Gefahr von hinten
von Jan Bergrath
stern vom 05.03.2020
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Gefahr von hinten
Mehr als einmal täglich kracht in Deutschland ein Lkw in das Ende eines Staus – oft gibt es Tote. Selbst neueste Bremstechnik hilft nicht
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Der 28. Juni 2019 ist ein herrlicher Tag. In Teilen Baden-Württembergs ist es warm und sonnig. Holger Tamme* fährt im Feierabendverkehr auf der Autobahn A 81 Richtung Heilbronn. Der 28-Jährige kommt von der Arbeit. Er muss die Ausfahrt Stuttgart-Feuerbach raus. Seit April 2018 forscht er im "Bosch Center for Artificial Intelligence" in Renningen - Tamme ist Spezialist für autonomes Fahren.
"Er wollte mithelfen, die Sicherheit im Straßenverkehr zu verbessern" , sagt Martina Berger* , seine Freundin. Sie beschreibt Holger Tamme als umsichtigen Fahrer. Keiner, der auf der linken Spur rast.
Tamme fährt einen Nissan Micra, praktisch, sparsam, nichts zum Angeben. Und er zockelt im Verkehr mit, auf der rechten Spur, hinter einem polnischen Lkw. Die orangerote Plane des Aufliegers leuchtet vor ihm. Beim Rastplatz Gerlinger Höhe schließlich wird der Verkehr dichter. Es ist 17.15 Uhr, als der Lkw vor ihm wegen eines Staus auf Schritttempo abbremst.
Tamme bremst auch. Er hat genug Platz gelassen. Eigentlich ist es im Straßenverkehr ein Vorteil, ein defensiver Fahrer zu sein. Doch heute ist das anders. Denn hinter ihm fährt noch ein Lastwagen, ein weißer Scania. Und der bremst nicht. Mit rund 80 Stundenkilometern kracht er erst in den schon fast stehenden Nissan von Tamme, dann in den orangeroten Lkw davor.
Tammes Auto wird zwischen den beiden Schwerlastern eingequetscht, regelrecht zermalmt. Auf Bildern von der Unfallstelle sind Hersteller oder Modell nicht mehr auszumachen. Sogar die Wagenfarbe lässt sich kaum noch erkennen.
Die zerstörerische Kraft eines Lkws folgt der simplen Formel "Masse mal Geschwindigkeit" . Ein 40-Tonner hat bei 80 Stundenkilometern dieselbe kinetische Energie wie ein Sportwagen, der mit über 400 Stundenkilometern in ein stehendes Fahrzeug donnern würde. Und wenn die flache Front eines Lkws, geschoben von 40 Tonnen Stahl und Ladung, auf die platte Rückseite eines ähnlich massiven Lkws prallt, hat dazwischen niemand eine Chance. Knautschzone? Sicherheitsgurte? Airbags? Spielen dann keine Rolle mehr.
Wenn man die Bilder sieht, ahnt man: Auch in einer großen Limousine hätte Holger Tamme kaum überlebt.
Der stern hat bundesweit Unfallmeldungen aus der Lokalpresse ausgewertet: Dort wurde im Jahr 2019 über mindestens 488 Auffahrunfälle mit Lkws auf Autobahnen berichtet - fast ausschließlich am Stauende. Es krachte also mehr als einmal am Tag, deutlich häufiger als in den Vorjahren. In 454 Fällen fuhren Lkws ineinander, 45 Fahrer starben. In 34 Fällen waren Pkws betroffen, dabei starben acht Insassen.
Und das neue Jahr fing an, wie das alte endete: Am 7. Januar schob ein Lastwagen auf einer Bundesstraße in der Eifel fünf Autos ineinander: sechs Verletzte. Und am 10. Januar krachte ein 7,5-Tonner auf der A 42 bei Gelsenkirchen in ein stehendes Fahrzeug. Zwei Menschen wurden verletzt.
Allein in den ersten beiden Monaten des Jahres gab es 66 Unfälle mit Lkws am Stauende, wobei bereits elf Lkw-Fahrer starben. Etwa 800 000 schwere Lkws sind jeden Tag auf deutschen Autobahnen unterwegs, schätzt der Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung. Vor 20 Jahren waren es noch rund 700 000. Ein Ende der Zunahme ist nicht abzusehen. Deutschland ist eine Drehscheibe des internationalen Warenverkehrs, das größte Transitland Europas. Der Anteil ausländischer Lkws liegt bei 41 Prozent. 34 Prozent waren es vor zehn Jahren. Besonders Gespanne aus Osteuropa, deren Fahrer oft zu miserablen Bedingungen schuften, werden mehr. Auf den typischen Routen wie der A 2 oder der A 6 sind es stellenweise bis zu 70 Prozent. Hier häufen sich die Unfälle.
Der Lkw, der Holger Tamme tötete, kam aus Weißrussland, der Fahrer auch. Oft sind solche Laster für multinationale Logistikkonzerne unterwegs, fahren deutsche Fracht für deutsche Speditionen, aber zu osteuropäischen Dumping-Konditionen.
"Er hatte nicht den Hauch einer Chance", sagt Martina Berger rückblickend. Am Tag des Unfalls war sie um 18.30 Uhr aufgeschreckt, als ihr Freund nicht wie gewohnt zu Hause war. Dann sah sie im Netz die erste Meldung über einen Unfall am Engelbergtunnel auf der A 81. "Ich habe seine Eltern angerufen. Sie wussten von nichts", erinnert sie sich. "Dann kam die erste Meldung, es habe einen Toten bei dem Unfall gegeben." Sie rief die Polizei an, nannte das Kennzeichen seines Autos, bekam aber noch keine Information. "Erst gegen 21 Uhr kamen zwei Polizisten und ein Seelsorger vorbei und bestätigten meine Angst. Der Seelsorger hat den Eltern meines Freundes die Nachricht telefonisch überbracht."
Auch Berger kämpft noch mit den Folgen des Unfalls: Jede Erinnerung schmerzt sie aufs Neue. Sie kann nicht richtig schlafen, hat Angst. Auf die Autobahn traut sie sich nicht mehr. Deshalb möchte sie aufklären. Das Unfassbare begreifbar machen, andere vor der permanent drohenden Gefahr an einem Stauende warnen.
Denn es kann jeden treffen. Jederzeit.
Berger lebt mit ihrer immer wiederkehrenden Wut und der harten Erkenntnis, dass ihr Freund zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Die Gründe für die Unfälle am Stauende sind immer wieder die gleichen: Zu geringe Abstände bei Kolonnenfahrten, vor allem auf Strecken mit Überholverboten. Und viele enge Baustellen, die Staus verursachen. Dazu kommen Übermüdung und manchmal auch Alkohol. Und immer häufiger: die Ablenkung der Fahrer durch Smartphones.
"Kein Lkw-Fahrer fährt mit Absicht in ein Stauende", sagt Dieter Schäfer, der seit Jahren gegen die tödliche Gefahr am Stauende kämpft. Der ehemalige Chef der Verkehrspolizei Mannheim hat im November 2018 den Verein "Hellwach mit 80 km/h" mitgegründet, nachdem zuvor am Rosenmontag auf der A 5 vor dem Autobahnkreuz Walldorf wieder ein Lkw in ein Stauende gerast war. "Wir müssen schnellstmöglich etwas gegen die Aufmerksamkeitsdefizite bei den schwarzen Schafen unter den Lkw-Fahrern tun."
Zehn Grundregeln umfasst das Manifest des Vereins für die mobile Sicherheit: Es geht um Selbstverständlichkeiten wie das Einhalten der Pausen, aber auch um Insidererkenntnisse wie die Regel, beim Fahren nicht die Klamotten zu wechseln oder Heruntergefallenes nicht während der Fahrt in der Kabine zu suchen.
"Der moderne Lkw-Arbeitsplatz ist grundsätzlich anachronistisch", warnt Siegfried Brockmann, der Leiter der Unfallforschung der Versicherer aus Berlin. "In jeder industriellen Umgebung wäre ein Maschinenführer mit so viel Gefährdungspotenzial undenkbar." Über mehrere Stunden haben die Fahrer im monotonen Kolonnenverkehr auf der Autobahn nichts oder wenig zu tun. Aber im Ernstfall sollen sie schnell und umsichtig reagieren. "Wissenschaftlich ist erwiesen, dass unter solchen Bedingungen die Aufmerksamkeit bereits nach 15 Minuten nachlässt" , so Brockmann. "Die Fahrer werden also entweder müde, oder sie lenken sich ab. Beide Möglichkeiten sind schlecht für die Verkehrssicherheit."
"Warum tut niemand etwas gegen diese Zustände auf unseren Autobahnen?" , fragt Martina Berger. "Sind Unfallopfer wie mein Freund etwa nur Kollateralschäden in einem Geflecht aus wirtschaftlichen Interessen, in dem es immer nur darum geht, den billigsten Fahrer in den billigsten Lkw zu setzen?"
Holger Tamme hat selbst an lernenden und mitdenkenden Fahrzeugen gearbeitet. Trotzdem hätten ihn die längst auch im Lkw existierenden Notbremsassistenten nicht retten können. Schon 2012 hat Daimler für seine Laster vom Typ Mercedes Benz Actros erstmals den Active Brake Assist 3 vorgestellt. Dieser Bremsassistent erkennt Hindernisse und kann einen Lkw unter idealen Bedingungen vor einem Stau bis zum Stillstand abbremsen.
Bloß: Aus Sicht der europäischen Gesetzgeber in Brüssel war die deutsche Technik offenbar zu fortgeschritten. Denn als im selben Jahr die entsprechende EU-Verordnung in Kraft trat, wurde nicht der Stand der Technik als Messlatte genommen, sondern es wurden deutlich geringere Anforderungen gestellt. Erst seit November 2015 müssen die Bremsassistenten aller neu zugelassenen Lkws über acht Tonnen die Geschwindigkeit lediglich von 80 auf 70 Stundenkilometer reduzieren. Seit November 2018 gilt die zweite Stufe: Wird ein Hindernis erkannt, muss der Lkw bis auf 60 Stundenkilometer abbremsen. Über 70 Prozent aller von der EU-Verordnung betroffenen Lkws, die derzeit auf deutschen Autobahnen unterwegs sind, haben heute einen Notbremsassistenten, Tendenz steigend.
Aber auch 60 Stundenkilometer sind reichlich viel, wenn am Stauende ein Auto steht. Die Prüforganisation Dekra hat in einem Crashtest gezeigt, dass schon bei 40 Stundenkilometern die Unfallfolgen verheerend sind, dass den Pkw-Insassen dann der Tod droht. Fünf der sieben europäischen Hersteller schwerer Lkws offerieren Systeme, die Lkws bis zum Stillstand abbremsen können. Doch sie wurden zum Teil lange als Zusatzausstattung angeboten. Erst Ende 2019 entschied sich beispielsweise Marktführer Daimler, seine verbesserte Notbremstechnik in seinen neuen Actros einzubauen, ohne dafür einen Aufpreis zu verlangen.
Nach aktuellen Untersuchungen der Landesverkehrswacht Niedersachsen werden die meisten Lkw-Unfälle auf den niedersächsischen Autobahnen wie der A 1, A 2 und A 7 mit Lkws verursacht, die nicht mit einem Notbremsassistenten ausgestattet sind. Doch in letzter Zeit sind oft auch nagelneue Fahrzeuge mit Bremsassistent betroffen, denn der Umgang mit der neuen Technik ist kompliziert.
Ein Fahrer hat am Steuer eines modernen Lkws bei den maximal möglichen 89 Stundenkilometern etwa vier Sekunden Reaktionsszeit. Wenn das Notbremssystem mit Kamera und Radar erkennt, dass der Lkw auf ein Hindernis zusteuert, sendet es zunächst einen markanten Warnton. Wenn der Fahrer dann nicht selbst eingreift, löst das System eine Vollbremsung aus. Falls er aber aufschreckt und selbst reagiert, schaltet er damit den Notbremsassistenten aus. Es genügt je nach Modell, das Bremspedal anzutippen, kurz Vollgas zu geben oder auch nur zu versuchen, vorbeizulenken. Dann verrinnen die Sekunden, und der Einschlag ist mit größter Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu verhindern.
Viel deutet darauf hin, dass die derzeitige Notbremstechnik die meisten Fahrer überfordert. In dem Augenblick, da sie durch den Warnton "aufgeweckt" werden, müssten sie eigentlich der bereits eingreifenden Technik vertrauen und nichts tun. Doch genau das widerspricht dem menschlichen Reflex. Dieser systembedingte Widerspruch ist kaum zu überwinden. Unfallforscher Brockmann fordert, dass die Lkw-Fahrer im Rahmen der verpflichtenden Weiterbildung alle fünf Jahre auch praktisch an den Fahrassistenzsystemen ausgebildet werden sollten. Doch eine entsprechende EU-Richtlinie zur Fahrerausbildung muss im Verkehrsministerium von Andreas Scheuer erst noch in nationales Recht umgesetzt werden.
Der im Juni 2015 zugelassene weißrussische Scania, der Holger Tamme das Leben kostete, hatte laut Staatsanwaltschaft Stuttgart noch keinen Notbremsassistenten. Gegen den weißrussischen Fahrer wurde ein Strafbefehl beantragt: ein Jahr Haftstrafe mit Bewährung und sieben Monate Entzug der Fahrerlaubnis in Deutschland, weil er aus unbekannten Gründen unaufmerksam war und dadurch auf das Stauende aufgefahren ist.
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Einschübe:
40 TONNEN STAHL BEI 80 KM/H – DA HAT NIEMAND EINE CHANCE
DER UMGANG MIT DER NEUEN TECHNIK IST LEIDER KOMPLIZIERT
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Bildunterschriften:
Zerquetscht wie eine Blechdose: Auf der A 81 Richtung Heilbronn starb ein junger Mann, weil sein Auto zwischen zwei Laster geriet
Neueste Bremsassistenten im Test – leider scheitert die Technik oft an dem, der sie bedient
Rechts fahren ist am Stauende ein Risiko
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Nachträglicher Hinweis des Autors an die Jury:
Am 11. September gab es einen nahezu identischen Unfall auf der A 44:
https://www.ruhr24.de/nrw/nrw-unfall-a44-vier-tote-richtung-dortmund-lkw-stauende-rettungshubschrauber-lichtenau-polizei-13900373.amp.html