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Die Zukunftswerkstatt

von Helene Endres
manager magazin vom 21.02.2020

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Die Zukunftswerkstatt

Die indische Metropole Bangalore ist zu einem der wichtigsten Tech-Hubs der Welt aufgestiegen. Für einige deutsche Weltkonzerne ist der Standort sogar attraktiver als das Silicon Valley.

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Bei Siemens Healthineers in Bangalore erhebt sich in der Kantine eine zweistöckige Biskuitcremetorte von der Größe und Fluffigkeit eines Kinderbetts. Dahinter steht Gerd Höfner und zerteilt den Karamelltraum mit einem machetenartigen Messer und der Präzision eines echten Siemensianers. Es regnet goldenes Konfetti und riecht süßlich. Höfners Personalchef schnappt sich das Mikro: "Wir sind wieder 'Great Place to Work' geworden, mit noch besseren Werten als letztes Jahr." 1800 junge Menschen jubeln frenetisch, die ersten Stücke Torte werden verteilt, Ingenieure füttern sich gegenseitig. Maximale Glückseligkeit.
Great Place to Work, das ist Bangalore auch für Höfner. Seit 2002 arbeitet der Deutsche hier, seit 2015 ist er in der Medizintechniksparte der Münchener verantwortlich für Produktion und Forschung im südlichen Asien. Er ist damit auch Chef der 2100 Siemens-Ingenieure und Programmierer in Indiens Techhauptstadt.
Was früher lediglich ein günstiger Outsourcingstandort war, hat sich zu einem der wichtigsten Tech-Hubs der Welt entwickelt: Ob Google oder Microsoft, Goldman Sachs oder Huawei, ABB oder eben Siemens – die globale Konzernelite treibt hier die Digitalisierung ihrer Geschäfte voran. Rund 1250 Unternehmen haben solche Global Inhouse Center in Indien gegründet – knapp die Hälfte davon in Bangalore (siehe Karte "Indiens Tech-Hauptstadt").
In der Stadt ist ein Cluster entstanden, das die weltgrößten Unternehmen anlockt. Sie finden hier die besten Köpfe des Landes, zu unschlagbaren Preisen. Die Elf-Millionen-Metropole ist zur echten Alternative zum Silicon Valley geworden.
In den Forschungskomplexen, die in Glanz und Größe den Hauptsitzen in der Heimat oft in nichts nachstehen, arbeiten die Mutterkonzerne an ihren Megathemen: Big Data und künstliche Intelligenz, Automatisierung und Cloudtechnik.
Ein erklecklicher Teil auch der deutschen Topkonzerne ist vor Ort: Bosch zählte 2000 zu den Pionieren, inzwischen mischen neben Siemens auch Conti, Deutsche Bank, Daimler, SAP, T-Systems oder Airbus mit.
So taugt Bangalore als Paradebeispiel, was sich industriepolitisch alles erreichen lässt, wenn man sich seiner Stärken rechtzeitig bewusst wird und dann die richtigen Hebel umlegt.
Gerd Höfner residiert in einem verspiegelten Bürogebäude der "Electronic City", einem der diversen Wurmfortsätze der rasant wachsenden Stadt. Seine Leute entwerfen hier 60 Prozent der Siemens-internen Software, den Geheimcode der Münchener.
Hinter drei Sicherheits- und zwei Strahlenschutzschleusen verbirgt sich etwa ein PET/CT- Scanner, eine Kombination aus Positronen-Emissions-Tomograf und Computertomograf. Er kann den menschlichen Körper bis in die letzte Faser durchleuchten. Die Daten werden von einer künstlichen Intelligenz analysiert und als 3-D-Figur dargestellt, die sich beliebig drehen und wenden lässt. Das System soll den Arzt später auf vorhandene Tumoren hinweisen, Diagnosen und Behandlungsmethoden vorschlagen und den Zustand des Patienten exakt speichern. "Medizingeräte zu entwickeln ist das eine", sagt Höfner stolz. "Wir arbeiten hier an Lösungen, wie wir mit den Daten umgehen, die unsere Maschinen liefern."
Ein Stockwerk darüber programmiert ein Team an etwas noch Kühnerem: Ein intelligenter Softwareassistent soll Ärzten einen Überblick zum Status eines Patienten liefern und Vorschläge für die weitere Behandlung machen. In den Algorithmus sollen auch Daten aus Genanalysen einfließen, die individuelle Krankengeschichte, familiäre Vorbelastungen, Lebensstil, sozioökonomisches Umfeld. "Am Ende könnte ein digitaler Zwilling jedes Patienten stehen", erklärt Höfner die Vision. "Dann können wir digital testen, welche Behandlung anschlägt, welche Lebenserwartung der Patient hat – und was diese verlängern könnte."

Indiens absolute Topverdiener

Seine Mitarbeiter seien dabei "keine Zulieferer – eher ein integraler Bestandteil der globalen Entwicklungseinheiten, wie ein enger Familienangehöriger". Das Durchschnittsalter liegt bei 31 Jahren, 30 Prozent der Belegschaft sind Frauen, alle gehören laut Höfner zu den 0,1 Prozent der bestverdienenden Inder. "Und sie sind auch die Besten."
Bei einer Bevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen ist der Talentpool enorm, auch wenn das durchschnittliche Bildungsniveau in Indien weit hinter dem Europas zurückliegt. Allein in Bangalore arbeiten inzwischen 400.000 Menschen in den Forschungszentren ausländischer Konzerne.
Höfner erzählt von einem Kollegen in Deutschland, der anderthalb Jahre keinen Softwarearchitekten fand, weder intern noch extern. In der Heimat fehlen laut Institut der Deutschen Wirtschaft aktuell fast 300.000 MINT-Fachkräfte. Als Höfner die Stelle intern bei sich ausschrieb, hatte er sie ruck, zuck besetzt.
Auch das ist ein Vorteil der konzerneigenen Forschungszentren: Sie gewähren Zugang zu Spezialisten, die bereits mit der Unternehmenskultur vertraut sind, die Produkte kennen und dank vereinfachter Visaprogramme auch sofort einsetzbar sind. Etwa 2 Prozent seiner Truppe transferiert Höfner jedes Jahr nach Deutschland.
Am Rand der Stadt, deren Einwohnerzahl sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt hat, entstehen immer neue Techparks. Beim Brauereiriesen Anheuser-Busch wird in einer nachgebauten Kneipe konferiert, bei der US-Handelskette Saks Fifth Avenue in einem Shop inklusive Luxuswaren, bei Victoria's Secret wurde das New Yorker Designoffice kopiert – für den Corporate Spirit der Techies. Rundherum siedeln sich die Kaderschmieden des Landes an, zahllose Start-up-Acceleratoren bieten Hilfe. "Derzeit kommt jede Woche ein neues Unternehmen nach Bangalore", sagt Lalit Ahuja, Gründer der Beratungsfirma ANSR. "Und ich rede nicht von Techcompanies. Das sind häufig ganz klassische Unternehmen, die merken, dass sie den Anschluss verlieren."
In einer "Economist"-Studie zum besten Umfeld für digitale Transformation belegte Bangalore unter 45 Städten weltweit Platz eins – und zwar in allen Kategorien, vom Arbeitskräfteangebot über die Infrastruktur bis zu Finanzierungsmöglichkeiten; der letzte Platz ging übrigens an: Berlin. Und auch im "City Momentum Index" der Beratung JLL kam Bangalore 2019 auf den ersten Platz – vor Ho-Chi-Minh-Stadt und dem Silicon Valley.
Manche sagen, die Stadt sei sowieso die einzige in Indien, in der es sich langfristig aushalten ließe: Die Straßen bevölkern Menschen aus aller Welt, in den Rooftop-Bars wird Alkohol und Rindfleisch serviert, in weiten Teilen kann man sich auch nach Einbruch der Dunkelheit zu Fuß bewegen. Selbst die heftigen politischen und religiösen Spannungen, die das Land erschüttern, schlagen hier kaum durch. Kaschmir und Delhi sind Tausende Kilometer weit weg.
Schon zu Zeiten der britischen Kolonialherrschaft kam Bangalore seine Lage zugute: Ein grüner Ort ("Garden City") mit angenehm warmem Klima und regelmäßigem Regen, knapp tausend Meter in der Höhe. Nach der Unabhängigkeit 1947 schwärmte Premier Jawaharlal Nehru von den Schulen und Krankenhäusern. Er siedelte das Raumfahrtzentrum und fünf Staatskonzerne an, die Basis des heutigen Erfolgs. Zigtausende Ingenieure kamen aus dem ganzen Land – und weil die Kinder in Indien oft den Beruf der Eltern ergreifen, wuchs die nächste Ingenieursgeneration heran und war, als der Techboom begann, bereit für den Arbeitsmarkt.
Eine dieser Second-Generation-Bangaloreans ist Sindhu Gangadharan, gerade ernannte Chefin der SAP Labs India, der größten Forschungseinheit des IT-Konzerns jenseits der Zentrale. Vor dem gut acht Hektar großen Campus im östlichen Whitefield kauen Kühe zwischen kaputten Kloschüsseln am Straßenrand und geplatzten Mülltüten, Mopeds knattern durch Schlaglöcher. Doch wer den Campus betritt, landet irgendwo zwischen Palo Alto und Waldorf.
Mehrere verspiegelte Bürogebäude verteilen sich in einem üppig angelegten Garten, dazwischen saubere Wege und Springbrunnen. Als Sindhu Gangadharan 1999 als Entwicklerin anheuerte, hatte SAP Labs India 200 Mitarbeiter. 2001 wechselte sie nach Waldorf, und seit wenigen Monaten ist sie zurück, als Boss von nun 8500 Menschen. Im Norden baut SAP einen zweiten Campus mit doppelter Fläche, für noch ein paar Tausend Mitarbeiter mehr.
Der Hub in Bangalore ist für den wertvollsten Dax-Konzern unverzichtbar: "Wir decken hier das ganze Portfolio unserer Produktpalette an einem Ort ab", sagt Gangadharan.

IT-Profis als Schnäppchen

Software ist ortsunabhängig. Sie kann dort entwickelt werden, wo die besten Bedingungen herrschen. Und so baut eine deutsche Firma Lösungen für deutsche Kunden eben in Indien, zum Beispiel für VW. "Der Großteil von VWs Beschaffung läuft auf SAP – und die Entwicklung dieser Anwendung entstand hier in Bangalore", so Gangadharan. "Der Vorteil für die Kunden ist, dass sie bei uns Zugang zu allen Services und Innovationsteams haben, egal ob es sich um Supply-Chain, Machine-Learning oder Cloudplattform handelt."
Im hauseigenen Inkubator (in Bangalore ebenso unverzichtbar wie die Kantine mit Foodcourt) gibt es 100 Plätze für Gründer. Und im Co-Innovation Lab um die Ecke wird mit Kunden und Partnern gemeinsame Sache gemacht.
Wie im Silicon Valley ist in Bangalore geradezu idealtypisch ein Cluster entstanden. Hochschulen, Unternehmen und ihre Zulieferer tummeln sich auf engem Raum, wovon alle profitieren. "Für uns ist dieses Prinzip der kurzen Wege ein riesiger Standortvorteil", sagt Gangadharan. "Unsere Partner und Kunden haben auch alle Innovation-Center hier – beispielsweise Shell, einer unserer größten Kunden."
Die Aussicht auf lukrative Jobs lockt talentierte Mitarbeiter. Zwar wird um die besten Leute auch in Bangalore hart gekämpft. "Auf Managementebene werden inzwischen internationale Gehälter gezahlt. Aber darunter wird es für westliche Firmen spannend", sagt ein Personalberater. "Sie bekommen hier, was sie nirgends sonst auf der Welt bekommen: Mitarbeiter von Topfirmen wie Google oder Amazon zum Schnäppchenpreis, aber mit Qualifikation wie im Valley. Die drehen Ihnen in zwei Jahren Ihr angestaubtes Unternehmen um."
Viele westliche Firmen, oft leicht angeschlagene Namen aus dem Handel, kommen mit großen Problemen und großem Geld nach Bangalore. "Im Silicon Valley verdient ein Programmierer bei Google 250.000 Dollar und wird den Teufel tun, dort zu kündigen, um für eine angeschlagene Baumarktkette eine künstliche Intelligenz für die Shoplogistik zu entwickeln. Hier verdient ein erfahrener technischer Ingenieur bei Google 30.000, die besten 50.000. Wer also 100.000 Dollar bietet, bekommt jeden, den er haben will", so der Berater. Die Gehaltsentwicklung sei "obszön". Aber im Vergleich zu den Löhnen in anderen Tech-Hubs ist Bangalore eben immer noch günstig.

Blaupause für ganz Indien

Der Mann, mit dem der aktuelle Hype in der Stadt begann, ist klein und schmal. Er unterhält ein Office im Erdgeschoss eines Hauses im gepflegten Wohnviertel Jayanagar. Narayana Murthy (73) ist einer der Gründer von Infosys, Indiens legendärem IT-Pionier, und mit etwa 2,5 Milliarden Dollar Vermögen selbst eine Legende.
Ende der 70er Jahre begann er, Indiens Outsourcinggeschäftsmodell aufzubauen: Seine Landsleute sollten IT-Serviceleistungen für US-Firmen erbringen. 1981 gründete er gemeinsam mit sechs Partnern Infosys. Zunächst legten sie in Pune los, etwa 800 Kilometer nordwestlich. Doch schnell wurde Murthy klar: Wenn er Wachstum wollte und Talente, musste er nach Bangalore. "Das waren teilweise ganz triviale Gründe: Im Bundesstaat Maharashtra war das Mietrecht derart komplex, dass es für junge Menschen schwer war, eine Wohnung zu finden. Hier war alles entspannter."abbildung
Heute setzt Infosys mit gut 200.000 Mitarbeitern rund zwölf Milliarden Dollar um. "95 Prozent unserer Aufgaben sind inzwischen State-of-the-Art-Softwarelösungen – lediglich 5 Prozent ist klassisches Backoffice", sagt Murthy, der selbst nur noch als Venture-Capitalist und Business-Angel arbeitet. "Es gibt wenige Orte auf dieser Welt, die so perfekt sind, um ein Unternehmen zu gründen, wie Bangalore."
Er hofft sogar, dass die Stadt zur Blaupause für das ganze Land wird. Schon jetzt versuchen immer mehr Städte, ausländische Investoren anzulocken, indem sie sich als Tech-Hub positionieren – Chennai und Pune, Hyderabad und Gurgaon holen auf.
Aber es gibt natürlich weiter Widrigkeiten, die Infrastruktur zum Beispiel ist anfällig – wie Murthy immer wieder selbst erfährt. Soeben ist in seinem Büro zum dritten Mal innerhalb einer Stunde der Strom ausgefallen. "Und in Bangalore kann man schnell vergessen, wie niedrig das Bildungsniveau in Indien insgesamt ist." 25 Prozent der Menschen können nicht oder kaum lesen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung arbeitet immer noch im Agrarsektor und lebt von der Hand in den Mund. "Es muss noch viel passieren, aber ich bin optimistisch."

Deals in Davos

Der umliegende Bundesstaat Karnataka tut schon mal, was er kann. Die Bürokratie funktioniert besser als anderswo in Indien, Investitionsprogramme helfen bei der Ansiedlung. Karnataka wirbt mit Anzeigen und auf Messen gezielt um internationale Konzerne. Auch auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos war man vertreten.
Premier Narendra Modi reist ebenfalls gern um die Welt, um für Indien zu werben und für seine Reformen, die ausländischen Unternehmen Geschäfte erleichtern sollen. Immerhin: Indien hat sich 2020 im "Ease of Doing Business"-Index der Weltbank um 14 Plätze verbessert, auf Platz 63.
Aber solche Hoffnungen existieren seit Jahren. Und verglichen mit dem großen Nachbarn im Osten, China, wirkt Indien eher wie das ewige Talent. Begabt, aber der Durchbruch gelingt nicht.
Bernhard Steinrücke kann diesen Vergleich trotzdem nicht mehr hören. Seit 17 Jahren ist der ehemalige Banker Hauptgeschäftsführer der deutsch-indischen Handelskammer. Er hat zahllosen deutschen Unternehmen geholfen, in Indien Fuß zu fassen. "Der Indien-China-Vergleich hinkt insofern, als Indien einfach eine Demokratie ist – die größte der Welt. Da können Sie nicht so durchregieren wie in China", sagt er. Indien sei gerade aufgrund seiner langsamen Prozesse ein zuverlässiger Partner. "Chinas Wirtschaft wurde etwa 15 Jahre vor Indien liberalisiert. Wenn man die Wachstumskurven nach der jeweiligen Öffnung vergleicht, sieht man, dass diese parallel verlaufen", sagt er. "Deutsche Firmen haben in Indien Chancen wie in China – bei weniger Risiken, höherer Rechtssicherheit und besseren Ertragschancen."
Trotzdem muss man immer noch ein ordentliches Maß an Frustrationstoleranz mitbringen, etwa bei der Durchsetzung von Forderungen oder der zum Teil arbeitsfeindlichen Infrastruktur.
In einer Stadt wie Bangalore, die exponentiell wächst, aber in weiten Teilen das Straßennetz einer Kleinstadt unterhält, wird das schnell katastrophal. Da die Center meist weit außerhalb liegen, heißt das: Stau. Die Mehrzahl hat das Elend akzeptiert oder plant den Arbeitstag antizyklisch, um der Rushhour zu entgehen. K. S. Viswanathan, Vizepräsident der mächtigen Techvereinigung Nasscom, sagt es so: "Der Verkehr in Bangalore kostet Firmen vielleicht eine Million Dollar – doch wenn sie ganz wegbleiben, kostet sie das 100 Millionen."

Besser als in Stuttgart

Manu Saale, Managing Director und CEO der Mercedes-Benz R&D India, verbringt täglich vier Stunden in seinem weißen Mercedes GLS: 1,5 hin, 2,5 zurück, für 20 Kilometer. "Für mich ist das Arbeitszeit, ich habe einen Fahrer und telefoniere, mache Mails, meditiere", sagt Saale, der sich selbst als halben Deutschen bezeichnet – zuvor hat er 15 Jahre bei Bosch gearbeitet.
Unten in der Lobby eines der größten Daimler-Forschungszentren außerhalb Deutschlands steht in glänzendem Rot eine A-Klasse, und das war's schon fast an Hardware. Zu viel Blech ist unerwünscht, um das Denken nicht zu beschränken: In Bangalore werden keine Autos gebaut, Saales 4000 Kolleginnen und Kollegen forschen an Computersimulation, Design, Elektronik und IT, an rein digitalen Modellen und mit großem Selbstbewusstsein.
"In jedem Mercedes steckt ein bisschen Indien", sagt Saale stolz. Besonders wenn es regnet: So meldeten seine Ingenieure zum Beispiel ein Patent auf das perfekte Design von Frontscheibe und Scheibenwischer an. Modelle aus Glas und Gummi brauchte es für die Entwicklung nicht, alles wurde digital getestet. Erst als die perfekte Scheibenwischerkombination gefunden war, schraubte man den Prototyp zusammen.
Auch Crashtests für alle Mercedes-Modelle übernimmt Saales Labor – ohne ein einziges Auto zu schrotten. "Wir bauen die Fahrzeuge digital und lassen sie gegen die virtuelle Wand fahren. Anschließend verändern wir die Fahrzeuge so lange, bis wir uns sicher sind, das Optimum rausgeholt zu haben", sagt der CEO. "So sparen wir fast 50 Autos im Jahr – und extrem viel Zeit." Erst ganz am Ende kracht es wirklich, das ist Auflage der Behörden.
Der Traum des indischen Managers: ein Auto komplett digital zu entwickeln – und dann direkt in die Produktion zu geben. "Warum müssen die Kunden fünf, sechs Jahre auf ein neues Auto warten, aber nur zwei auf ein neues Telefon? Wenn wir nicht mehr in Blech denken, sondern digital, schaffen wir das auch."
Wie in den anderen Forschungszentren herrscht auch hier Aufbruchstimmung. Frauen und Männer erzählen, welchen Beitrag sie zur Sicherheit der Menschheit erbringen und wie sie die Zukunft von Mercedes sichern. "Die Begeisterung der Leute für ihren Job ist Teil unserer Kultur", sagt Saale. "Jedem Executive, der aus Stuttgart hierherkommt, fällt das sofort auf. Und spätestens dann wollen sie ihre Projekte in Bangalore machen." Was man jetzt an Experten brauche – das finde man einfach nicht in Stuttgart oder Berlin.
Ist Bangalore also das Silicon Valley des Ostens? In seinem Büro antwortet Indiens IT-Legende Murthy so: "Einerseits ja – beide sind die Techzentren ihrer Länder, in beiden finden Gründer gute Bedingungen vor. Andererseits stammt aus Bangalore noch keine Innovation, die die Welt verändert hat, wir haben keinen Steve Jobs, kein Google, kein Stanford – also wäre ein Vergleich vermessen." Dann lehnt der Milliardär sich zurück, lächelt und sagt: "Aber was haben Deutschland oder Frankreich oder Japan schon hervorgebracht? Vielleicht sollten wir uns nicht so viel Sorgen über Indien
machen."

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Kasten:

Lehren einer IT-Legende

Infosys-Gründer und Milliardär Narayana Murthy.

[Medium]: Herr Murthy, das Niveau der Forschungszentren in Bangalore ist extrem hoch. Ist das ein Geschäftsmodell für ganz Indien?

NARAYANA MURTHY: In der Weltklassetechnologie müssen wir weiter wachsen, hier haben wir noch großes Potenzial. Dafür muss Indien das Bildungssystem reformieren; in den Rankings der besten Universitäten weltweit spielen wir noch keine große Rolle. Aber auch jenseits der Elitenbildung müssen wir das Niveau heben – mit Investitionen, Training, Lehrern.

Wo sehen Sie das größte Potenzial für neue Jobs?

In einem Land mit Hunderten Millionen Analphabeten haben Lowtech- und Servicejobs höchste Priorität. Wenn es uns nicht gelingt, Leute aus dem Agrarsektor in Jobs mit geringen Qualifikationsprofilen zu bringen, haben wir langfristig keinen Erfolg.

Ist das Aufgabe des Staates?

Schulbildung, Gesundheitsversorgung und Ernährung sind staatliche Aufgaben. Die höhere Bildung aber sollte am besten dem privaten Sektor überlassen werden. Es muss Wettbewerb geben. Ein mitfühlender, menschlicher Kapitalismus ("Compassionate Capitalism") ist der beste Weg, die Armut in Gesellschaften abzuschaffen.

Was fordern Sie?

Laisser-faire kann den Kapitalismus zerstören. Die CEOs und Wirtschaftsführer müssen sich zurücknehmen – in ihren Ansprüchen, ihrem Gehalt, ihren Privilegien, ihrem Auftreten. Wir müssen Vorbild sein und ein einfaches Leben führen. Wir müssen den Kapitalismus attraktiv machen für die Armen.

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Bildunterschriften:

DIE CHEFIN TRÄGT ROT
Sindhu Gangadharan (M.) führt 8500 SAP-Entwickler in Bangalore

SOCKSTAR
Gerd Höfner, Managing Director bei Siemens Healthineers, liebt bunte Accessoires. Seine Mitarbeiter entwickeln die Medizintechnik der Zukunft.

EIN STERN FÜR INDIEN
Bei Manu Saale (o.), Chef von Mercedes-Benz R&D in Indien, sollen die Techies verstehen, wie ein Auto gebaut wird. Den Rest erledigen sie digital.

BARFUSS-KAPITALIST
N. R. Narayana Murthy ist heute Venture-Capitalist und lebt bescheiden