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Emanzipation durch Nähen

von Daniela Schröder
Reportagen vom 28.11.2019

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Emanzipation durch Nähen

Die Arbeit in den Textilfabriken verändert die Frauen – und sie verändern die Gesellschaft.

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Tausend Hemdärmel. Tausend Hemdärmel, so viele wie gestern. So viele wie vorgestern. So viele wie jeden Tag seit Freitag vor zwei Wochen, als sie mit dem neuen Auftrag begannen. Taslima fährt mit der Zungenspitze über die Lippen, schiebt den blau-weiss gestreiften Stoff behutsam und zügig unter dem Nähkopf durch. Die Maschine surrt, satt und gleichmässig, die Nadel sticht eine saubere Naht. Taslima legt den Ärmel in einen Korb links neben ihrem Tisch, greift in einen Korb rechts neben dem Tisch. Taslima blinzelt, blickt auf den Stoff, näht den nächsten Arm, den nächsten Saum, näht eine saubere, gleichmässige Naht, kaum eine halbe Minute braucht sie dafür.

«Hey, Tas», ruft Antora, sie sitzt zwei Tische schräg hinter Taslima. «Hey, kleine Schwester, mach die Augen auf! Oder träumst du etwa? Gib es zu, du denkst schon wieder an ihn! Die ganze Zeit denkst du an ihn. Denk lieber an deine Arbeit, sonst komm ich gleich rüber zu dir, und dann sehe ich deine schiefen Nähte!» Die Arbeiterinnen vor und hinter und links und rechts von Taslima und Antora kichern. «Taslima und Tosidul, lang lebe unser Traumpaar!», ruft eine. Die Frauen lachen leise, halten dabei die Hand vor den Mund, Taslima wird rot. Sie legt einen blau-weissen Ärmel in den Korb links, nimmt zwei Stoffteile aus dem Korb rechts, die Maschine surrt.

Linie drei und Linie vier, in denen Taslima und Antora arbeiten, ziehen sich längs durch die ganze Fabriketage, genau wie die Linien eins und zwei und fünf, sechs, sieben. Sieben Reihen, in denen seit Freitag vor zwei Wochen ein hellblau-weisses Herrenoberhemd entsteht. 375 Köpfe beugen sich über gestreiften Stoff, Köpfe mit schwarzglänzenden Zöpfen oder locker geschlungenen Tüchern, vom ersten und vom letzten Platz einer Reihe sieht die Arbeiterin am anderen Ende aus wie ein dunkler oder wie ein bunter Punkt.

Middle Badda, 1212 Dhaka, Bangladesh, ist der Sitz von Moon Garments, eine von Hunderten Textilfabriken in dieser Ecke der Stadt. Hinterhofverschläge mit einer Handvoll Näherinnen, Werkstätten in Wohnhäusern, mittelgrosse Hersteller wie Moon, gut 750 Mitarbeiter in der Produktion, 20 im Büro. Die Fabrik steht in einer schmalen Seitenstrasse, Wand an Wand mit den Nachbarhäusern, die Fenster sind vergittert. Neben der Eingangstür hängt ein kleines Firmenschild, ein Wachmann schliesst von innen eine schwere Metalltür auf. Im schmalen Treppenhaus stehen gestapelte Pappkartons, auf den Postetiketten Adressen in Indien und Dubai, an den Wänden kleben Schilder, «Rauchen verboten», «Fluchtwege freihalten», «Haare bedecken», hier und da hängt ein Feuerlöscher.

In den Produktionshallen hängen Tafeln mit Tabellen, die Produktionsziele pro Woche, pro Tag, pro Stunde, daneben die Produktionszahlen. Um die 150 000 Teile stellen sie bei Moon jeden Monat her, etwa 5000 jeden Tag, gut 200 pro Stunde. Hemden, Blusen, Hosen, Kleider, Modelle für Frauen, Männer, Kinder. Zwei Tage noch, dann müssen die Näherinnen mit den blau-weissen Herrenhemden fertig sein. Rumpf. Ärmel. Manschetten. Knopfleisten. Knopflöcher. Kragen. Brusttasche. Nähte. Säume. Knöpfe. Oberhemden sind komplexe Kleidungsstücke. Zwei Stunden dauert es, bis ein Hemd fertig ist, 42 Näherinnen arbeiten daran. In den Gesichtern der Frauen glitzern goldene Nasenstecker und Schweisströpfchen, Deckenventilatoren rühren durch stickige, schwülwarme Luft. Es riecht nach einem langen Arbeitstag, nach Dampfbügeleisen und nach der Chemie neuer Kleidung. Neonröhrenlicht brennt in den Augen. Das Geräusch der Nähmaschinen erinnert an emsige Insekten.

Taslima schluckt Speichel hinunter, alle paar Minuten macht sie das. An den Enden der Etage stehen Wasserspender, aber sie will nicht hingehen, das kostet nur Zeit. Ein Kontrolleur geht die Gänge auf und ab, ein kleiner Mann mit schütterem Haar, in der linken Hand ein Handy, in der rechten Hand ein Handy, er bleibt mal hier stehen, mal da. «Zu sagen, dass du langsam bist, das wäre noch ein Kompliment für dich», sagt er, seine Stimme ist hoch und schrill. Er nimmt Stoffarme aus den Körben, streicht mit dem Zeigefinger über die Nähte. «Ausnahmsweise ordentliche Arbeit heute, weiter so.» Je jünger und hübscher die Arbeiterin, desto gründlicher kontrolliert er. «Nicht schlecht, aus dir wird eines Tages eine richtig gute Näherin.» Antora verdreht die Augen und macht ein leises Würgegeräusch, Taslima kichert.

Hier und da steht ein sehr junger, schmaler Mann neben einer Arbeiterin, schneidet Fäden ab, hängt eine neue Garnrolle ein, trägt einen Korb mit Stoffteilen zur nächsten Arbeiterin. «Das sind unsere Helfer», sagt der Kontrolleur. «An den Maschinen arbeiten bei uns nur Frauen.» Der Kontrolleur grinst. «Es hat biologische Gründe, es liegt an den anderen Genen. Frauen sind geschickter als Männer, sie haben kleinere Hände. Und sie sitzen den ganzen Tag an ihrem Platz und arbeiten.» Er schnaubt kurz, schüttelt den Kopf. «Männer arbeiten maximal fünf Stunden am Stück. Fünf Stunden nur, dann müssen sie schon wieder aufs Klo oder eine rauchen.»

Autos, Fernseher, Möbel, Brot und Käse, der Grossteil dessen, was Verbraucher im reicheren Teil der Welt Tag für Tag nutzen oder konsumieren, entsteht in Fabriken, gefertigt von Maschinen, Automaten, Robotern, von immer mehr Hightech. Kleidung aber entsteht nach wie vor in viel Handarbeit. Stoffe sauber verarbeiten, gleichmässige Nähte, die Stiche in exakten Abständen, Kompliziertes wie Hemdkragen und Gürtelschlaufen nähen, darin ist noch der Mensch am besten.

Der Kontrolleur läutet eine Glocke, die Arbeiterinnen holen Metallboxen aus ihren Taschen, gehen die Treppe hinunter in den Pausenraum. Taslima schlingt Reis und Gemüse hinunter, Reste vom Abend zuvor, dann stellt sie sich in die Schlange vor der Toilette. Als die Pausenglocke das zweite Mal läutet, sitzt sie wieder an ihrem Platz. Sie nimmt ein Stoffteil aus dem Korb links neben sich. Die Nähmaschine surrt, die Naht ist sauber.

Die Geschichte der Textilarbeiterinnen in Bangladesh hat zwei Dimensionen. Es ist die Geschichte einer Branche, die Menschen wie billiges Rohmaterial behandelt, mit 35, spätestens Anfang 40, hören Näherinnen mit der Fabrikarbeit auf, ihre Körper sind kaputt und krank. Historiker sehen klare Parallelen zwischen den Näherinnen im Bangladesh des 21. Jahrhunderts und den Arbeitern in der britischen Textilindustrie im 19. Jahrhundert: beide Gruppen Opfer von Kapitalismus und Globalisierung, beide Gruppen Opfer der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Zeit. Eine Geschichte der Ausbeutung.

Zugleich ist es eine Geschichte der Emanzipation. Sich von traditionellen Erwartungen und Rollenbildern abnabeln, Geld verdienen, Entscheidungen treffen, für sich selbst Verantwortung tragen – die Jobs in den Fabriken bieten Frauen eine Chance, in einer konservativ-­patriarchalischen Gesellschaft wie Bangladesh ihr eigenes Leben zu leben. «Ohne die Textilindustrie wären die Frauen in diesem Land heute nicht so weit, wie sie sind», sagt Nazma Akter, eine Gewerkschafterin in Dhaka, die als Mädchen selbst in Textilfabriken arbeitete. «Früher ging eine Frau nie ohne einen Mann auf die Strasse, und wenn es nur der kleine Sohn war. Heute ist es normal, dass eine Frau in der Stadt allein unterwegs ist, dass sie selbst für sich sorgt, dass sie sogar ihre Angehörigen auf dem Land unterstützt», sagt Akter. «Die armen und wenig gebildeten Frauen in den Textilfabriken sind es, die in diesem Land einen Wandel bewirkt haben.»

Die Textilindustrie gilt als erste Stufe beim wirtschaftlichen Aufstieg armer Staaten, vor allem in Asien. Erst waren es Taiwan und Südkorea, später Thailand und China, und als auch dort die Löhne anzogen, suchten sich die Modemarken noch billigere Produktionsländer. Wie Bangladesh. Eines der ärmsten Länder der Welt, dicht besiedelt, die Landwirtschaft leidet unter Überschwemmungen, viele Menschen besitzen ohnehin kein Land. Niedriglöhne plus laxe Sicherheitsstandards, so entwickelte sich Bangladesh ab Anfang der 1980er Jahre zum zweitgrössten Kleidungsproduzenten der Welt, hinter China. Textilien made in Bangladesh machen heute mehr als 80 Prozent der Waren aus, die das Land in die ganze Welt verkauft. In Bangladeshs fast 4500 Textilfabriken arbeiten mehr als vier Millionen Menschen, 80 Prozent sind Frauen. Junge Frauen vom Land, ohne Ausbildung und meist ohne Schulabschluss, die für sehr wenig Geld sehr viel arbeiten – Mädchen wie Taslima und Antora.

Die eine, Taslima, stämmig und klein, rundes Kindergesicht, schmale Augen, die Haare zu einem Dutt hochgesteckt. Die andere, Antora, zierlich, schmales Gesicht, hohe Wangenknochen, ein dicker Zopf baumelt ihren Rücken hinab, schwarzglänzend und fest geflochten. Die beiden sind Cousinen, 20 oder 21 Jahre alt, genau wissen sie es nicht, Geburtsurkunden waren im Bangladesh der 1990er noch selten. Taslima und Antora tragen exakt gezogene Lidstriche, lockere Hosen, knielange Tuniken, dünne Schals, Taslima in Pink und Schwarz, Antora in Blau und Gelb. Beide sprechen Bengali, Englisch ist ihnen fremd.

Kishoreganj, ein kleiner Ort auf dem Land, 120 Kilometer nordöstlich von Dhaka, Sommer 2012. Taslima und Antora steigen in einen Reisebus, sie tragen Saris und Kopftücher, in ihren Schulrucksäcken stecken Bananen, Tee, gekochte Eier, in den neuen Koffern Unterwäsche, Saris, zig Gläser Chilisauce hausgemacht. Ihre Mütter, die kleinen Geschwister und die Oma stehen an der Strasse und winken. Als der Bus am Ortsschild von Kishoreganj vorbeifährt, bricht Taslima in Tränen aus, Antora nimmt das Kopftuch ab. Nach sieben Stunden kommen sie am Busbahnhof Mohakhali in Dhaka an. Für die Fahrt zum Wohnheim verlangt der Rikscha-Fahrer 300 Taka, ungefähr 3.50 Schweizerfranken. Viel zu teuer, findet Taslima. «Grossstadtleben ist teuer», sagt Antora. Im Wohnheim teilen sie sich mit fünf Mädchen ein Zimmer, Dusche und Toilette benutzt der ganze Flur. Das Zimmer hat Stockbetten, Antora schläft über Taslima, und weil Taslima nicht einschlafen kann, singt Antora leise ein Kinderlied.

Am ersten Tag gehen sie durch die Strassen und Gassen von Badda. Sie bleiben hier stehen und da, starren Fabrikgebäude hoch, bewundern Stände mit kunstvoll aufgetürmtem Obst, bestaunen die Auswahl in den Schmuckgeschäften, beobachten, wie Polizisten versuchen, das Verkehrschaos zu kontrollieren. Die Augen gross, der Mund leicht geöffnet, treiben Taslima und Antora durch die neue Welt. In der sie viel und schnell lernen müssen. «Der schönste Schmuck eines Mädchens ist seine Schüchternheit», sagen die Menschen auf dem Land.

In der Stadt haben schüchterne Mädchen keine Chance. Allein eine Strasse zu überqueren, bedeutet, sich durch eine lärmende Masse aus Menschen und Fahrzeugen zu schlängeln, sich mit erhobener Hand, auch mit Wegdrängeln, Platz zu schaffen. Und dann die Männer. Schon wenn Taslima und Antora morgens aus dem Wohnheim kommen, sind sie überall. Männer auf Fahrrädern, Motorrädern, in Autos, als Fussgänger, taxierende Blicke, Augenzwinkern, zufällig scheinende Berührungen. Abends das Gleiche, nur unheimlicher, weil es dunkel ist. Taslima schaut nach unten, greift Antoras Hand.

In den ersten Tagen in der Fabrik sitzen sie neben einer Arbeiterin, lernen, wie man eine Nähmaschine bedient, wie aus Stoffteilen Hemden, Hosen, Kleider werden. Nie zuvor haben sie etwas auf einer Maschine genäht. Taslima hasst den Geruch in der Halle, das Maschinenöl, die Chemie in den Stoffen, den Schweiss. Wenn sie zum Fenster gehen will, scheucht ein Kontrolleur sie zurück an ihren Platz. Antora hasst das Stillsitzen, wenn sie abends ins Wohnheim kommen, massiert Taslima ihr den Rücken.

Nach fünf Wochen bekommen sie den ersten Monatslohn. Antora hüpft singend durch den Wohnheimflur, Taslima zählt wieder und wieder die Scheine. 3200 Taka, etwa 38 Schweizerfranken, das Einsteiger-Monatsgehalt bei Moon Garments. «Mein eigenes Geld», flüstert Taslima wieder und wieder. «Ich habe mit meiner Arbeit eigenes Geld verdient.» In einem Handyladen schickt jede den Grossteil ihres Lohns per Mobile-Money-Dienst nach Hause. 100 Taka pro Schwester und Bruder, 200 an die Oma, 1000 an die Eltern. Beim chinesischen Imbiss bestellen sie gebratenes Huhn, in einem Schmuckgeschäft schenken sie einander neue Nasenstecker. «Wir bleiben zusammen, und wir bleiben in Dhaka», versprechen sie einander, auf dem Weg nach Hause hüpfen sie Hand in Hand über die Pfützen. «Bald kaufe ich mir ein Smartphone, Tas», flüstert Antora, als sie im Bett liegen. Taslima antwortet nicht. Taslima schläft.

Drei Monate später. Antora und Taslima gehen in ein Handy­geschäft. Der Verkäufer mustert sie, zieht eine Augenbraue hoch, keine Begrüssung. «Wir möchten zwei Smartphones kaufen, das Modell da vorne rechts im Fenster», sagt Antora, ihre dunkle Stimme ist noch heiserer als sonst. Der Verkäufer macht grosse Augen. «Das Modell vorne rechts, aber gerne», sagt er, eilt zum Schaufenster, holt die Handys. Antora zieht einen Briefumschlag aus der Handtasche, fächert ein dickes Bündel Scheine auf den Verkaufstresen, 9000 Taka, rund 106 Schweizerfranken, zu Hause genau abgezählt. Der Verkäufer schiebt einen Hunderter zurück zu Antora. «Mit euch macht man gerne Geschäfte», sagt er, Antora lacht, Taslima wird rot. Am Abend kommen Reshmi, Lima und Jorna vorbei, bestaunen die Smartphones, streichen vorsichtig über die Displays. Als Antora an diesem Tag schlafen geht, liegt das Telefon neben ihrem Kopfkissen. Es wird nun jede Nacht dort liegen.

Kurz nach acht in Middle Badda. Abenddunkel verschluckt den smoggrauen Himmel, die Metalltür von Moon Garments geht auf, Dutzende Arbeiterinnen strömen hinaus, eine Woge aus Kleidung in knalligen Farben, schwarzglänzenden Haaren, goldenen Nasensteckern und Ohrringen. An Armreifen und Fusskettchen klingeln kleine Glöckchen, die Frauen reden, rufen, lachen, in der einen Hand den Beutel mit der Essensbox, in der anderen ein Handy, mitten in der bunten, lauten Menge Taslima und Antora, in ihren Armbeugen hängen Handtaschen aus glänzendem Kunstleder. Antora trägt eine braune Tasche mit goldfarbenem Prada-Logo, Taslima eine schwarze mit silberfarbenem Doppel-C, das Coco-Chanel-Logo. «Auf in die Geschäfte, und dann ab nach Hause», ruft Antora und strahlt. «Tas», sagt sie und hakt den linken Arm unter Taslimas rechten Arm, «Tas, wir brauchen Reis. Der Sack ist fast leer, die ganze Woche sprichst du davon, dass du einen neuen holen willst, wird das noch mal was?» Taslima nickt. «Kaufen wir jetzt», sagt sie und reibt sich die Augen, ganz vorsichtig, damit das Make-up nicht verschmiert, ihre Stimme ist hoch und dünn wie bei einem kleinen Kind.

Die Strasse an der Fabrik versinkt in Müll und tiefen Pfützen, in Baugruben steht stinkendes Wasser, klapperdürre Hunde schlafen neben Hundehaufen, zwei Männer hocken am Rand einer Grube und pinkeln. Taslima und Antora schreiten grazil die Strasse hinunter, nicht ein einziges Mal gucken sie auf den Boden, nicht ein einziges Mal treten sie in Müll oder Kot. Hier und da stehen in einem Gebäude Fenster auf, aus denen sich Köpfe neigen und hinunter auf die Strasse blicken, man hört Nähmaschinen surren, manchmal auch einen Ventilator. Häuserwände sind gepflastert mit Werbung, Imbisse bieten hausgemachtes Essen an, Handy-Shops günstige Tarife, Wohnheime für Fabrikarbeiterinnen freie Zimmer. Hinter einem Holzstand zieht ein Bäcker Linsenmehlfladen aus dem Ofen, in einem Lädchen nimmt ein Schneider bei einem alten Mann die Masse, im Eier-Geschäft füttert der Verkäufer seine Käfighühner.

Abends verlangen die Rikscha-Fahrer in Badda die höchsten Preise. «30 willst du?» Antora schüttelt den Kopf. «20! Höchstens! Nein? Dann eben nicht, fragen wir halt den nächsten.» Abends machen die Gemüsemänner, Obstverkäufer, Lebensmittelhändler von Badda das Geschäft des Tages. Die Kunden drängeln, schubsen, prüfen das Angebot. «Hey, Gemüsemann, deine Zwiebeln sind ganz weich», ruft Antora und drückt den Daumen in eine faustdicke Knolle. «Meine Ware ist die beste Ware in ganz Badda!», keift der Gemüsemann. «Was sag ich, in ganz Dhaka bekommt ihr nichts Frischeres!» – «Ja, das sehen wir!», blafft Antora. Sie rückt die Handtasche in ihrer Armbeuge zurecht, hakt sich bei Taslima ein, Arm in Arm und mit hoch erhobenem Kopf stolzieren die beiden aus dem Laden raus, in den nächsten Laden rein.

Taslima und Antora wohnen vier Strassenblocks von Moon Garments entfernt. Zwischen zwei Häusern führt ein schlammiger Pfad in den Hinterhof eines niedrigen Hauses, an einer Wasserpumpe wäscht ein kleines Mädchen einem anderen kleinen Mädchen die Haare, es riecht nach frischer Wäsche und gebratenen Zwiebeln. Taslima und Antora teilen sich das Haus mit zwei Familien. Im Flur steht ein Gaskocher, den alle benutzen. Antora hockt sich auf den Boden, schneidet Zwiebeln und Tomaten in kleine, mittelgrosse, grosse Stücke, Taslima rührt langsam und sorgfältig in einer Pfanne, weicht in einem Topf voll Wasser Reis ein. «Wenn wir abends aus der Fabrik kommen, sind wir müde, aber wir kochen immer etwas», sagt Antora. «W-i-r?», fragt Taslima. «Normalerweise koche ich, und du hängst schon vor dem Fernseher.» – «Weil ich so hart arbeite!», kontert Antora. «Weil, weil, weil», motzt Taslima, «du findest immer einen Grund, faul zu sein!» Antora schneidet Tomaten, grinst und schweigt.

Freundinnen kommen zum Abendessen. Reshmi, Lima, Jorna, Kolleginnen aus der Fabrik. Die Farben ihrer Schals passen zu den Farben ihrer Tuniken, auf ihren Handtaschen kleben Plastikgold-Logos, auf Reshmis Handyhülle glitzert Disneys Eiskönigin. Lima schaut in die Pfanne, verzieht das Gesicht. «Könnt ihr eigentlich nichts anderes kochen?» Antora trägt das Essen ins Zimmer, das sie mit Taslima bewohnt. Petrolblau gestrichen, etwa sechzehn Quadratmeter, ein Doppelbett, darauf Matten, Decken, Kissen, ordentlich gestapelt. Ein Schrank mit Gläsern, Geschirr, Plastikblumen. Ein Kühlschrank, ein kleiner Wandfernseher, eine wuchtige Nähmaschine. Ein Tischchen mit Zahnputzzeug, Haarbürsten, vielen Dosen Deospray. In einer Ecke stehen zwei kleine Koffer, an einem rosa Plastikspiegel klemmen Fotos, leicht verbogen und vergilbt. «Wir haben sehr lange nach einem Zimmer wie diesem gesucht», sagt Antora. «In Dhaka ist es schwer, etwas zu finden, aber irgendwann hatten wir Glück, die Familie eines Cousins hat hier gewohnt, sie haben uns an den Hausbesitzer vermittelt und uns ihre Möbel verkauft.»

Die Frauen quetschen sich nebeneinander auf den Boden, Antora teilt das Essen aus. «Beim China-Imbiss schmeckt es viel besser», sagt Lima, ihr Teller ist als erster leer. «Ach, und du verdienst so viel, Madame, dass du dir jeden Tag was vom Imbiss holen kannst?», schnappt Antora. Sie schaut zu Taslima. «Iss nicht so viel Reis, Tas, du hast jetzt schon einen fetten Hintern.» – «Genau», sagt Reshmi. «Was aber schlecht ist, denn Männer mögen keine Frauen mit fettem Hintern, Taslima, du musst schmal sein wie ein junges Mädchen, sonst schaut sich dein Tosidul schnell nach einer anderen um.» – «Dick und rund wird sie sowieso bald», sagt Jorna. «Sobald es mit Kindern losgeht, bekommt man die Pfunde nicht mehr runter.» Sie lachen und lachen, so laut, dass die Nachbarin den Kopf ins Zimmer steckt und fragt, was los sei. Taslima wird knallrot, vergräbt das Gesicht in den Händen, kichert.

Jorna rattert ihre Stückzahlen der vergangenen Woche runter. «Ohne mich», sagt sie, «würde Moon die Aufträge gar nicht schaffen!» – «Unsere Miss Moon», höhnt Antora. «Mir wird ganz schlecht, und das kommt nicht von Taslimas Essen.» Alle fünf Frauen arbeiten seit mehreren Jahren bei Moon Garments, jede verdient 7300 Bangladesh Taka im Monat, rund 86 Schweizerfranken. Mit Überstunden kommen sie auf 9000 bis 10 000 Taka. «Überstunden machen wir jeden Tag», sagt Taslima, «zwölf Stunden Arbeit so wie heute, das ist selten, normalerweise sind es fünfzehn, sechzehn pro Tag.»

Taslima und Antora zahlen zusammen 5000 Taka, rund 59 Schweizerfranken, im Monat für Zimmermiete und Strom, 1500 bis 2500 Taka sind für Essen, Rikscha-Fahrten, Arztrechnungen, zweimal im Jahr Schuhe und Schmuck. «1000 bis 2000 Taka schicken wir jeden Monat an unsere Eltern», erzählt Taslima. «Um die 3000 zahlen wir auf unsere Sparkonten ein», sagt Antora. «Das Geld wächst und wächst, irgendwann habe ich so viel, dass ich mir eine grosse Wohnung leisten kann. Oder ich mache eine Reise in den Süden, ans Meer.»

In keinem anderen asiatischen Land sind die Löhne von Textilarbeitern so niedrig wie in Bangladesh. Während die Produktivität der Branche wuchs, ging die Kaufkraft der Arbeiter zurück. Umgerechnet 68 US-Dollar pro Monat beträgt der gesetzliche Branchenmindestlohn, das ist unter der international definierten Armutsgrenze. Zuletzt erhöhte die Regierung den Mindestlohn, als 2013 nach dem Einsturz der Nähfabrik Rana Plaza die Textilarbeiter wochenlang für Streiks auf die Strasse gingen. Vorher lag der Mindestlohn bei 39 US-Dollar pro Monat.

Als beim Rana-Plaza-Unglück mehr als tausend Menschen starben, guckte die Welt plötzlich auf Bangladesh, der Aufschrei war gross. Die armen Arbeiterinnern, schuften in maroden Fabriken für die verwöhnten Westler, moderne Sklaverei! Etliche internationale Modemarken verpflichteten sich, die Sicherheit in den Nähfabriken deutlich zu verbessern. Es folgten hohe Auflagen und strenge Kontrollen für die Hersteller. Geld für das Sanieren der Fabriken zahlen die Modekonzerne jedoch nicht, sie schieben die Verantwortung ab an die Produzenten. Und für faire Löhne setzen sich Marken wie H&M, Primark, Kik, Hugo Boss sowieso nicht ernsthaft ein, kritisieren Menschenrechts- und Arbeiterrechtsaktivisten. Am Geschäftsmodell der Branche – so billig wie möglich produzieren – habe sich nichts geändert.

Die mageren Löhne seien das grösste Problem, sagen Gewerkschaftler in Dhaka. Arbeiterorganisationen sind in Bangladesh legal, doch die Regierung unterdrückt sie massiv. Sie hält den Mindestlohn so niedrig, um den einzig starken Wirtschaftssektor im Land zu halten, Bangladesh hat bisher keine Alternative zur Textilindustrie aufgebaut. Die Fabrikbesitzer müssen sich im weltweiten Wettbewerb behaupten, und der wird immer härter. Die internationalen Modemarken verlieren Gewinn, wenn die Menschen in den Produktionsländern mehr verdienen, die ersten lassen jetzt in Afrika produzieren, da sind die Löhne noch geringer als in Asien.

Die Freundinnen verabschieden sich. «Das nächste Mal gehen wir zum Chinesen, ich will mir mal wieder gutes Essen gönnen», sagt Lima und kneift Taslima in die Wange. «Danke, meine Kleine, du hast wie immer sehr gut gekocht.» Antora holt Wasser vom Hof, wäscht in einer Plastikschüssel Teller und Gläser ab, dann nimmt Taslima die Schüssel und macht im Hof die Wäsche. Später setzt sie sich an die Nähmaschine, ein altes Modell mit Fusspedal, näht eine fliederfarbene Pluderhose. «Was wir in der Fabrik nähen, sieht komisch aus», sagt Taslima. «Alles immer nur hell oder dunkel, das sind doch keine Farben, das sieht total langweilig aus.» Taslima zieht einen türkisfarbenen Stoff aus einer Plastiktüte, näht eine Tunika, näht ein Kinderkleid, näht einen Schal, Aufträge der Familien aus dem Haus. Antora liegt auf dem Bett und guckt Fernsehen, einen indischen Liebesfilm. Irgendwann ist es kurz vor ein Uhr nachts, Taslima fallen immer wieder die Augen zu. Antora breitet Decken aus, schüttelt Kissen auf. «Zeit zu schlafen, Tas.»

Ein früher Freitagmorgen am Busbahnhof Mohakhali, noch im Dunkeln startet der Bus nach Kishoreganj. Als der Fahrer die Ladetüren zuknallt, scheint kein Strohhalm mehr hineinzupassen, aus den Gepäckfächern quellen Plastiktüten, Taschen, Körbe, die Fahrgäste teilen sich zu dritt oder viert einen Doppelsitz. Taslima und Antora schreiben Whatsapp auf ihren Smartphones, Antoras steckt in einer rotglänzenden Lederhülle mit Prada-Logo, Taslimas in einer schwarzen mit silberfarbenem CC. «Sind grad los», schreibt Antora und drückt «Senden». Entlang der Strecke stehen zig Nähbetriebe, manche flache Baracken, andere mehrere Stockwerke hoch, bei Gazipur geht es links in einen Industriepark, die grössten Textilhersteller des Landes haben dort in den vergangenen Jahren riesige Fabriken gebaut. Die Leute im Bus essen, reden, schlafen, manche Mädchen müssen sich übergeben, Antora füttert Taslima mit Papaya.

Als der Bus am Ortsschild von Kishoreganj vorbeifährt, holen sie lange Tücher aus den Rucksäcken und verhüllen sich, Antora lässt nur die Augen frei. Am Marktplatz warten bereits ihre Familien, die Mütter weinen, die Geschwister küssen sich, die kleinen Mädchen hängen den grossen Schwestern Kränze aus gelben Blüten um den Hals, tanzen um sie herum. Die Familien wohnen in einem Dorf, vom Marktplatz eine knappe Stunde zu Fuss. Am Weg liegen Reisfelder und Bananenwäldchen, kleine Jungs treiben Kühe und Ziegen durch braunes Gras, Frauen hacken Feuerholz. Die Familien von Taslima und Antora wohnen auf einem gemeinsamen Hof, Antoras in einer Holzhütte, Taslimas Familie hat vor einigen Monaten ihre Hütte abgerissen und ein Häuschen aus Wellblech gebaut. Links schlafen die sieben Kinder, mit Taslima acht, rechts die Eltern, dazwischen ein Vorhang und ein Schrank mit Küchensachen, Kleidung, Wäsche.

Taslimas Vater arbeitet als Landwirt wie seine vier Brüder. Früher hatte er drei Kühe und ordentliche Reisernten, manchmal so viel, dass er ein paar Sack auf dem Markt verkaufte. Zwei Kühe sind weg, die Familie brauchte Geld. «Mit dem Reis wird es immer schlechter», sagt der Vater. «Der Monsun ist jedes Jahr stärker, er schwemmt die Pflanzen weg, oder sie verfaulen im zu hohen Wasser.» Wie wichtig ist das Geld, das Taslima jeden Monat nach Hause schickt? Der Vater schweigt, schaut auf seine Hände. Die Haut sieht aus wie Leder, auch im Gesicht, Ende 40 ist er. Taslima und Antora verdienen als Arbeiterinnen in einer Nähfabrik so viel, wie ihre Väter als Bauern nie in ihrem Leben verdient haben und nie mehr verdienen werden. Ohne die Hilfe der Töchter könnten ihre Familien nicht überleben.

Taslima und Antora servieren das Essen. Riesige Schüsseln mit Reis, Huhn, Fisch, Salat, Saucen, stundenlang haben sie gekocht. Nach dem Essen verteilen sie Geschenke. Sandalen und Medikamente für die Eltern, Stifte, Schulhefte, ein Fussball für die Geschwister, Ohrringe für die Oma. Die kleinen Brüder wollen auf den Smartphones der grossen Schwestern spielen, Antora schaut sie an, eine kleine Kopfbewegung, sofort sind die Jungs still.

Schon vor vielen Jahren gingen Mädchen aus Kishoreganj nach Dhaka, um in einer Textilfabrik zu arbeiten. Taslima und Antora dachten, dass sie die Schule fertig machen und dann zu Hause helfen würden. Doch die Familien brauchten ein festes Einkommen, also mussten die Töchter in die Stadt ziehen. Im Dorf zerrissen sie sich damals den Mund. «Ein unverheiratetes Mädchen allein in der Stadt, das gehört sich nicht», mahnten die einen. «Ein Mädchen ist völlig hilflos, natürlich wird es dort von allen Männern ausgenutzt.» – «Oder schlimmer noch», unkten andere, «wenn ein Mädchen in der Fabrik mit Männern zusammenarbeitet, verliert es Anstand und Moral, man kennt doch die Geschichten! Und wer nimmt so eine noch als Schwiegertochter?» Taslimas Vater lag nachts wach im Bett, grübelte, morgens molk er seine letzte Kuh, grübelte. Taslimas Mutter beriet sich mit Antoras Mutter, dann beschlossen Antoras Eltern: Unsere Tochter geht auch in die Stadt. Zu zweit passen sie aufeinander auf, zu zweit verdienen sie mehr Geld.

Auf dem Land ist das Leben eines Mädchens vorgezeichnet. Heirat mit 15, 16, den Partner suchen die Eltern aus, nach der Hochzeit lebt die Frau in der Familie ihres Mannes, die dafür eine möglichst hohe Mitgift erwartet. «Meine beste Freundin aus der Schule hat vor fünf Jahren geheiratet», erzählt Taslima. «Sie hat zwei Kinder, ist mit dem dritten Kind schwanger. Wenn wir hiergeblieben wären, würden wir heute auch so leben.» – «Es ist gut, unabhängig zu sein, bevor man heiratet», sagt Antora. «Ausserdem ist das Leben in Dhaka zwar sehr hart, du musst jeden Tag kämpfen. Aber es hat auch viele Vorteile. Deine Arbeit, die Geschäfte, alles ist gleich um die Ecke. Und du hast mehr Freiheit, du bist nur ein Mädchen von vielen. Im Dorf stehst du immer unter Beobachtung, alle reden über dich. Mach dies, tu das, mach dies nicht, tu das nicht, so geht es hier den ganzen Tag.» Taslima lächelt. «Heute», sagt sie, «sind die Leute im Dorf neidisch, weil wir unseren Familien Geld schicken und Geschenke mitbringen.» – «Manchmal fühle ich mich nicht mehr wie ein Mädchen», sagt Antora. «Manchmal fühle ich mich so stark wie ein Mann.»

Middle Badda, Dhaka, Sommer 2016. Natürlich merkt sie, wie er sie anstarrt, der gut aussehende Junge, der seit ein paar Tagen die Aufsicht über ihre Produktionslinie hat. Tosidul heisst er, 23, grosse Augen, lange Wimpern, strahlendes Lachen, alle Mädchen schauen ihm nach, alle Mädchen reden über ihn. Aber Tosidul sieht nur Taslima. Viel häufiger, als er muss, geht er an ihrem Platz vorbei, beobachtet, wie geschickt und schnell sie näht, riecht ihr süsses Haaröl, hört, wie sie kichert, hört ihre Stimme, wenn sie mit Antora spricht. Antora ist die Hübschere der beiden, doch Taslima hat eine viel hellere Haut, in Südostasien ein Schönheitsideal. Einen Monat nach seinem Arbeitsbeginn in Taslimas Linie macht Tosidul ihr einen Heiratsantrag. So erzählt es Taslima heute, wenn man sie nach Tosidul fragt.

Taslima und Antora spazieren durch den Ramna-Park in Dhaka, es ist früh am Abend, der Park ist voll mit jungen Leuten, Mädchencliquen, Pärchen, Familien mit Kindern. Antora kauft an einem Wagen Erdbeereis, es gibt etwas zu feiern, beide haben am selben Tag einen freien Tag, das erste Mal seit vielen Wochen. «Als ich meinen Eltern von Tosiduls Antrag erzählte, war mein Vater sehr wütend», sagt sie. «Er wollte, dass ich einen Cousin heirate, der im Nachbardorf wohnt, unsere Eltern hatten das schon vor langer Zeit ausgemacht. Aber Vater hat schnell eingesehen, dass es keine gute Idee ist, weil ich dann kein Geld mehr verdienen würde.» Taslima sagt, dass Tosidul nach der Hochzeit zurück in seine Heimat ziehen will, er stammt aus einem Dorf bei Rangpur, ganz im Norden Bangladeshs. «Er will dort Land kaufen und einen Hof aufbauen.» – Was hält sie davon, ist es eine gute Idee? – Taslima leckt an ihrem Eis, schaut auf ihre Füsse, antwortet nicht. Antora klappt die Hülle ihres Smartphones auf, checkt Whatsapp-Nachrichten. «Zurück aufs Land?», fragt sie und zieht die rechte Augenbraue hoch. «Zurück in mein Dorf gehe ich ganz sicher nicht.»

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Kasten:

ZU VERFÜHRERISCH
60 bis 70 Kleidungsstücke kauft jeder Deutsche durchschnittlich im Jahr, Fast Fashion sei Dank: Der Markt wird von immer mehr Kollektionen überspült, gleichzeitig wird Kleidung zu absurd niedrigen Preisen angeboten. Zwar hat sich mit Slow Fashion ein Gegentrend gebildet, der auf Nachhaltigkeit in der Mode setzt. So führt die Kette H&M etwa eine «Conscious Collection», und das Schmuddelkind unter den Fast-Fashion-Discountern, Primark, versucht, mit nachhaltig produzierter Baumwolle sein Image aufzubessern. Trotzdem ist Kleidung für viele Käuferinnen längst ein Wegwerfartikel – und das Geschäft floriert: In den Jahren 2000 bis 2015 hat sich die weltweite Textilproduktion verdoppelt – und die Textilexporte Bangladeshs legten zwischen 2013 und 2016 um 20 Prozent zu.

ZU FRÜH
Wer als Mädchen in Bangladesh geboren wird, hat es schwer: Mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit wird das Kind nicht lesen und schreiben
lernen, dafür mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit noch vor dem 18. Lebensjahr verheiratet werden, was meist das Ende einer Ausbildung bedeutet – falls ein Mädchen eine Schule überhaupt jemals von innen sieht. Dem Patriarchat entsprechend, gilt die Frau als dem Mann untergeordnet. Wenn ein junges Mädchen heiratet, ist es im Haus des Ehemanns nicht nur ihm, sondern auch der weiblichen Verwandtschaft unterstellt. Die Aufgabe der Ehefrau: Care-Arbeit, also Haushalt und Pflege, vor allem aber: Kinder gebären.

AUTOR(IN)
[Name] kauft selbst zwar weniger als vor der Recherche, aber immer noch bei grossen Modeketten. Zum Beispiel weisse und blaue Laufsocken bei H&M, 7,99 Euro das Viererpack. Schuldig am Dilemma der globalen Textilindustrie fühlt er/sie sich als KonsumentIn nicht, da er/sie während
der Recherche im Februar 2018 vielerorts gehört hat: «Weiterkaufen!» In Bangladesh ist die Textilindustrie der wichtigste Wirtschaftszweig, das Land kann nicht auf ihn verzichten. Für [Name] liegt die Lösung des Problems daher nicht im Boykott der grossen Modeketten. «Nicht der Konsum muss sich ändern, sondern die Löhne müssen steigen – und damit auch die Preise bei uns.» Sein/Ihr Lösungsansatz: Nur noch Mode von Anbietern kaufen, die faire Löhne garantieren.

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Dieser Beitrag wurde finanziell durch den Medienfonds «real21 – Die Welt verstehen» unterstützt.