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In den Trümmern der Macht

von Jan Guldner und Konrad Fischer
WirtschaftsWoche vom 17.01.2020

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

In den Trümmern der Macht

Spitzenmanager zelebrieren in Davos ihren Einfluss - und propagieren das Gegenteil: die Abschaffung aller Hierarchien. Agiles Arbeiten macht den Alltag angenehm, doch der Preis ist hoch. Entscheidungen bleiben offen, Lautsprecher gewinnen, an die Stelle von Regeln treten animalische Triebe. Wie soll man da Karriere machen?

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Aus ihrem Eckbüro im ersten Stock eines Altbaus in der Genfer Innenstadt blickt Sidonie Golombowski-Daffner auf die vorbeirauschende Rhône. Der Fluss hat hier gerade die Weite des Genfer Sees hinter sich gelassen und nimmt plötzlich, wild und rau, an Fahrt auf. So ähnlich stellt Golombowski-Daffner sich das auch für die Organisation hier drinnen vor. Noch fließt die Macht im Unternehmen in einem behäbigen Strom aus ihrer offenen Bürotür. Aber schon bald soll sie sich kraftvoll ergießen über die Flure, soll schäumen und sprudeln im ganzen Unternehmen. Golombowski-Daffner ist Chefin des Krebstherapieanbieters Advanced Accelerator Applications (AAA), einer Tochterfirma des Pharmakonzerns Novartis. Sie ist hier angetreten, um sich selbst zu entmachten. Und alle anderen Führungskräfte gleich mit.

Aber wie soll das gelingen, wenn die meisten der 1000 Mitarbeiter dabei auf ihre Chefin blicken - weil nur sie die Macht zur Selbstentmachtung hat? Es habe sie überrascht, "wie viele Entscheidungen über meinen Schreibtisch laufen", sagt die deutsche Managerin. Es sei nicht ihre Aufgabe, jeden Schritt vorzugeben und zu kontrollieren. Es sei ihr "Job als Führungskraft, die Mitarbeiter zu inspirieren, ihnen zu erklären, warum wir etwas tun" - nichts weiter. Mehr Autonomie. Mehr Kreativität und Selbstverantwortung. Mehr Innovationskraft und Produktivität - darum geht es.

"Unboss" nennen sie das bei Novartis, ein Konzept, das zwei dänische Buchautoren vor ein paar Jahren skizziert haben - und das Novartis-CEO Vasant Narasimhan gut gefiel. Vas, wie sie ihn hier nennen, ist ein charismatischer Redner, der Selfies bei Instagram veröffentlicht und bei LinkedIn von seinen Fastenroutinen erzählt. Er verkörpert perfekt die neue Unternehmenskultur der freiwilligen Ent-Chefung, versteht sich nicht als Befehlsherr, sondern als Ermöglicher - nicht als Vorgesetzter von knapp 130 000 Mitarbeitern, sondern als ihr Diener.

Vas fällt damit aus der Rolle, wenn er beim Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos in diesen Tagen auf Hunderte Firmenbosse, Nobelpreisträger und Spitzenpolitiker trifft. Veranstalter Klaus Schwab zelebriert hier seit fast 50 Jahren ein Hochamt der Macht. Man interessiert sich für eine bessere Wirtschaftsordnung - und dafür, wer der Wichtigste unter den Wichtigen ist: Welcher Sicherheitsaufwand wird für welchen Gast betrieben? Wer sitzt mit wem auf welcher Bühne? Und welches Statement schafft es in die Abendnachrichten?

Man muss kein antiautoritärer Hierarchiegegner sein, um die Krull'schen Posen der Mächtigen, die Zurschaustellung von Einfluss und Autorität so unzeitgemäß zu finden wie die heroischen Gesten derjenigen, die Davos demonstrativ eine Absage erteilen. In diesem Jahr ist es Englands Premier Boris Johnson, der mit seinem gesamten Kabinett dem WEF wortreich fernbleibt - um sich daheim um die echten Probleme der Menschen zu kümmern, "anstatt mit Milliardären Champagner zu trinken". Er markiert damit ziemlich exakt die Grenze zwischen Anbiederung und Machtverzicht, auf der sich moderne Manager ohne Sekretariat und Krawatte heute auch in ihren Unternehmen bewegen - hübsch eingekleidet in Schlagworte wie "New Work", "agile Organisation", "Holokratie" - oder eben "unbossing".

Dahinter steckt letztlich stets die gleiche simple Annahme: weniger Chefs, mehr Erfolg. Wer die Hierarchie zerstört, verschafft Mitarbeitern einen tieferen Sinn, überträgt ihnen Selbstverantwortung, gewinnt ihre Kreativität und Begeisterung. Die Top-Manager, die sich wie Novartis-Chef Vas Narasimhan weiterhin gerne in Davos blicken lassen, müssen deshalb ein Kunststück aufführen, dass ihnen ihr Beruf inzwischen jeden Tag abverlangt: die gleichzeitige Ausübung und Verleugnung von Macht. Nur weil CEOs ihren Angestellten neuerdings das Du anbieten, in Jeans und T-Shirt ins Büro kommen und sich selbst nicht mehr Chef nennen wollen, ändert sich das Entscheidende nicht: Die Mächtigen sind sie.

Wer ihnen zwischen den Trümmern der Hierarchie nachfolgen will, hat es schwer. Die Chefs von heute kletterten in der alten Ordnung die Karriereleiter hoch - und stoßen sie nun um. Was allen anderen damit fehlt, ist ein vorgezeichneter Weg - auch Mitarbeitern, die Leistung bringen, nach vorne kommen, Gipfel erstürmen wollen. Sie sind gezwungen, einen Aufstieg ohne Route zu wagen. Sie müssen auskundschaften, ob "flache Hierarchien" weniger Sicherheit und Geld oder mehr Selbstbestimmung und Chancen bedeuten. Und herausfinden, an wem es vorbeizukommen gilt auf dem Weg - nach ganz oben?


ES PASSIERT: ERST MAL NICHTS

Wie anders die Welt ohne Vorgesetzte und fixe Verantwortung noch werden kann, merkt man beim Berliner Unternehmen Dark Horse schon bei der ersten Kontaktaufnahme. So viel vorweg: Diese Welt ist nicht unkomplizierter. Es gibt nur eine unspezifische Mailadresse: hello@. Man wolle mehr über das Konzept der Gleichberechtigung aller Mitarbeiter erfahren, mit wem man denn da bitte sprechen könne? Ein paar Minuten später antwortet "Nina": "Ich habe deine Anfrage im Team gestreut und sobald ich Rückmeldung habe, melde ich mich wieder." Und dann passiert: erst mal nichts.

Dabei wäre es besonders interessant, mehr über dieses kleine Berliner Unternehmen zu erfahren. Die Managementberatung Dark Horse hat auf die Spitze getrieben, was der Rest der Wirtschaft bisher nur ansatzweise probiert: die restlose Befreiung eines Unternehmens von Hierarchien. 30 Studenten der School of Design Thinking von der Universität Potsdam haben das Unternehmen gegründet, um die Methoden zu erproben, die die Einrichtung der Universität vermittelt - hübsche Idee. Aber wie überträgt man das Konzept der gruppengesteuerten Kreativität, wie sie gute Designteams auszeichnet, aufs Management? Nach ihrem Studium, beschreiben die Potsdamer in einem Buch über ihr Projekt, hätten sie feststellen müssen, dass es in der Wirtschaft keine Möglichkeit gab, das umzusetzen, was sie gelernt hatten. Also gründeten sie selbst ein Unternehmen.

In "Thank God it's Monday!" breiten die Gründer dann all die Vorteile aus, die sich auch der Rest der Wirtschaft vom Abbau der Hierarchien verspricht: Sobald Teams an die Stelle von Befehlsketten treten, verwandelt sich Gehorsam in Selbstverantwortung. Mitarbeiter sorgen sich dann nicht mehr darum, die Wünsche des Chefs umzusetzen, sondern nutzen ihre Expertise, treffen selbst Entscheidungen - und holen das Fachwissen anderer ein, sobald sie die Grenzen ihrer Kompetenz erkennen. Sie fühlen sich für die von ihnen getroffenen Entscheidungen verantwortlich, weil sie nicht unter Druck getroffen wurden, sondern aus Überzeugung. Die neue Freiheit stärkt die intrinsische Motivation, den Zusammenhalt der Gruppe - und die Loyalität der Mitarbeiter zum Unternehmen. Der Aufstieg an die Spitze, das ultimative Karriereziel früherer Tage, verliert dabei naturgemäß an Bedeutung.

So weit die Theorie. Dass die Praxis anders aussieht, offenbart die Slapstick-Kommunikation mit Dark Horse. Es dauert zwei Wochen, bis "Nina" sich wieder meldet: "Leider habe ich keine Rückmeldung aus dem Team erhalten. Tut mir sehr leid." Und wie sieht's mit den Gründen aus? "Wir lösen das nach dem Pull-Prinzip. Ich leite die Anfragen an das Team weiter und jeder, der Zeit und Interesse hat, gibt mir eine Rückmeldung, dass er sie die Anfrage übernimmt." Das heißt: Fehlen Zeit und Interesse bleiben Anfragen eben unbeantwortet.

Stefan Kühl nennt so etwas Verantwortungslücken. Er ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld, Partner der Beratung Metaplan und setzt sich bereits seit Mitte der Neunzigerjahre mit dem Thema Hierarchieabbau auseinander - ein Thema, das "heute absoluter Common Sense unter deutschen Spitzenmanagern" ist, sagt Kühl. Er warnt Konzerne, vor lauter Demokratisierungswillen eine Struktur der Verantwortung preiszugeben: "Wo die Hierarchie ganz fehlt, bleiben viele Entscheidungen schlicht unbearbeitet."

Das liegt auch an fehlenden Anreizen. Wer in der alten Welt durch kluge Entscheidungen auf sich aufmerksam machte, empfahl sich damit für einen Sprung nach oben im Organigramm. Es winkten Statuszuwachs und monetäre Gewinne. In einer Welt ohne Organigramme dürfen Entscheider allenfalls erwarten, dass von ihnen erwartet wird, nichts weiter zu erwarten.

Kühl beobachtet das Phänomen in einem System, in dem die Macht bereits seit Jahrzehnten ziemlich gleich verteilt ist: in Universitätsfakultäten. "Wir Professoren sind sehr frei in unseren Entscheidungen", sagt Kühl, "auch was unsere Beteiligung an allem angeht, das die gesamte Fakultät betrifft." Und das hat Folgen. Man sei sich seit Jahren einig in der Unzufriedenheit über den Wissensstand der Absolventen - und auch darin, "dass wir daran etwas ändern sollten", so Kühl: "Aber die Initiative ergriffen hat bis heute keiner." Der Fall sei typisch für die "Entscheidungsdiffusion" in agilen Organisationen, in denen es unterhalb der obersten Führungsebene keine definierten Verantwortlichkeiten mehr gebe.


RADIKALE EXPERIMENTE

Es vergeht eine weitere Woche, ehe bei Dark Horse doch noch ein Mitarbeiter die Verantwortung übernimmt. Fried Grosse-Dunker gehörte 2010 zu den Gründern, gerade geht seine Elternzeit zu Ende. Er ist vom Leben in der führungsfreien Zone nach wie vor begeistert, räumt aber ein: "Entscheidungen dauern bei uns länger." Und ja, richtig: Man könne Mitarbeitern keine klassische Karriereentwicklung aufzeigen: "Persönlicher Erfolg hängt bei uns allein mit dem Erfolg des Unternehmens zusammen." Wer hier arbeite, bemesse seinen Wert nicht an der Höhe seines Gehaltes oder am Status einer Führungskraft, "sondern an der Entwicklung seiner Persönlichkeit".

Radikale Experimente wie Dark Horse sind (daher) bisher die Ausnahme. Das größte Unternehmen ohne Führungskräfte ist der US-amerikanische Onlineshop Zappos mit gut 1500 Mitarbeitern. In Deutschland probierte sich das Vermittlungsportal traum- ferienwohnungen.de (150 Mitarbeiter) am Konzept der Hierarchielosigkeit; aber seit 2019 der indische Hotelkonzern Oyo bei dem Bremer Start-up eingestiegen ist, werden die 2015 abgeschafften Führungskräfte teilweise wieder eingeführt. "Ich kenne kein Unternehmen mit mehr als ein paar Dutzend Mitarbeitern, das wirklich ohne Führungskräfte auskommt", sagt Organisationsforscher Kühl.

Und doch werden gleichzeitig, in fast allen Branchen, Führungsebenen geschleift. Der Ökonom Raghuram Rajan hat in einer Studie herausgefunden, dass eine Führungskraft heute im Durchschnitt doppelt so viele Mitarbeiter wie vor 30 Jahren beaufsichtigt. Das bedeutet im Umkehrschluss: Im Verhältnis zu der Gesamtzahl an Beschäftigten nimmt die Zahl der Führungskräfte ab. Und das bedeutet auch: Die Pfade, die Gipfelstürmer früher einschlugen, laufen immer häufiger ins Leere.


BEDÜRFNIS NACH STRUKTUREN

Sidonie Golombowski-Daffner kann sich gut an die Zeit erinnern, als es bei Novartis noch echte Bosse gab: "Man war stark mit der internen Politik beschäftigt, schaute ständig nach rechts und links, um zu sehen: Wer hilft mir? Wer schadet mir? Wie sichere ich meine Machtposition?" Trotzdem empfand sie die neue Offenheit nicht sofort als Segen: "Ich bin in der alten Organisation groß geworden und habe darin offenbar einiges richtig gemacht. Da hatte ich zunächst Zweifel, ob ich die Richtige bin, diesen Wandel zu leiten."

Golombowski-Daffner stellte sich in Coachings ihren Zweifeln und Ängsten. Sie lernte, ihren Hang zur Kontrolle und ihr Bedürfnis nach klaren Strukturen zu hinterfragen. Und genießt die neue Organisation heute: weniger Ellenbogenmentalität, mehr Zusammenarbeit - und mehr Zeit, sich mit Sachfragen zu beschäftigen, "weil ich nicht ständig über die Machstrukturen im Konzern nachdenken muss".

Kann man sich bei Novartis noch nach oben arbeiten? Für die AAA-Chefin steht das außer Frage. Entscheidungen würden oft im Team getroffen; daher gebe es für Menschen mit Führungsanspruch viel häufiger die Gelegenheit, sie zu zeigen. Gerade wenn sich eine Gruppe nicht einigen könne, brauche es Mitarbeiter, die lösungsorientiert dächten und positiv gestimmt lenkten. Damit falle man Vorgesetzten auf. Damit knüpfe man über Abteilungsgrenzen hinweg Kontakte: "Man muss jetzt ein starker Netzwerker sein, um voranzukommen", sagt Golombowski-Daffner.

Unboss-Boss Vas Narasimhan ist da weniger explizit. Er sprach kürzlich davon, ein "accidental CEO" zu sein: ganz so, als sei er eines morgens zufällig ins Vorstandsbüro des Milliardenkonzerns gestolpert - und probeweise dageblieben. Sind solche Übertreibungen wirklich nötig, um den Kulturwandel besser zu verkaufen? Wie "unbossed" kann ein Unternehmen sein, das neben einem CEO noch 17 weitere Vorstände und Divisionsverantwortliche ausweist?

So oder so - empirische Studien belegen, dass die Folgen des Abbaus von Hierarchien paradox sind: "Macht wird dadurch nicht dezentralisiert, sondern im Gegenteil an der Spitze zentralisiert", sagt Soziologe Kühl. Die US-Ökonomin Julie Wulf etwa hat gezeigt, dass die Zahl der Personen, die direkt an den Vorstandschef berichten, zunimmt, wenn Firmen Hierarchieebenen abbauen. Das heißt erstens: Die Zahl der Chefs sinkt, nicht aber deren Machtfülle. Und das heißt zweitens: Die oberste Ebene saugt nicht den ganzen Teil der früher in Hierarchien gebundenen Macht auf - es bleibt ein Rest, den sich diejenigen aneignen, die die neu entstandenen Lücken erkennen und für sich nutzen. Sie operieren oft ohne Mandat und mit informeller Macht. In der alten Welt war die Akkumulation dieser informellen Macht nur ein Mittel zum Zweck des Erwerbs echten Einflusses. In der neuen Welt ist sie ein Karriereziel an sich.


GRÜBLER HABEN KEINE CHANCE MEHR

Wie das abläuft, sieht Stefan Wegner fast täglich. Der Werber leitet seit 2008 die Agentur Scholz & Friends Agenda und möchte auf Augenhöhe mit seinen Mitarbeitern arbeiten. Wegner weiß, dass sich die Art und Weise stark verändert hat, wie Mitarbeiter an Einfluss gewinnen. Er beobachtet einerseits einen Machtgewinn durch Fachwissen: Man benötige für heutige Werbekampagnen viele unterschiedliche Kompetenzen. Und "die Mitarbeiter, die über sie verfügen, haben auch ein Stück mehr Macht".

Er sieht aber auch eine Art Machtbonus für Initiativfreudige. In Strukturen, die mehr Eigenverantwortung zulassen, drifteten Projektgruppen bisweilen ins Chaos ab. Und "wer in einem unklaren Raum die Initiative ergreift, nicht wartet, sondern etwas tut und vorangeht - der zeigt, dass er führen will", sagt Wegner: "So machen die Leute hier Karriere." Allerdings greife in solchen Momenten stets ein bestimmter Typ Mitarbeiter nach der Macht. Während die wägenden, nachdenklichen Kollegen noch grübelten, rissen die Mutigen und Selbstsicheren die erste Entscheidungsgewalt an sich.

Michael Pauen ist überzeugt: Mögen sich auch noch so viele Organisationen heute agil nennen und fortschrittlich wähnen - das Verhalten des Menschen lässt sich nicht begreifen, ohne seine animalischen Wurzeln zu verstehen: Zurück zur Natur! Das Verhalten etwa, das der Werber Wegner beschreibt, erinnere ihn an Muster in Fischschwärmen: Sie verändern ihre Richtung oft, sobald einzelne Fische sich umorientieren. Einzige Bedingung: "Die Bewegung muss eindeutig und kräftig sein."

Philosoph Pauen leitet an der Berliner Humboldt-Universität die School of Mind and Brain. Der Name soll anzeigen, dass hier, in einem klassizistischen Palais gegenüber der Charité, zusammengedacht wird, was sich eigentlich noch nie getrennt erforschen ließ: Psychologie und Philosophie, Trieb und Ratio.

Pauen fragt sich, auf welchen Wegen Menschen Macht erlangen, wenn es keine formalen Auswahlprozesse gibt. Und er ist überzeugt: "Je weniger Hierarchien es in Unternehmen gibt, desto mehr gewinnen die evolutionär in uns angelegten Methoden der Machtausübung an Bedeutung." Anders gesagt: Ohne zivilisatorische Rahmen sind die Menschen, die "mit dem Kopf und dem Mund den Fortschritt geschaffen", so Erich Kästner, "noch immer die alten Affen". Sie neigen dazu, sich in Gruppen einzuordnen - und Mächtigen unterzuordnen. Und sie spüren auch in Abwesenheit von Rangzuweisungen und Titeln, wo die Macht liegt - nämlich bei dem, sagt Pauen, "der groß ist, der laut spricht, der als Erstes das Wort ergreift - ganz gleich, "ob das auch der mit der besten Idee ist".

Dass sich mitunter offensichtlich ungeeignete Führungskräfte als solche durchsetzen, wenn es keine formalisierte, an Leistungskriterien orientierte Auswahl gibt, hat der Bamberger Psychologe Christian Wolff in einem ungewöhnlichen Experiment gezeigt. Er beobachtete Gruppen von Studenten, die Siedler von Catan spielen - ein Gesellschaftsspiel, das eine gute Kombination von Konkurrenz und Kooperation voraussetzt: Koordinierte Entscheidungen können zu besseren Ergebnissen für alle führen; einzelne Entscheidungen für manche Spieler extrem nützlich sein, langfristig aber allen anderen schaden.

Wolff befragte die Studenten nach dem Spiel zu ihrer Einschätzung der Mitspieler. Und kam zu dem Schluss: "Aggressive Spieler, die sich auf Kosten anderer bereicherten, wurden einerseits negativ eingeschätzt, andererseits aber als starke Führungspersönlichkeiten wahrgenommen." Oder, mit den Worten des spätmittelalterlichen Staatsphilosophen Niccoló Machiavelli: "Es ist besser, als Fürst gefürchtet zu sein als geliebt." (siehe Kasten) Für fachlich versierte und zurückhaltende Menschen muss das ernüchternd klingen. Wenn die Lautsprecher immer gewinnen - wie kommen dann die eigentlichen Leistungsträger voran? Ganz klar: Ohne Marketing in eigener Sache geht es nicht. Und der gezielte Machtgriff will geübt sein: in kleinen Runden, die das Zutrauen stärken - und in denen man schrittweise, Stück für Stück, kraft Evidenz und Expertise, auf sich aufmerksam macht.

Um solche Entwicklungen zu ermöglichen, geht die Abschaffung von Hierarchien oft mit dem Aufbau zusätzlicher Bürokratie einher. Bernadette Tillmanns-Estorf, würde das nie so sagen, gewiss. Doch das, was sie erzählt über ihren Einsatz für den Medizintechnikkonzern B. Braun, spricht für sich.

Tillmanns-Estorf ist schon seit 1996 im Konzern, vor drei Jahren sollte sie auf Wunsch des damaligen CEOs die Abteilungen Kommunikation und Personal umstrukturieren - und dabei die Machtwelt im Konzern von Grund auf neu ordnen. Ihre mehr als 50 Mitarbeiter finden sich seitdem in Teams zusammen - je nachdem, für welche Projekte und Aufgaben sie sich interessieren. Wie sie zu Ergebnissen kommen, entscheiden sie eigenverantwortlich.

Um das Risiko der (un-)organisierten Verantwortungslosigkeit zu minimieren, hielten Tillmans-Estorf und ihre Kollegen Verhaltensregeln in einer Art Verfassung fest, die für alle zugänglich ist. Um im Zweifel entscheidungsfähig zu sein, gibt es zudem einen Entscheiderkreis, in dem sie und drei Kollegen etwa Budgetfragen lösen. Die Managerin ist begeistert von dem Konzept: "Als Führungskraft gibt man Macht in die Teams ab", klar. Aber man bereue es keineswegs. Im Gegenteil. Perspektivisch könne sie sich sogar vorstellen, dass Abteilungs- oder Bereichsleiter wie sie von den Mitarbeitern selbst gewählt würden.


PRINZIP VIDEOSPIEL

In der alten Welt war gerade die geschickte Wahl loyaler Untergebener ein wichtiges Mittel zur Machtabsicherung. In der neuen Organisationsform funktioniert Karriere anders: Wer aufsteigen will, muss kandidieren, um Zustimmung werben - und vielleicht auch großzügig versprechen, was womöglich nicht gehalten werden kann. Sichtbarkeit und Prestige sind die entscheidenden Währungen. Und das bedeutet: Narzissten sind im Vorteil.

Andererseits, auch das zeigen solche Beispiele, müssen Mitarbeiter heute deutlich subtilere Methoden anwenden, um in einer Organisation flacher Hierarchien nach oben zu kommen. Und je weiter die Entcheffung getrieben wird, desto häufiger stehen junge Karrieristen vor dem Problem, dass die nächste Stufe zu weit entfernt liegt, um sie zu erreichen.

Dieses Problem ist auch Werbemann Wegner bereits begegnet. Er vermutet, dass die Ausbreitung agiler Arbeitsformen in Firmen einen paradoxen Effekt hat: Der öffentliche Dienst gewinne wieder an Attraktivität; dort gebe es noch Karrieren nach dem Videospiel-Prinzip: Wer in einem Level genügend Punkte sammelt, schafft es automatisch ins nächste. Und ein klar absehbarer Karrierepfad diene der Motivation.

In agilen Unternehmen, so hat Soziologe Kühl es beobachtet, bauen Mitarbeiter stattdessen eigene "Machtbasen" auf. Erfolgreich sei vor allem, wer Kundenkontakte sammeln könne, überdurchschnittlich gut intern vernetzt sei oder ein besonderes Maß an spezifischem Fachwissen aufbaue.

Für den persönlichen Karrierefortschritt, so Kühl, sei es total rational, "sich genau so zu verhalten". Aus Unternehmenssicht jedoch seien diese Machtbasen ein Problem. Denn besonders agile Mitarbeiter würden dadurch unersetzbar. Sie könnten entweder extrem hohe Gehälter durchsetzen oder ihr Machtkapital irgendwann abziehen - und sich selbstständig machen. Der beste Weg, in einer hierarchiefreien Organisation den Aufstieg zu meistern, wäre dann: der Ausstieg.

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Kasten:

Fürstliche Lektionen

Der Staatsphilosoph Niccolò Machiavelli gilt als Urvater der Machttheorie – und Meister der rauen Führungsmethoden. Für das Leben in agilen Organisationen lässt sich von ihm dennoch einiges lernen.

Auch wenn die historischen Belege dafür fehlen: Es muss
den Renaissancedenker Niccolò Machiavelli zweimal gegeben haben. Anders lässt sich kaum erklären, warum sich sein Ruf und seine tatsächlichen Werke so sehr voneinander unterscheiden. Hier der von Machtgier besessene Unmensch, dem jede Moral als Ballast gilt. Dort der Taktiker, der die Umgangsformen seiner Zeit kennt und sie für den Erfolg wohlmei- nender Fürsten einsetzt. Hier der Namensgeber einer psychiatrischen Diagnose, dort der Staatsphilosoph, dessen Wort bis heute nachhallt.
Wer von Machiavelli etwas lernen will, muss ihn also beim Wort nehmen und die
Umstände seines Werks „Der Fürst“ bedenken. Es ist Machiavellis Bewerbungsschrift um eine Beraterrolle bei den von ihm bewunderten Medici-Fürsten. Seine Ratschläge setzen deshalb beste Absichten voraus. Er schildert, wie der gute Fürst Macht erlangen und diese sichern kann. Auch Manager sollten sie dementsprechend verstehen.

Harte Schnitte am Anfang
„Der, welcher einen Staat an sich reißen will“, so Machiavelli, solle „alle notwendigen Gewalttaten vorher bedenken und auf einen Schlag ausführen, um nicht jeden Tag wieder anfangen zu müssen“. Aufs Management der Gegenwart gemünzt, lässt sich ein durchaus kluger Rat ableiten: Wenn harte Einschnitte nötig sind, so kommuniziere man sie lieber frühzeitig und vollständig. Sonst zersetzt die Ungewissheit betroffene Teams von innen.

Für klare Verhältnisse sorgen
Wie Fürsten eine Eroberung planen und umsetzen? „Es ist wohl festzustellen, dass die Menschen entweder gütlich behandelt oder vernichtet werden müssen“, so Machiavelli. Wo Ersteres
nicht möglich ist, da sei klar: „Jede Unbill muss so zugefügt werden, dass man keine Rache zu befürchten hat.“ Abzüglich der rohen Gewalt lautet die Botschaft für Manager: Sorge für klare Verhältnisse! Sonst übernehmen informelle Strukturen. Klare Degradierungen vermeiden also unnötigen Ärger.

Lob des Knauserns
Wer freigiebig ist, so Machiavelli, gewinnt sein Volk zwar schnell für sich – vergrault es aber, wenn der Ruin naht. Er rät zum Gegenteil. Der Fürst solle den „Ruf der Knauserei nicht fürchten“. Der Rat der Florentiner Hausfrau lässt sich heute vor allem auf Boni und Benefits übertragen: Manager sollten dafür nur ausgeben, was sie langfristig auch aufrechterhalten können. Anders gesagt: Der Entzug des Obstkorbs kostet mehr Motivation, als seine Bereitstellung einbringt.

Niemals neutral bleiben
Nirgends ist der Rat von Machiavelli relevanter für den Alltag in agilen Organisationen als dort, wo es um die Kooperation mit anderen geht. Seine Empfehlung: In Auseinandersetzungen bloß nicht neutral bleiben! Denn: „Ergreift ein Fürst herzhaft Partei für einen, und dieser siegt, so ist er dir Dank schuldig.“ Verliert er „so bietet er dir doch Zuflucht, teilt dein Schicksal, das sich wieder wenden kann“.

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Einschübe:

„Man muss ein starker Netzwerker sein, um in dieser Organisation voranzukommen“
SIDONIE GOLOMBOWSKI-DAFFNER
CEO von Advanced Accelerator Applications

„Wo Hierarchien ganz fehlen, bleiben
viele Entscheidungen unbearbeitet“
STEFAN KÜHL
Soziologe an der Universität Bielefeld