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Fürchtet euch nicht

von Lisa Hegemann
Die Zeit vom 19.08.2019

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Fürchtet euch nicht

Hört da wer mit? Sind gelöschte Bilder wirklich weg? Macht mich mein Smartphone süchtig? Welche dieser Sorgen berechtigt sind, welche übertrieben, beantwortet der [Medium]-Schwerpunkt "Digitale Ängste". Dieser Artikel ist der erste dieser Reihe.


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Datenschutz? Privatsphäre? Die Kontrolle über unser digitales Leben haben wir längst verloren – oder hatten sie nie. Das macht Angst. Aber es gibt einen Ausweg.

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Wenn Menschen die Vergangenheit glorifizieren, liegt das häufig daran, dass die Erinnerung gnädig ist. Ferienfreizeiten oder Familienfeste – im Rückblick erscheint vieles schöner, als es war (Journal of Experimental Social Psychology: Mitchell et al., 1997). So ähnlich ist das auch mit Technologie.

Sehnsüchtig erinnert sich mancher an die Ära des Walkmans, als man Mixtapes aufnahm, Kassetten in den kleinen Kasten legte, sich den Bügelkopfhörer aufsetzte und fern jeder Steckdose unbeschwert mit Musik auf den Ohren Reisebus fuhr. Jedenfalls so lange, bis der Ton leierte, weil den Batterien der Saft ausging. In Wahrheit war so ein Walkman nämlich ziemlich unpraktisch. Eine Musiksammlung füllte schnell den halben Rucksack, einfach zum nächsten Lied springen ging nicht. Und beim Spulen verhedderte sich das Tonband schon mal derart, dass man es mühsam glätten und mit einem Bleistift wieder einfädeln musste. Eigentlich also ein Segen, dass der Walkman erst durch den Discman, dann den MP3-Player und schließlich durch das Smartphone ersetzt wurde. Heute tippen wir nur noch mit der Fingerspitze auf eine Streaming-App und schon eröffnet sich uns eine Welt aus Millionen von Liedern Tausender Bands.

Das Internet hat nicht nur unseren musikalischen Horizont erweitert. Es hat unser ganzes Leben schneller, günstiger und sogar unterhaltsamer gemacht. Anstelle von Zettelkästen in der Bibliothek durchforsten wir Google Books, Navigationsdienste weisen uns den Weg und statt an der Wählscheibe eines in der Wand verankerten Telefons zu drehen, chatten wir online via WhatsApp rund um die Welt. Außerdem muss heute niemand mehr auf die Ausstrahlung von Wetten, dass …? warten, in der Hoffnung, ein paar internationale Stars würden auf Thomas Gottschalks Sofa im Originalton zu Wort kommen. Wir folgen unseren Idolen einfach direkt auf Instagram. Heute kann jeder zu jeder Sekunde online finden, was er unterhaltsam oder spannend findet. Nostalgie hin oder her: Es war früher nicht alles besser.

Trotzdem bleibt da dieses permanente Unbehagen. Denn egal, was wir digital tun – ob wir mit Freunden chatten, Schnappschüsse machen, uns durch die Straßen navigieren lassen, irgendetwas googeln oder online einkaufen: Die kleinen digitalen Helfer verlangen nicht nur unsere ständige Aufmerksamkeit, sondern auch jede Menge private Daten. Wir hinterlegen Kreditkarteninformationen, laden Fotos in die Cloud und offenbaren uns den ständig lauschenden Sprachassistenten. Was die Unternehmen, die all das anbieten, am Ende mit all diesen Informationen anstellen? Wir wissen es nicht so genau.
Einverstanden, oder?

Also hoffen wir, dass nichts schiefgeht und dass uns im Zweifel Verbraucher- und Datenschutzgesetze schützen. Und das, obwohl regelmäßig Fälle bekannt werden, in denen Daten von Millionen Nutzerinnen und Nutzern gestohlen oder illegal weiterverkauft werden, in denen Menschen überwacht und ausspioniert, Identitäten im Netz gestohlen oder Scheinidentitäten aufgebaut und für manipulative oder betrügerische Zwecke missbraucht werden. Wir klicken mehrmals am Tag auf "einverstanden", "zulassen" oder "kaufen", obwohl wir teils wissen, teils fühlen: Wahrscheinlich verdient diese App, diese Website oder dieser Shop mein Vertrauen nicht. Aber man will halt schnell den Urlaub buchen.

Ein tägliches Dilemma, an das wir uns längst gewöhnt haben. Denn totale digitale Abstinenz ist keine echte Option. Sich von allem, was die anderen nutzen, abmelden? Alles offline einkaufen? Den alten Faltstadtplan einpacken? Nur noch mit Bargeld zahlen? Das geht nicht so einfach. Und: Es wäre auch ein bisschen übertrieben.

German Begeisterung

Uns Deutschen wird oft unterstellt, besonders ängstlich zu sein. Bedenkenträgerei als miesepetrige Tugend, dafür gibt es im Amerikanischen sogar den Begriff der German Angst. In unserem Land, in dem vergleichsweise viel über Datenschutz gesprochen wird, so legen es unterschiedliche Umfragen nahe, haben wir angeblich auch besonders viel Angst vor neuen Technologien.

Doch das stimmt so nicht, wie Studien – alte wie aktuelle – belegen (zum Beispiel TAB: Hennen, 1994; Weyer et al., 2012; Hampel et al., 2016). "Trotz kritischer Fragen gibt es in der Bevölkerung eine große Begeisterung und eine hohe Akzeptanz für neue Technologien", sagt etwa der Soziologe Johannes Weyer, der seit Jahren erforscht, wie sich Technologien auf eine Gesellschaft auswirken.

Der Umgang mit Google ist dafür ein gutes Beispiel. Viel wird hierzulande über das Unternehmen als Datenkrake lamentiert. Als Google seine Straßenansichtsfunktion Street View startete und mit eigenen Fahrzeugen ganz Deutschland abfuhr, um jede Fassade und jeden Hauseingang zu fotografieren, ließen viele Menschen ihr Zuhause aus Datenschutzgründen verpixeln. Gleichzeitig nutzten 2016 laut einer Umfrage 80 Prozent der Deutschen Google Maps, wo Street View integriert ist.

Zu viel, zu schnell

Trotz schwelendem Misstrauen nutzen wir die Technik also weiter. Bedeutet das, unsere Ängste sind unbegründet und wir können weitermachen wie bisher? Gruselt uns vielleicht nur die Vorstellung, dass es eine Echtweltversion mancher Science-Fiction-Geschichten geben könnte? Um das herauszufinden, hilft es, die Ursprünge derartiger Ängste zu ergründen.

Einer davon liegt sicherlich in der Geschwindigkeit, mit der das Digitale in unser Leben gekommen ist. Innerhalb weniger Jahre ist digitale Technologie so allgegenwärtig geworden, dass sie heute wirklich jeden betrifft. Noch vor 25 Jahren kommunizierten nur wenige, technikbegeisterte Menschen auf Usenet-Seiten. Um das Internet zu verwenden, brauchte es damals mindestens ein bisschen technisches Verständnis. Heute kann so gut wie jeder via Facebook, Twitter oder Snapchat Freunde kontaktieren, im Netz surfen und online einkaufen. Wir haben gelernt, wie man Windows bedient oder Fotos bearbeitet. Auf dem Smartphone oder Tablet wischt es sich ganz intuitiv – selbst Dreijährige schaffen es allein, die gewünschte Folge Pingu auf YouTube anzuklicken. Doch vieles, was unsere digitalen Geräte tun, verstehen selbst Erwachsene im Kern nicht. Das digitale Leben ist nicht nur irrsinnig schnell geworden – es ist auch irrsinnig kompliziert.

Eigentlich müssten wir also ab und an eine Pause einlegen. Wir müssten unsere private und berufliche Nutzung neuer Technologien überdenken, beim Technikverständnis aufholen, die Einstellungen checken und unsere Geräte regelmäßig updaten. Aber wir tun es nicht, weil wir es im Alltag nicht brauchen. Und solange wir persönlich nicht Opfer eines Kreditkartenbetrugs geworden sind oder jemand anders unseren Social-Media-Account gekapert hat, denken wir: Mach ich irgendwann mal. Genau wie man irgendwann mal ein zweites Schloss an die Haustür anbringen oder die Patientenverfügung ausfüllen wollte.

Wir wissen zwar: Irgendetwas passiert mit unseren Daten. Irgendwelche Informationen über uns werden irgendwo gespeichert oder verknüpft. Doch wer behauptet, da noch den Überblick zu haben, lügt. Und so können wir uns eben nicht erklären, warum Facebook auf einmal Werbung für ein Produkt anzeigt, über das wir gerade mit einer Freundin gesprochen haben. Oder warum Apple weiß, wo wir jeden Dienstag hinfahren, obwohl wir nirgends bewusst die Adresse eingetragen haben. Oder warum Google den genauen Standort kennt, an dem wir ein Foto aufgenommen haben, obwohl wir das GPS extra ausgeschaltet hatten.

Technologien sind so komplex, dass der Einzelne sie nicht bis ins Detail begreifen kann. Bei der Kassette im Walkman konnte man noch zusehen, wie das Tonband langsam von einer Spule zur anderen wanderte. Geheimnisvoll war da höchstens, wie es möglich ist, Musik auf einem magnetischen Band zu speichern. Unsere heutigen Smartphones hingegen schaffen mehr Rechenoperationen als die komplette Bordtechnologie der Mondlandefähre von 1969. Aber was genau mit dieser Rechenkapazität angestellt wird, das bleibt zumindest für die meisten eine Blackbox. Wir tippen etwas rein in den schwarzen Kasten und es kommt etwas raus. Was innen passiert, bleibt unsichtbar.

"Jede ausreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden", schrieb schon 1973 der britische Physiker und Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke. Unsere Smartphones sind so konzipiert, dass wir sie auch ohne Grundkenntnisse in Programmiersprachen oder Onlinemarketing bedienen können. Digitalisierung ist für viele so etwas wie Zauberei auf Speed.

Um im digitalen Leben alltägliche Entscheidungen wirklich informiert treffen zu können, bräuchten wir häufig nicht nur sehr viel mehr technisches, sondern auch juristisches Fachwissen. Aber wer holt tatsächlich die Zustimmung all seiner Freunde ein, wenn er deren Kontaktinformationen auf WhatsApp hochlädt? Wer klärt die Bildrechte, bevor er Fotos von Prominenten auf FaceApp online stellt? Wer macht sich Gedanken, dass möglicherweise nicht alle Gäste im Wohnzimmer einverstanden sind, wenn der smarte Lautsprecher Amazon Echo zuhört?

Nutzerinnen und Nutzer als Einnahmequelle

Auf die freiwillige Selbstauskunft der Anbieter können wir jedenfalls nicht hoffen – darauf, dass sie uns schon warnen und hinweisen werden, wenn es ein Risiko für unsere Privatsphäre, unsere Daten oder Persönlichkeitsrechte gibt. Unternehmen lassen ihre Kunden gerne im digitalen Dunkeln. Sie formulieren ihre Datenschutzerklärungen oder Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht nur unverständlich, sondern auch so vage, dass man sie unterschiedlich auslegen kann. Wer konkrete Fragen stellt, erhält unkonkrete Antworten. Und kommt heraus, dass das, was diese Firmen machen, möglicherweise rechtlich problematisch ist, wiegeln sie häufig ab oder reagieren mit Verzögerung.

Und das ist auch nicht unbedingt verwunderlich. Firmen folgen wirtschaftlichen Interessen – das gilt für Tech-Unternehmen genauso wie für andere. Die einzelne Nutzerin ist für sie eine Einnahmequelle. Je häufiger jemand auf eine App oder eine Website klickt, desto häufiger kann demjenigen Werbung eingeblendet werden und desto mehr können die Firmen an ihm verdienen. Öffentlich setzen sich Unternehmen wie Facebook oder Google für guten und funktionierenden Datenschutz ein, im Hintergrund kämpfen sie jedoch dagegen. Selbst wenn Gesetzgeber ihnen klare Grenzen setzen, ignorieren die Unternehmen sie nicht selten.

"Welcome to the jungle"

Zu Schnelligkeit und Komplexität gesellen sich Gleichzeitigkeit und Unübersichtlichkeit: Wir können nicht mehr alles beherrschen. Durch den Computer hätten wir gelernt, Wissen zu manipulieren und neue Realitäten zu erschaffen, schreibt der Computeringenieur und Netzvordenker Danny Hillis. Er bezeichnet unser Zeitalter als Age of Entanglement. Wir hätten Systeme gebaut, die unserem Verständnis entwachsen sind. Wir seien nicht Meister dieser Schöpfungen, sondern verhandelten mit ihnen. "Wir haben unseren eigenen Dschungel erschaffen, und er hat ein eigenes Leben", formuliert es Hillis.

Der Autor James Bridle bezeichnet das digitale Zeitalter in seinem gleichnamigen Buch sogar als neues Dark Age – ein dunkles, unübersichtliches technologisches Zeitalter, in dem wir nicht mehr klar erkennen können, was vor uns liegt und wie wir sinnvoll damit umgehen.

Um es in diesem Dschungel auszuhalten, finden wir unsere eigenen Erklärungen. Sie speisen sich aus Medienberichten, eigenen Erfahrungen und den Anekdoten von Bekannten. Manche dieser Erklärungen stimmen, andere halb oder gar nicht. Auch daraus erwächst Angst. Und da es viele reale Skandale gibt, etwa die NSA-Affäre oder Cambridge Analytica, erscheinen fast alle Geschichten davon, was Staaten und Unternehmen mit Daten ihrer Nutzerinnen und Bürger anstellen könnten, wahrscheinlich und möglich. Berechtige Sorgen lassen sich kaum noch von gefühlten Wahrheiten unterscheiden.

Der Glaube an die unendliche Macht der Maschinen

Dabei wäre diese Differenzierung wichtig. Denn ist eine Angst berechtigt, kann man versuchen, sich gegen ihre Ursache zu schützen. Nach der NSA-Affäre etwa stieg das Interesse von Menschen an ihrer Privatsphäre, sie verschlüsselten zunehmend ihre E-Mails und löschten Cookies. Berechtigte Angst kann helfen, weil sie uns zum Handeln bringt. Übertriebene Angst hingegen verschleiert möglicherweise den Blick auf tatsächliche Bedrohungen. Etwa, wenn man sich vor komplexen Hackerangriffen auf den eigenen Rechner fürchtet, sich gleichzeitig aber selbst nicht zumindest minimal schützt und überall im Netz dasselbe Passwort benutzt (denn nein, das ist wirklich keine gute Idee). Das ist ungefähr so, als habe man Angst vorm Fliegen, rase aber stets mit 180 Kilometern pro Stunde über die Autobahn.

Und dann gibt es da die irrationalen Ängste. So begeistert wir auch neue Technologien nutzen: Akzeptanzprobleme gebe es bei neuen, sich noch in der Entwicklung befindenden Technologien wie der künstlichen Intelligenz, autonomen Fahrzeugen oder humanoiden Robotern, sagt Techniksoziologe Johannes Weyer. Den meisten Menschen falle es schwer, sich ihren Nutzen vorzustellen – "vor allem, wenn sie noch keine Gelegenheit hatten, Erfahrungen im praktischen Umgang mit diesen Technologien zu machen", sagt der Professor der TU Dortmund.

Das erzeuge Unsicherheiten. "Befragt man Menschen zu neuen Technologien, spiegeln ihre Aussagen oftmals die Szenarien wider, die sie aus den Medien oder aus Science-Fiction-Erzählungen kennen", sagt Weyer. "Sie haben Angst, dass die Maschinen uns die Jobs wegnehmen, dass sie smarter werden als wir oder dass sie eines Tages die Herrschaft über uns Menschen übernehmen."

Vermischen wir aber Science-Fiction zu stark mit tatsächlichen Ereignissen, verwechseln wir fiktionale Werke mit Zukunftsprognosen, lassen wir uns von unnötigen Ängsten in die Irre führen. Dann reden wir beispielsweise mehr über die Gefahr einer Superintelligenz als über die Frage, ob sie überhaupt realistisch ist. Und der Mensch neigt dazu, zu mystifizieren, was er nicht erfassen kann. Der Wissenschaftler und Gamedesigner Ian Bogost vergleicht den Glauben an die unendliche Macht von Maschinen im US-Magazin The Atlantic mit dem an eine Religion. Software werde als grundlegende, primäre Struktur der Gesellschaft begriffen, schreibt Bogost.

Dieser Vergleich erklärt möglicherweise auch den Umgang mit neuen Technologien. Weil viele überzeugt sind, Algorithmen seien zu komplex für das menschliche Verständnis, wirken sie wie eine göttliche Eingebung – wir begreifen zwar nicht, wie sie entstehen, glauben aber daran, dass sie schon irgendwie richtig seien, oder fürchten uns davor. Dabei basieren Algorithmen ja auf von Menschen entwickelten Formeln und replizieren dementsprechend menschliche Voreingenommenheiten und Fehler.

So kann es passieren, dass wir uns – wie in der Religion – Geschichten und Gleichnisse darüber erzählen, die die (Pseudo-)Götter und ihre scheinbar unergründlichen Entscheidungen für uns begreifbarer machen. Und die Unternehmen stützen diese Glaubensgebilde, indem sie sich bei Problemen gerne damit rausreden, dass der Fehler im Algorithmus liege. Und das klingt so, als läge er außerhalb der menschlichen Macht.

World Wild Web

Zur allgemeinen Technikverunsicherung trägt zusätzlich bei, dass es an starken Gegenspielern mangelt. Die Gesetzgeber, wichtige Akteure im Umgang mit neuen Technologien, hadern mit Regeln und Regulierungen. Teils hangeln sie sich wie die EU beim Urheberrecht an analogen Regeln entlang, die aber nicht unbedingt ins Digitale übertragbar sind. In Deutschland widmet sich die Politik beispielsweise beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz einem offensichtlichen Symptom wie Hatespeech, bekämpft aber nicht dessen Ursachen.

Gleichzeitig brauchen Politikerinnen und Politiker so lange, um neue Regeln zu verabschieden, dass sich die digitale Praxis in der Zwischenzeit wieder geändert haben kann. Nicht nur die Nutzer sind von der Geschwindigkeit der Digitalisierung betroffen, sie fordert auch Gesetzgeber und die Gesellschaft als Ganzes.

Und während die großen Internetfirmen global agieren, können Regierungen und supranationale Entitäten geografisch häufig nur begrenzt handeln. Das nutzen die Unternehmen aus: Manchmal tricksen sie bei den Steuern. Beispiel Apple: Der iPhone-Konzern soll zwischenzeitlich nur 0,005 Prozent Körperschaftssteuer in der EU entrichtet haben. Manchmal umgehen sie lokale Gesetze. Beispiel Facebook: Als in der EU 2018 die Datenschutz-Grundverordnung verpflichtend umgesetzt wurde, verlagerte das soziale Netzwerk die Daten von 1,5 Milliarden Nutzerinnen und Nutzern in die USA – und entzog sie so dem neuen europäischen Recht. Manchmal scheinen die Firmen gar selbst wie Staaten. Noch mal Facebook: Die geplante Digitalwährung Libra bewerten Beobachterinnen und Beobachter als Aufbau eines alternativen Finanzsystems.

Die Unternehmen haben nicht nur eine unheimliche Macht, sie sind auch bereit, sie zu nutzen. Der amerikanische Senator Mark Warner sprach in einer Anhörung vor dem US-Kongress 2018 bezogen auf soziale Medien von einer Ära des "Wilden Westen". Sorgen sind da durchaus verständlich.

Allein gegen die Tech-Riesen

Nutzerinnen und Nutzer lässt all das wiederum mit einem Gefühl der Machtlosigkeit zurück: Wir selbst verstehen nicht alles, was vor sich geht, und diejenigen, die die Gesetze machen, können uns auch in vielen Bereichen nicht ausreichend schützen. Wir scheinen den Datenkraken ausgeliefert. Was also tun?

Zunächst einmal sollten wir unsere Angst nicht nur als negativ begreifen. Sie könne ein positiver Katalysator sein, sagt etwa die Philosophin Catrin Misselhorn. Sie forscht an der Universität Göttingen zu ethischen Fragen rund um Mensch und Maschine. "Ist eine Angst berechtigt, müssen sich Politik und Wirtschaft mit ihr auseinandersetzen." Kampagnen wie Delete Facebook oder Delete Uber zeigen das. Zwar ändern sie nicht gleich die Unternehmen oder ihre Geschäftspraktiken. Doch die Firmen müssen sich öffentlicher Kritik stellen.

Misselhorn sagt aber auch: "Wir müssen Ängste und Sorgen auf ihre Legitimation prüfen." Die Hysterie von der sinnvollen Kritik trennen – das sei die Herausforderung, vor der wir als Gesellschaft stünden. Welche Angst dabei berechtigt ist, welche überzogen und welche irrational, dem kann man sich nur annähern. Dafür sollte jeder Einzelne nicht unreflektiert seinem Gefühl folgen, sondern Fakten einholen, zulassen und die möglichen Ursachen erforschen. Es kann helfen, die eigenen Ängste in Perspektive zu setzen. Jede neue Technologie schürt zunächst neue Sorgen. Wir müssen die Unsicherheiten des Neuen, noch nicht Erprobten aushalten. Denn es gibt noch nicht auf alle Fragen klare Antworten.

Auch das eigene Verhalten sollten wir hinterfragen. Wenn wir uns sorgen, dass wir abhängig vom Smartphone sein könnten, warum es nicht ab und an bewusst ausschalten? Wenn wir befürchten, dass Google unsere E-Mails auswertet, warum dann nicht E-Mails verschlüsseln? Wenn wir uns ängstigen, dass Hacker uns über die Kamera unserer Geräte ausspionieren könnten, warum die nicht einfach abkleben? Wir haben alle gewisse Spielräume, ohne dass wir Technologie gleich aus unserem Leben verbannen müssen.

Vor allem müssen wir verstehen, was digitale Technologie kann und was nicht, um ihren Einfluss auf unser Leben besser einschätzen zu können. Und dann sollten wir darüber reden, was sie können soll und was nicht. Letztlich ist das ein normaler Prozess. Das Auto kam ja auch nicht sofort mit Verbundsicherheitsglas und Sicherheitsgurt auf den Markt, über Geschwindigkeitsbegrenzungen für Fahrzeuge reden wir bis heute. Ängste lassen sich nicht einfach abschaffen. Also müssen wir mit ihnen umgehen und das richtige Maß an Misstrauen lernen.
Nicht Technologien einschränken, sondern ihre Funktionen

Der Blick in die Vergangenheit kann dabei helfen. Im schon erwähnten Wilden Westen kamen im 19. Jahrhundert Eisenbahngesellschaften auf, die sehr schnell eine sehr große Macht entwickelten. Genau wie die Internetfirmen heute betrieben sie Plattformen und kontrollierten die Inhalte darauf, sagt der Historiker Richard White in einem Interview mit dem US-Portal Mashable. Die Eisenbahnunternehmen sollten eigentlich den offenen Verkehr begünstigen, stattdessen nutzten sie ihre Macht aus. Am Ende habe man sie reguliert.

Dabei gehe es nicht darum, Technologien als solche einzuschränken. "Die Menschen wollen das Internet und sie wollen Eisenbahnen", sagt White. Es gehe aber darum, zu hinterfragen, wie Technologien funktionieren und arbeiten. "Darüber haben Menschen durchaus Kontrolle." Sich dieser bewusst zu werden, hilft bereits gegen die ein oder andere Angst.

Vor allem dürfen wir uns nicht lähmen lassen. Wir müssen uns endlich lösen von dem Glauben, das Digitale sei eine dunkle Macht jenseits dessen, was wir je begreifen werden. Und wir sollten schleunigst aufhören, den Predigern der schönen neuen Welt blind zu folgen, wo wir doch längst wissen, dass es ihnen nicht um uns geht. Es ist Zeit, mit dem Begreifen anzufangen. Nicht alles, was digital ist, ist kompliziert. Es ist ja nur Technik.


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Hinweis der Redaktion des Deutschen Journalistenpreises:

Der Link zum Artikel, der bei ZEIT ONLINE erschien, lag der Jury nicht vor. Wegen der Anonymisierung aller Einreichungen werden Links zu Online-Beiträgen grundsätzlich nicht offengelegt. Bewertet wird allein der Text. Mit Bekanntgabe der Nominierungen wird die Anonymisierung aufgehoben.

Der Artikel ist abrufbar unter https://www.zeit.de/digital/internet/2019-08/digitale-aengste-datenschutz-hacking-sicherheit-internetnutzung