mit 23 Jahren ent­wickelte sie eine Software, die großen Firmen helfen sollte, die Wartung ihrer Maschinen zu organisieren. „Beide Systeme wa­ren besser als alles, was es in Äthiopien gab“, sagt ihr Bruder. Kaufen wollte die Software trotzdem niemand.

>> Vom Markt isoliert <<

Äthiopiens Geschäftswelt wird immer noch von den klassischen Branchen dominiert. „Niemand investiert in Di­gitalunternehmen“, sagt Fikru. Nur wenige Frauen schaffen es an die Spit­ze. Hier machen Männer Geschäfte mit Männern. Es geht um Kumpels, Kontakte und Kapital. Fikru hatte nichts von alledem. Für potenzielle Kunden war sie nur eine junge Frau ohne Bling, die ein System verkaufte, das nur sie selbst verstand. Sogar als Ride später erfolgreich wurde und ei­nen Investor fand, fragte ihr Vater: „Wie kann das sein? Du kennst doch niemanden in der Regierung.“ Die Antwort ist vermutlich: weil Fikru nach zwei gescheiterten Projekten dieses Mal alles anders machte.

Als ihr die Idee für Ride kam, war sie 24 Jahre alt und wü­tend. Jeden Tag nahm sie ein Taxi von ihrer Wohnung zum Büro. Jeden Tag wurde sie abgezockt. Die Fahrer waren stets Männer, viele waren betrunken, vor manchen hatte sie Angst. In Addis Abeba nimmt man das so hin: Die windigen Taxifah­rer, das unverständliche Minibus­-System und die ewigen Staus – der Verkehr in der äthiopischen Hauptstadt ist in ganz Afrika berüchtigt. Aber Fikru wollte das nicht hinnehmen. Was sie sah, war ein Fehler im System, einer, den sie beheben konnte. Sie sah ein Produkt für alle, nicht nur für Firmen. Sie sah: eine App.

Ride vermittelt Fahrer und Kunden, es ist Plattform und On­line­-Taxameter in einem. Der Fahrpreis wird vom System festge­legt, die Fahrer finden ihre Kunden per GPS. Ride funktioniert per App, aber auch per SMS. Das ist wichtig, weil die Regierung, wie zuletzt 2018, im Ausnahmezustand das Internet abstellt.

Als sie 2014 anfing, Ride zu programmieren, hatte Fikru noch nie von Uber gehört. Kaum zu glauben, immerhin gab es Uber damals schon in Afrika. Aber in Äthiopien gehen die Uh­ren anders. (Buchstäblich, übrigens: Der äthiopische Kalender schreibt das Jahr 2011, und bei Sonnenaufgang ist es 0 Uhr äthiopischer Zeit.) Addis Abeba hat eine S-Bahn, Hochhäuser und Sushi-­Restaurants, aber der Großteil des Landes ist arm und abgeschieden. Für ausländische Unternehmen ist es schwer, hier Geschäfte zu machen. Die Regierung riegelt den Markt ab. Vor allem die Banken-­, Telekommunikations­- und Transport­sektoren bleiben Ausländern verschlossen. Deshalb ist es Uber noch nicht gelungen, sich in Äthiopien zu etablieren. Und das, obwohl das Land mit der zweitgrößten Bevölkerung Afrikas und einer wachsenden Mittelschicht ein attraktiver Markt ist.

Einmal hat sich Fikru mit dem großen amerikanischen Kon­kurrenten getroffen. Das war vor vier Jahren, Ride war gerade erst gegründet worden. Die Unternehmerin unterbreitete den Amerikanern ein Angebot: Ihr investiert in Ride, wir erschlie­ßen den äthiopischen Markt, und in ein paar Jahren könnt ihr die Firma zu einem heute festgelegten Preis kaufen. Uber lehnte ab. Fikru machte weiter, mit einem äthiopischen Geschäftsmann aus Kanada als Investor. Inzwischen glaubt sie, dass es, wenn überhaupt, noch dauern wird, bis Uber es in ihre Heimat schafft. Angst davor hat sie nicht. „Überall sonst freuen sich Menschen, wenn es etwas Neues gibt“, sagt sie. „Hier ist das anders. Äthiopier misstrauen dem Fortschritt.“

>> Wir wollen Ride zurück! <<

Das gilt auch für Ride. Am Anfang fuhren keine Privatleute für das Unternehmen, sondern Taxifahrer. Die durften die App um­sonst testen. Und das System hielt, was Fikru versprach: Die Taxifahrer hatten mehr Kunden, die Taxifirmen verdienten mehr Geld. Trotzdem beschwerten sich die Fahrer. Sie wehrten sich gegen den Festpreis, lehnten das GPS ab und wollten nicht, dass ihre App-­Profile Namen und Telefonnummern anzeigten. Als die Taxiunternehmen sich nach drei Monaten weigerten, Fikru ihre Provision zu zahlen, verlängerte sie die Testphase auf ein Jahr. Aber natürlich floss am Ende dieser Frist immer noch kein Geld. „Das war ziemlich naiv“, sagt sie heute. „Seitdem habe ich alles selber gemacht.“

Sie schaltete eine Anzeige auf Facebook. „Suche Fahrer für neue Taxi­App.“ Innerhalb von zwei Tagen meldeten sich 450 Männer. 100 wurden zum ersten Ride­-Training eingeladen. Da­für hatte sie den Konferenzraum im Radisson-­Hotel gemietet und eine Präsentation vorbereitet. Sie war nervös. Genau wie als Kind schon hasste sie es immer noch, vor Publikum zu sprechen. Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Es kamen nur zwei Fahrer. Sie hat das Training trotzdem durchgezogen.

Weil die Fahrer offensichtlich nicht zu ihr kamen, zog sie zwei Wochen lang jeden Tag durch Addis Abeba und hielt Se­minare auf Bürgersteigen und in Cafés, sie sprach Taxifahrer an, die im Schatten auf Kunden warteten, und Jungs, die mit ihren Privatautos vor Hotels und Restaurants nach Fahrgästen such­ten. Sie erklärte ihnen, dass man schwangeren Frauen die Tür aufhält und dass Autos immer sauber sein sollten. Sie zeigte ih­nen ihre App und ließ sie direkt auf der Straße unterschreiben. Danach hatte sie keine Angst mehr davor, öffentlich zu spre­chen, und eine App, deren Nutzerzahlen rasant in die Höhe schossen.

Jetzt konnte Fikru groß denken. Sie ging ein Joint Venture mit einem Taxiunternehmen ein, verhandelte mit der Regie­rung, ließ 750 neue Taxis vom chinesischen Hersteller Lifan für den äthiopischen Markt produzieren – und steuerfrei impor­tieren. Die gelb­grünen Autos fuhren jetzt zusätzlich zu den Privatleuten für Ride durch die Stadt. „Wir dachten, wir hätten es geschafft“, sagt Fikru, „und dann haben sie uns den Laden dichtgemacht.“

Eines Morgens kamen Männer in grauen Regierungs­anzügen, mit gelben Absperrbändern und einem gerichtlichen Beschluss. Fikrus Mitarbeiter wurden vor die Tür gesetzt, und ihr wurde gesagt, Ride sei hiermit verboten. Es sah aus wie das Ende.

Aber dann passierte etwas für äthiopische Verhältnisse Un­erhörtes: Die Kunden wehrten sich gegen die Regierung. Sie schrieben Beschwerdebriefe an den Transportminister, organi­sierten Unterschriften­Aktionen in Addis Abeba und forderten: Wir wollen Ride zurück!

Für Fikru ist der Fall klar: Die Regierung ist im Unrecht. „Wenn sie etwas nicht verstehen, machen sie es dicht“, sagt sie, „vor allem, wenn die Taxilobby so fleißig interveniert.“ Tatsäch­lich ist der Fall komplizierter. Es geht um einen weltweiten Kon­flikt: Bürokratie gegen Technologie, alte Gesetze gegen neue Geschäftsmodelle. Fikru hat es geschafft, diesen Konflikt für sich zu entscheiden. Sie hat den Bürgermeister von Addis Abeba angerufen und ist vor Gericht gezogen. Am Ende haben aber wahrscheinlich ihre Kunden den Ausschlag gegeben. Es dauerte zwei Wochen, dann wurden die Ride­-Büros wieder geöffnet.

Doch die Schlacht ist noch nicht gewonnen, da ist sie sich sicher. Vom Internetprovider bis zu den meisten Banken sind in Äthiopien alle Schlüsselsektoren in staatlicher Hand. Eigentlich auch der Verkehrssektor. „Die werden mich nicht vergessen“, sagt sie.

Abends um zehn verlässt sie ihr Büro. Dieses Mal findet sie ein Ride. „Sind Sie nicht die Ride-­Lady?“, fragt der Fahrer. Sie lächelt müde. Sie weiß, was jetzt kommt. „Ja, das bin ich“, sagt sie. Und er sagt: „Danke! Ich fahre Sie umsonst.“ Fikru nimmt das nicht als Kompliment, sondern als Affront. „Das geht nicht. Die App weiß, was ich dir schulde“, sagt sie. „Nur so funktioniert das System.“

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Bildunterschriften:

Nicht laut, aber beharrlich: Samrawit Fikru ist heute eine der wichtigsten Geschäftsfrauen Äthiopiens

Der Taxischreck: die Ride-App in den Händen eines Programmierers

Neue Fahrer braucht das Land: Bewerber in der Ride-Zentrale von Addis Abeba

Bitte recht seriös: Ride-Fahrer dürfen im Dienst weder kurze Hosen tragen noch private Gespräche führen

Auf dem ganzen Kontinent berüchtigt: der Verkehr von Addis Abeba