Lass die Mistkerle nicht gewinnen
von Lisa Nienhaus
Die Zeit vom 07.11.2019
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Lass die Mistkerle nicht gewinnen
Sie ist die erste Frau an der Spitze der Europäischen Zentralbank. Und sie ist keine Ökonomin. Das wird die Notenbank verändern
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Christine Lagarde ist nervös an diesem Mittwoch Ende Oktober. In wenigen Stunden wird sie das erste Mal an einer Sitzung des Rats der Europäischen Zentralbank teilnehmen. Noch als Gast, rechts neben Präsident Mario Draghi. 25 Mitglieder hat der Rat, darunter bislang genau eine Frau. Eine Runde von Männern in dunklen Anzügen, die im 41. Stock hoch über Frankfurt tagen und die normalerweise, wenn es mal langweilig wird, hinauf gen Decke starren und rätseln, welche Welle dort oben welches Land darstellt: Das Kunstwerk soll Europa symbolisieren. Eine Runde von Männern, die heute aber vor allem eine beobachten werden: sie, die neue EZB-Präsidentin.
Lagardes Namenskärtchen liegt schon bereit im Ratssaal, rechts neben dem Kärtchen »President«, das ein letztes Mal noch Draghis Platz zeigt. Aber jetzt führt sie erst einmal dieses Gespräch im Räumchen nebenan. Kerzengerade sitzt sie da die ersten paar Minuten, antwortet knapp, streng, beinahe ruppig. Später wird sie sagen, dass es ihr nichts ausmache, bossy genannt zu werden, herrisch. »Ich wüsste nicht, was falsch daran ist, solange man sich für Menschen interessiert und sie respektiert. Frauen können herrisch sein und sehr charmant.«
Für Letzteres ist sie eigentlich bekannt: Sie kann eine große Seelenruhe und Freundlichkeit ausstrahlen. Das wird sie ein paar Tage später bei der öffentlichen Verabschiedung von Mario Draghi in Vollendung zeigen. Da zitiert sie zum Schluss ihrer Rede Leonhard Cohen, um Draghis Amtszeit zu charakterisieren: »Ring the bells that still can ring. Forget your perfect offering. There’s a crack in everything. That’s how the light gets in.« Das könnte man so interpretieren: Draghi hat vieles anders gemacht, als es üblich war, aber dadurch hat er Europa vor einer finsteren Zukunft bewahrt. Diese Botschaft sticht hervor, damit können die Reden von Angela Merkel und Emmanuel Macron zuvor emotional nicht mithalten. Und Mario Draghi, der sonst so beherrschte Notenbanker, ist sichtlich gerührt, als er nach ihr ans Rednerpult tritt. Wenige Monate zuvor hat Lagarde ähnlich bewegend über Angela Merkel gesprochen. Am Montag lobte sie bei einer Preisverleihung ihren Freund Wolfgang Schäuble.
Das kann sie: mit Menschen umgehen. Mehr noch: Christine Lagarde versteht es, Menschen emotional zu überwältigen. Eine Qualität, die ihr unfassbar viele mächtige Freunde eingebracht hat. Und die ein Grund dafür ist, dass sie eine internationale Karriere gemacht hat, die Seltenheitswert hat. Selbstverständlich nicht der einzige Grund.
Heute zeigt sie erst einmal die Strenge, die auch zu ihr gehört, wie ehemalige Mitarbeiter zu berichten wissen. Um fünf Uhr morgens beginnt ihr Tag, dann liest sie, bereitet sich vor – und sie kann ungehalten werden, wenn Informationen, die sie dann braucht, noch nicht da sind. In Konferenzen pocht sie auf Manieren. Wer aufs Handy schaut, wird an den Pranger gestellt. Insbesondere wenn er das tut, während eine Frau redet. Und auf Abendveranstaltungen beruflicher Natur hat sie sich schon vor Jahren abgewöhnt, Alkohol zu trinken. Wenn man so hart arbeite wie sie, erzählt sie, gelte: »Manche Dinge muss man streichen.« Damit die Gastgeber nicht beleidigt sind, versteht sie es allerdings, sehr überzeugend so zu tun, als ob sie den Wein doch trinke. Sie hat das kürzlich mal im Fernsehen vorgeführt. Christine Lagarde kann auch ziemlich witzig sein.
Im 41. Stock braucht Lagarde einige Minuten, ein paar Fragen, bis sie die Strenge ablegt und dieses hemmungslose Lachen zeigt, das selbst den knurrigsten Bürokraten im Ordnungsamt erweichen würde. Vorher erzählt sie aber noch davon, wie Merkel und Macron sie auf dem G20-Gipfel im Japan im Juni gefragt hätten, ob sie EZB-Präsidentin werden wolle. Und auch, was sie als Erstes gedacht habe: Warum ich?
In harten Zeiten riet ihr der amerikanische Gastvater: »Don’t let the bastards get you«
Das klingt kokett, ist aber wahrscheinlich trotzdem wahr. Denn Lagarde hat zwar eine Karriere hinter sich, in der sie sowohl französische Finanzministerin mitten in der Finanzkrise als auch Chefin des Internationalen Währungsfonds war, immer die erste Frau auf den Posten. Sie ist eine der mächtigsten Frauen der Welt, aber streng genommen fehlt ihr für den neuen Job die Expertise. Sie ist keine Expertin für Geldpolitik, keine Ökonomin, sondern Juristin. Bekannte Notenbankpräsidenten waren oft bekannte Ökonomen: Ben Bernanke und Janet Yellen in Amerika, Mario Draghi in Europa. Viele waren Professoren, die meisten sind mindestens promovierte Ökonomen. Die deutsche Volkswirtin Isabel Schnabel nannte es »bemerkenswert, dass eine Juristin Chefin der Notenbank werden kann, während niemand auf die Idee käme, dass eine Ökonomin ein oberstes Gericht leiten könnte«.
Es ist gerade in der aktuellen Lage bemerkenswert. Die Notenbanken befinden sich an einem Punkt in der Geschichte, der nicht nur politisch, sondern auch aus theoretischer Sicht heikel ist: Ihre Rezepte funktionieren nicht mehr richtig. Wenn es trotz Negativzinsen etwa in Europa keinen Wirtschaftsboom gibt, sondern im Gegenteil Zeichen für einen Abschwung, dann entspricht das nicht der herrschenden Lehre. Längst läuft eine akademische Debatte darüber, was das bedeuten könnte und was man jetzt tun müsste.
Wäre es in einer solchen Lage nicht sinnvoll, dass eine Frau an der Spitze der EZB steht, die das präzise versteht? Eine intellektuelle Vordenkerin?
Als Lagarde sich entscheiden musste, ob sie die Stelle annimmt, hat sie Janet Yellen um Rat gebeten. Die war bis 2018 Notenbankpräsidentin in Amerika, ist eine renommierte Ökonomin und eine gute Freundin. Yellen riet sofort zu. Für sie, das erzählt Yellen [Medium], habe Lagarde alles, was eine EZB-Präsidentin brauche. Dazu gehört offenbar nicht zwingend, Star-Ökonomin zu sein, aber: Mut. Als Lagarde in Washington verabschiedet wurde und jeder auf der Abschiedsfeier ein Wort aussuchen sollte, das die Scheidende charakterisiert, wählte Yellen: »intrepid«, furchtlos.
Maurice Obstfeld, der unter Lagarde als Chefökonom des IWF fungierte, sieht es ähnlich: »Was Mario Draghi in der Krise getan hat, stand in keinem Lehrbuch.« Ben Bernankes Buch über seine Zeit als amerikanischer Notenbankchef trage den Titel The Courage to Act , »Der Mut zu handeln«. »Dafür braucht man keinen Doktor in Ökonomie«, sagt Obstfeld.
Lagardes Kollegen im Rat der EZB fürchten auch nicht etwa mangelnde Expertise. Sie sorgen sich, dass sie, weil nicht so besessen von Geldpolitik wie ihre Vorgänger, die Prioritäten anders setzt. Dass sie Klimaschutz zum Anliegen macht, globale Ungleichheit, Frauen in Führungspositionen. »Wenn die EZB eher Impulse bei softeren Themen gibt, wird sie vielleicht beliebter, besser wird sie dadurch aber nicht«, sagt ein europäischer Notenbanker. Vielmehr könne das sogar gefährlich sein. Zielkonflikte zumindest sind absehbar. Sollte die Notenbank sich etwa entscheiden, verstärkt grüne Anleihen zu kaufen, würde das dazu führen, dass sie, wenn sie aus geldpolitischen Gründen aus dem Anleihekauf aussteigt, automatisch auch ihren Klimaschutz zurückfährt. Ob das sinnvoll ist?
Christine Lagarde lässt sich bislang nicht beirren. Sie hat schon öffentlich gesagt, dass sie auf den Beitrag der EZB zum Klimaschutz Wert legen wird. Wie sie so etwas durchbringt in einer Umgebung, die hypersachlich an anderen Themen orientiert ist, kann man beim IWF beobachten. Dort hat sie den Stab zu einem Umdenken über die Bedeutung von Geschlechterthemen bewogen. Nicht, weil sie die es eine Sache der Gerechtigkeit nannte oder gut fürs Universum, sondern indem sie ein ökonomisches Argument daraus machte: Frauen zu ermächtigen macht die Volkswirtschaft widerstandsfähiger und steigert das Wachstum. Schon war man mittendrin in den Kernthemen des IWF.
Es liegt ein interessantes Missverhältnis darin, dass ihre Kritiker Themen wie Klimaschutz und die Gleichberechtigung von Frauen als »weiche« Themen bezeichnen. Für Lagarde sind sie das nicht. Es ist ungewöhnlich für eine Frau ihrer Generation, die es weit nach oben geschafft hat, die Frauenfrage dermaßen offensiv zu ihrem Thema zu machen. Angela Merkel oder Janet Yellen tun das nicht. Lagarde selbst führt das auf ihre Mutter zurück. Die war noch jung, als Lagardes Vater starb. Ihre vier Kinder brachte sie allein durch, arbeitete dabei in Vollzeit als Lehrerin. Doch statt Anteilnahme erlebte sie in der Normandie der frühen 1970er-Jahre Ausgrenzung. Zu Veranstaltungen, die sie stets mit ihrem Mann besucht hatte, wurde sie nicht mehr eingeladen; mancher blickte auf sie herab. »Zu sehen, dass meine Mutter die Last der Diskriminierung tragen musste, nur weil sie eine junge Witwe war und in einigen Kreisen nicht mehr akzeptiert wurde, nachdem mein Vater verstorben war, hat mich ein paar Dinge im Leben gelehrt«, sagt Lagarde. Die Mutter resignierte nicht, Lagarde auch nicht. Sie entwickelte stattdessen Kampfgeist. Der Washington Post hat sie einmal erzählt, was ihr Gastvater aus Amerika ihr stets riet, wenn sie in einer schwierigen Lage war: »Don’t let the bastards get you.« Frei übersetzt: »Lass die Mistkerle nicht gewinnen.«
Lagardes Kritikern geht es allerdings auch um etwas anderes, wenn sie die neuen Themen skeptisch betrachten. Sie wollen die Notenbank nicht mit Aufgaben überfrachten. Die Debatte führt ins Herz des Konflikts um die Europäische Zentralbank. Wie politisch soll und darf die Notenbank sein? Und wo überschreitet sie ihr Mandat? Das lautet zuerst einmal: Preisstabilität. Und erst, wenn das gewährleistet ist, auch: Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Vollbeschäftigung.
Gerade viele deutsche Ökonomen und auch die Bundesbank finden, dass die EZB sich lieber zurückhalten und auf die Kernaufgabe konzentrieren sollte: stabiles Geld. Sie fürchten, dass es am Ende schlecht ausgeht, wenn das wichtigste Ziel der Notenbank von zu vielen Nebenzielen Konkurrenz bekommt. Mario Draghi hat es nach dieser Ansicht übertrieben, indem er versuchte, die gesamte Wirtschaft Europas zu steuern. Der Kauf von Staatsanleihen, der nun wieder aufgenommen wird, ist besonders umstritten. Zuletzt war sogar der EZB-Rat selbst tief gespalten über die Frage, ob das aktuell wirklich notwendig ist. Ob Themen wie Klimaschutz oder Geschlechtergerechtigkeit ähnlich kontrovers wären, ist nicht ganz klar. Sie berühren allerdings die gleiche Frage.
Christine Lagarde bittet um Verständnis, zu dieser Frage jetzt noch nichts sagen zu wollen. Gefragt nach ihrer größten Aufgabe in den ersten Monaten, antwortet sie: »das Mandat erfüllen«, um dann laut zu lachen, weil sie erstmals im Gespräch eine Notenbanker-Phrase verwendet hat. Und Jargon ist etwas, das sie als Tochter eines Professors für englische Literatur und einer Lehrerin für alte Sprachen eigentlich verachtet.
Freunde und Feinde sind sich aber längst einig: Die EZB wird unter ihr politischer sein denn je. Der ehemalige IWF-Chefökonom Maurice Obstfeld erwartet, dass sie das Feld weiten wird: »Schließlich ist sie eine ökonomische Anführerin für die Euro-Zone als Ganzes. Und davon gibt es nicht sehr viele.«
Auch geldpolitisch erwartet niemand eine Wende von ihr. Wohl aber im Stil. Mario Draghi beriet sich vor allem mit einer kleinen Truppe – und zog die Sache dann durch, auch gegen Widerstand. Christine Lagarde wird das anders machen. Gefragt nach ihrer Hauptaufgabe, nennt sie außer dem Erfüllen des Mandats noch eine zweite: »Sicherstellen, dass das Team funktioniert und zusammenhält. Das sind meine zwei Gebote.« Dass sie das kann, hat sie beim IWF gezeigt. Indem sie Leute befördert hat, die keine Einzelkämpfer waren. Aber auch, indem sie die endlosen, leidenschaftlich geführten Debatten über das Für und Wider ökonomischer Fragen als das erkannt hat, was sie auch sind: die Hahnenkämpfe der Ökonomen. Und sie abgekürzt hat. Mit der Ermahnung, jetzt bitte mal Gemeinsamkeiten zu suchen.
Ob das alles dazu führt, dass sie die Deutschen mit der EZB versöhnen kann? Eine Sonderbehandlung stellt sie jedenfalls nicht in Aussicht. »Deutschland ist wichtig, aber es ist eines von 19 Ländern der Euro-Zone. Ja, es ist eine sehr große Volkswirtschaft, aber alle anderen müssen auch an Bord sein.« Nichtsdestotrotz könnte sie bereit sein, mehr Kompromisse einzugehen als ihr Vorgänger. Nicht aus Überzeugung, sondern aus politischer Klugheit.
Inhalte sind ihr dabei nicht unwichtig. Den IWF hat Lagarde politisch geöffnet und ökonomisch nach links geführt. Früher war der Fonds knallhart mit seinen Sparauflagen für notleidende Länder, heute halten ihn viele Beobachter schon für zu weich. So gilt die Zusage des Fonds im vergangenen Jahr, 57 Milliarden Dollar Finanzhilfen an Argentinien zu leisten, ihnen als Fehler.
Das gilt insbesondere in Deutschland, traditionellerweise das Land, das auch innerhalb der EZB die sogenannten Falken stellt. Falken sind in der Notenbankersprache diejenigen, die eher hart sind und eine strenge Geldpolitik mit höheren Zinsen befürworten. Ihnen gegenüber stehen die sogenannten Tauben, die eher nachgiebig sind, die Zinsen lieber senken oder lange niedrig halten. Bundesbankpräsident Jens Weidmann ist ein Falke, Mario Draghi eine Taube. Und Christine Lagarde? Sie mag es nicht, Menschen in Tauben und Falken aufzuteilen, das sei doch ein sehr restriktiver Ansatz. »Ich hoffe, ich werde stattdessen eine Eule sein«, sagt sie. »Ich mag Eulen. Sie sind sehr weise Tiere.«
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Einschübe:
In harten Zeiten riet ihr der amerikanische Gastvater: »Don’t let the bastards get you«
Freunde und Feinde sind sich einig: Die EZB wird unter ihr politischer werden denn je
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Bildunterschrift:
Ist die Präsidentin der EZB eine Taube oder ein Falke? »Ich hoffe, ich werde eine Eule sein«, sagt sie