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Die unheimliche Maschine

von Ann-Kathrin Nezik
Die Zeit vom 18.06.2020

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Die unheimliche Maschine

Amazon ist dominanter denn je. Doch gegen die Marktmacht des Konzerns formiert sich Widerstand

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Im Herbst 2001 erreichte den Buchautor und früheren Stanford-Professor Jim Collins eine Einladung: ob er nicht Lust habe, nach Seattle zu kommen und den Führungskräften von Amazon seine Ideen zu präsentieren? Auch ein gewisser Jeffrey Preston Bezos, der Chef des Ladens, werde anwesend sein, er sei ein Fan des Professors.
Collins, 62, ist eine Koryphäe der Managementlehre. Sein Interesse gilt der Frage, warum manche Unternehmen zu Marktführern werden, während andere in der Mittelmäßigkeit verharren. Seine Erkenntnisse, basierend auf etlichen Fallstudien, verdichtete er zu einem Modell, das er der Ingenieurskunst entlehnte: Erfolgreiche Unternehmen, so Collins, fußten nicht auf einer genialen Idee, einem Moment des Durchbruchs. Sie funktionierten eher wie ein Schwungrad, das sich immer schneller dreht, bis es kaum mehr zu stoppen ist.
Die Amazon-Manager, denen er einen Tag lang seine Theorie erklärte, so berichtet Collins heute am Telefon, hätten diese regelrecht aufgesogen. Der Legende nach war es Bezos höchstselbst, der kurz darauf Amazons Schwungrad auf einer Serviette skizzierte: Zufriedene Kunden, die dem Konzern über alles gehen, locken mehr Menschen auf die Website. Das macht Amazon attraktiv als Marktplatz für fremde Händler, was zu einer noch größeren Auswahl an Artikeln führt, was die Kunden glücklich macht. Der perfekte Kreislauf.
Collins’ Modell hat Amazon nachhaltig geprägt. Bis heute verweisen Mitarbeiter auf das Schwungrad, wenn sie die Unternehmensphilosophie erklären wollen. Alles, was Amazon macht; alles, was den Konzern so revolutionär und manchmal verrückt erscheinen lässt, weil es erst einmal viele Millionen Dollar verbrennt – das Premiumkundenprogramm Prime, die Produktion eigener Serien, das Sprachassistenzsystem Alexa –, dient dazu, das Schwungrad anzutreiben, das heißt: die Kunden zufrieden zu machen und mehr Wachstum zu erzeugen.
Fast genau 25 Jahre nachdem Amazon aus einem Keller in Seattle sein erstes Buch verschickte, ist das Unternehmen heute viel mehr als ein Online-Händler. Bezos hat ein Online- und Offline-Imperium erschaffen, das Server an die halbe Wirtschaftswelt und den US-Geheimdienst vermietet, eine amerikanische Supermarktkette besitzt, Golden Globes für Serien gewinnt und seit Neuestem sogar Fernsehrechte für die Bundesliga besitzt.
Selbst unter den Tech-Konzernen der amerikanischen Westküste, unfassbar erfolgreichen, selbstbewussten und wirkmächtigen Unternehmen, ist Amazon eine Ausnahmeerscheinung. Mit der Eroberung immer neuer Geschäftsfelder und einem bislang nicht endenden Wachstum ist der Konzern dabei, den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts auf eine Weise zu prägen wie die Industriekonglomerate und die Autokonzerne in vorherigen Jahrhunderten.
Alles an Amazon ist rekordverdächtig: Innerhalb von nur drei Jahren hat der Konzern seinen Umsatz mehr als verdoppelt, auf 280 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr – fünfmal so viel wie Edeka, Deutschlands größtes Handelsunternehmen. Wer im Mai 1997, als Amazon in New York an die Börse ging, für etwa 600 Dollar Aktien des Unternehmens gekauft hat, ist heute Dollar-Millionär. Jeff Bezos, 56, ist nicht nur das, er ist der reichste Mensch des Planeten. Trotz 38 Milliarden Dollar teurer Scheidung.
Die Erfahrung zeige, dass Krisen die Lücke zwischen Gewinnern und Verlierern, zwischen erfolgreichen und mittelmäßigen Unternehmen nicht nur vergrößerten, sondern aus ihr einen dauerhaften Graben machten, sagt Jim Collins, der Managementforscher, der den Amazon-Managern einst das Prinzip des Schwungrads beibrachte. Und die wohl größte Krise seit Jahrzehnten ist Corona.
Nachrichten aus den vergangenen Wochen: Während überall Läden schließen mussten, kam Amazon mit der Bewältigung der Bestellungen kaum hinterher. Während Einzelhändler ihre Mitarbeiter entließen oder in Kurzarbeit schickten, stellte Amazon weltweit 175.000 neue Leute ein. Während Warenhäuser wie Galeria Karstadt Kaufhof zu Sanierungsfällen wurden, stieg der Kurs der Amazon-Aktie seit Mitte März um fast 1000 Dollar auf 2647 Dollar, ein neues Allzeithoch. Insgesamt ist der Konzern an der Börse aktuell knapp 1,3 Billionen Dollar wert.
Ende März schrieb Jeff Bezos in einem Brief an die Belegschaft dennoch: »Das ist kein business as usual, und es ist eine Zeit großer Belastung und Unsicherheit.« Es waren ungewohnt leise Töne für einen Mann, der davon träumt, Menschen in Kolonien ins Weltall zu schicken.
Amazons Deutschlandchef Ralf Kleber sagt: »Corona hat Amazon mit voller Wucht getroffen. Es war eine völlig neue Situation, für die es keine Blaupause gab und die wir uns alle gerne erspart hätten.« Innerhalb kürzester Zeit habe sein Unternehmen alle Prozesse infrage gestellt. Normalerweise umfasst Amazons Sortiment mehrere Hundert Millionen Artikel. Von heute auf morgen habe man entschieden, sich auf wenige Hunderttausend Teile zu konzentrieren. Nur so habe Amazon die hohe Nachfrage nach Babynahrung oder Pflegeprodukten bedienen und sichere Arbeitsbedingungen in den Logistikzentren gewährleisten können. Corona, so stellt es Kleber dar, habe Amazons Schwungrad abrupt gebremst. Den Eindruck, von dem Virus und seinen Folgen zu profitieren, will er unbedingt vermeiden.
Demütig zu wirken, die eigene Bedeutung herunterzuspielen, das ist für Amazon in diesen Tagen Strategie. Denn die Corona-Krise hat Amazon auch so viel Gegenwind wie nie zuvor beschert. Gewerkschafter werfen dem Unternehmen vor, die Gesundheit seiner Mitarbeiter zu gefährden, die getroffenen Maßnahmen halten sie für unzureichend. In Frankreich verurteilte ein Gericht Amazon dazu, seine Logistikzentren deshalb vorübergehend zu schließen.
Dann sind da noch all jene, die Amazons Macht grundsätzlich beanstanden. Margrethe Vestager zum Beispiel, die Vizepräsidentin der EU-Kommission. Vestager verhängte Milliardenstrafen wegen Wettbewerbsverstößen gegen Google und erzwang von Apple eine Steuernachzahlung. Jetzt ermittelt sie gegen Amazon. Die Untersuchung sei »ziemlich weit fortgeschritten«, sagt sie [Medium]. »Ich gönne Amazon seinen Erfolg. Aber je größer ein Unternehmen wird, desto mehr Verantwortung trägt es.« Ein Schäferhund müsse sich anders benehmen als ein Zwergspitz. »In der digitalen Wirtschaft kämpfen Unternehmen nicht nur um Marktanteile, sondern darum, einen Markt zu beherrschen«, sagt sie. »Das heißt, sie bestimmen dort auch die Regeln.« Ob Amazon sich dabei fair verhält, das prüft sie nun.
Neu im Club der Kritiker ist Shel Kaphan, der sich im Februar in einer Dokumentation des amerikanischen Senders PBS recht unmissverständlich für eine Zerschlagung Amazons aussprach. Kaphan, das muss man wissen, ist nicht irgendein Aktivist. Er ist Amazons erster Mitarbeiter. Der Mann, der 1995 für Bezos die Website programmierte, bevor er sich später herausgedrängt fühlte. Dieser Shel Kaphan also verglich Amazon im US-Fernsehen mit einem »anti-sozialen Erwachsenen«, was er, einer der Väter des Kindes, so nicht gewollt habe. Klar reize Amazon bloß die Prinzipien des Kapitalismus aus, sagte Kaphan. Dennoch sei er besorgt, »weil es mir etwas bedeutet, wie die Welt aussieht, in der wir leben«.
Wann besitzt ein Konzern so viel Macht, dass der Staat eingreifen muss? Wenn er seine Position gegenüber Mitarbeitern, Geschäftspartnern und Konkurrenten ausnutzt? Oder reicht es schon, das perfekte Schwungrad zu konstruieren? Cleverer zu sein als die anderen? Mutiger, innovativer?
In Winsen südlich von Hamburg steht eine 6,4 Hektar große Halle, eines der modernsten Logistikzentren, die Amazon in Deutschland betreibt. Kein Warenlager, sondern eine Packfabrik. Als Journalistin kann man HAM2, wie der Gebäudekomplex im Amazon-Jargon heißt, in Begleitung eines Pressesprechers besuchen. Amazon habe nichts zu verbergen, lautet die Botschaft. Auch jetzt nicht, wo sich das Unternehmen Kritik an seinem Hygienekonzept gefallen lassen muss. Von 68 Corona-Fällen im Winsener Werk bis Ende April spricht ver.di. Wobei unklar ist, ob sich die Erkrankten bei der Arbeit oder in einer nahe gelegenen Flüchtlingsunterkunft angesteckt haben, in der viele Beschäftigte wohnen. Amazon will die Zahlen weder bestätigen noch dementieren.
Im Inneren der Halle ist es laut und heiß. Über den Köpfen der Arbeiter winden sich Förderbänder, die donnernd Pakete und Kisten transportieren. Wenn es sein muss, braucht Amazon nach eigenen Angaben gerade einmal 90 Minuten, um ein Paket in Winsen abzufertigen. In der Branche sind dafür sonst mehrere Stunden üblich.
Das Tempo verdankt der Konzern einer Armee orangefarbener Roboter, die in einem eingezäunten Areal über den Boden surren. Niedlich sehen sie aus, wie selbstfahrende Staubsauger. Sie führen eine eigentümliche Choreografie auf, fahren unsichtbare Linien entlang, ohne sich ein einziges Mal zu berühren. Viele sind mit gelben, 1,80 Meter hohen Regalen beladen, die sie an den Rand des Roboterfelds schieben. Während in den meisten Logistikzentren Menschen zu den Warenregalen laufen, viele Kilometer pro Schicht, ist es in Winsen umgekehrt. Die Roboter bringen die Regale zu den Menschen. 775 Millionen Dollar hat es sich Amazon 2012 kosten lassen, den Hersteller der orangefarbenen Roboter zu übernehmen. Das System spart nicht nur Zeit, es nutzt auch die Fläche der Logistikzentren effizienter aus.
An einem Dienstag Mitte Mai steht eine junge Frau mit braunem Pferdeschwanz am Rand des Roboterfelds. Sie ist eine »Pickerin«, ihre Aufgabe ist es, Artikel aus den Fächern der gelben Regale zu ziehen. Wie alle Mitarbeiter trägt sie einen Mund-Nasen-Schutz. Um sie herum sind aus Sicherheitsgründen etliche Arbeitsplätze frei. 11,71 Euro aufwärts pro Stunde bekommen Beschäftigte in Amazons Logistikzentren. Es gibt Jobs, die sind in Deutschland schlechter bezahlt. Aber der Lohn ist auch nicht unbedingt das größte Problem.
Ein Algorithmus gibt der jungen Frau jeden Arbeitsschritt vor: welchen Artikel sie aus dem Regal holen muss, wo er sich befindet. Sie mache mit ihren Kollegen manchmal Witze darüber, dass sie selbst wie Roboter seien, sagt sie. Es ist eine Hierarchie, die überall in Winsen zu beobachten ist: Die Maschine gibt vor, der Mensch folgt ihren Anweisungen.
Relentless.com wollte Jeff Bezos sein Unternehmen ursprünglich nennen. Noch immer besitzt er die Internetdomain, sie führt auf die Seite von Amazon. Relentless heißt auf Deutsch »gnadenlos«. Es lasse sich aber auch mit »ruhelos« oder »unermüdlich« übersetzen, sagt Ralf Kleber, der Deutschlandchef.
Ist Amazon gnadenlos, weil es den Mitarbeitern in der Logistik das Denken abnimmt? Oder effizient, weil Algorithmen die komplexen Prozesse nun einmal viel besser durchdringen als Menschen?
Kleber ist seit 21 Jahren bei Amazon. Er fing an, als die Aktie bei um die 80 Dollar lag. Und er erlebte, wie Amazon durch eine ARD-Reportage in die Kritik geriet. Dort war zu sehen, wie spanische Leiharbeiter in beengten Unterkünften von einem Sicherheitsdienst bewacht wurden. Nun sagt Kleber, während er in die Kamera seines Laptops spricht, dass Amazon als Arbeitgeber dazugelernt habe. Wie wichtig es dem Unternehmen sei, zuzuhören. Nebenbei streut Kleber Zahlen ein: 20.000 Stellen habe Amazon in Deutschland geschaffen, 20 Milliarden Euro investiert. Kleber beherrscht die Rolle des Amazon-Außenministers perfekt: Scheinbar empfänglich für Kritik, behält er die Interessen seines Unternehmens fest im Blick.
Die großen Tech-Konzerne haben sich hochtrabende Leitsätze zugelegt. Google will nichts Böses tun, Facebook die Menschen vernetzen. Amazons Mission ist dagegen weniger mit Bedeutung aufgeladen. Sie lautet schlicht, »das kundenorientierteste Unternehmen der Erde zu sein«.
Wie das konkret aussieht, erklärt Kleber an einem Beispiel. Anfangs habe Amazon den Kunden bei der Bestellung angezeigt, dass ein Artikel in den nächsten 24 Stunden verschickt werde. Irgendwann habe man aber festgestellt, dass den Kunden diese Information egal sei. Es interessiere sie nur, wann der Artikel bei ihnen ankomme. Was klingt wie eine Kleinigkeit, ist eine hochkomplexe Veränderung. Um schon im Moment der Bestellung zu prognostizieren, wann das Amazon-Paket voraussichtlich beim Kunden sein wird, müssen die Algorithmen innerhalb von Sekunden wissen, in welchem der 13 deutschen Logistikzentren sich die Ware befindet, wie sie am effizientesten von dort zu den Kunden gelangt und wie viele Lkw für den Transport zur Verfügung stehen.
Als Erinnerung an die customer obsession, die »Kundenbesessenheit«, liegen in Amazons Deutschlandzentrale in München Kissen mit dem Aufdruck »Kunde« herum. In Meetings wird manchmal ein Stuhl für einen imaginären Kunden frei gelassen.
Jeff Bezos hat die Unternehmenskultur nach seinen Vorstellungen geformt. Auch die Sache mit den Pressemitteilungen geht auf ihn zurück. Amazon-Manager, die eine Idee haben, bauen keine Power-Point-Präsentation. Sie schreiben eine fiktive Pressemitteilung, die zu Beginn eines Meetings herumgereicht wird. Gleich habe er wieder so ein Treffen, erzählt Kleber, bei dem erst mal alle still zwei, drei Pressemitteilungen lesen. »Wenn die Idee gut ist, geben wir sie in die Hände eines kleinen Teams, das dann nichts anderes tut, als sie zu perfektionieren«, sagt Kleber.
Die DNA des Unternehmens bilden eine Reihe von Glaubenssätzen, die etwa in Winsen in großen Buchstaben an den Wänden stehen. Jeder Amazon-Mitarbeiter kann sie herunterbeten: Freue dich nicht über Erfolge, sondern überlege, was du in Zukunft noch besser machen kannst. Sei sparsam. Denke langfristig, nicht an das nächste Quartalsergebnis.
Letzteres hat Bezos auch seinen Investoren eingeimpft. Auf eine Dividende müssen diese seit 23 Jahren verzichten. Über Jahre nahm Amazon Milliardenverluste in Kauf, um das fortwährende Wachstum zu finanzieren. Aus Sicht von Bezos ist das kein Fehler im System, es ist so gewollt. Jedes Frühjahr schickt er den Investoren seinen Aktionärsbrief von 1997, als Mahnung, worum es eigentlich gehe. Der wichtigste Gradmesser für Amazons Erfolg sei »der Wert, den wir langfristig für unsere Shareholder schaffen«, schreibt Bezos darin. Das Ziel ist es, nicht einfach nur die Marktführerschaft zu erobern, sondern die Konkurrenz zu distanzieren. »Amazon ist erst zufrieden, wenn jeder Mensch auf der Welt dort einkauft«, sagt der Düsseldorfer Wettbewerbsökonom Justus Haucap.
Wer die Gewinner dieser Amazon-Doktrin sind, ist gar nicht so leicht zu sagen: Bezos und seine Aktionäre? Oder auch andere, wie die zigtausend Marktplatzhändler, die das Schwungrad am Laufen halten?
Das Reich von Dirk Carolus liegt in Leverkusen-Küppersteg. Dort betreibt der Unternehmer zusammen mit seiner Frau ein Geschäft für Partydekoration. Vorne, im Verkaufsbereich, hängen Girlanden und Luftballons. Carolus, 57, verbringt seine Tage meist hinten im Lager, wo er wie ein Raumschiffkapitän vor drei Computerbildschirmen sitzt.
Carolus war mal Polizist. Vor einigen Jahren bekam er Krebs. Aus Langeweile habe er danach begonnen, die Artikel aus dem Laden seiner Frau auf Amazons Marktplatz anzubieten, erzählt er, 2014 war das. Bis dahin kamen die Kunden aus Leverkusen und Umgebung. Jetzt belieferte Carolus plötzlich halb Europa mit Konfetti und Partyhütchen. Dafür zahlte er Amazon eine Provision von rund 21 Prozent. Carolus, der sich bis dahin überhaupt nicht mit Computern auskannte, wurde zum Profi. Seine Umsätze stiegen und stiegen, zuletzt auf 450.000 Euro im Jahr.
Doch irgendwann fielen Carolus Dinge auf, die ihm das Geschäft erschwerten. Wenn Kunden sich darüber beklagten, dass Luftballons nicht schon aufgeblasen bei ihnen ankamen, überwies ihnen Amazon das Geld zurück und buchte den Betrag bei Carolus ab. Daneben kann Amazon quasi in seine Bücher schauen, denn es hat Zugriff auf etliche Daten: welche seiner Artikel sich wie verkaufen, wie er diese bewirbt. Carolus’ Verhältnis zu Amazon ähnelt inzwischen eher einer tragischen Liebesgeschichte. Er kann nicht mit Amazon, aber auch nicht ohne.
Kürzlich bestellte Carolus zum Ramadan zwei Dutzend Tischaufsteller in Halbmond-Form. Nachdem er sie in seinen Amazon-Shop eingestellt hatte, erschien die Information, dass der »Artikel derzeit nicht auf Lager« sei. Nur versteckt fand sich ein Hinweis auf Carolus’ Produkt. Er wunderte sich. Er hatte die Ware ja vorrätig, er konnte sie jederzeit liefern. »Vielleicht hatte Amazon die Tischaufsteller selbst geordert, aber sie noch nicht bekommen«, glaubt Carolus. Amazon verkauft häufig identische Artikel wie die Marktplatzhändler, und Carolus vermutet, dass Amazon sich in diesem Fall bevorteilte. Er sagt: »Das nenne ich Wettbewerbsverzerrung.«
Amazon teilt auf Anfrage mit, dass es sich ohne nähere Informationen nicht zu dem Vorfall äußern könne. Bei Beschwerden von Kunden hätten Händler die Möglichkeit zum Widerspruch. Zur Datenfrage sagt ein Sprecher: »Wir verwenden die Daten einzelner Verkaufspartner nicht, um über unsere Retail-Angebote mit einem Verkaufspartner zu konkurrieren. Amazon verwendet Daten von einzelnen Verkaufspartnern nur, um diese zu unterstützen oder um das Einkaufserlebnis unserer Kunden zu verbessern oder zu schützen.«
Lange störte sich niemand so recht daran, dass Amazon für die Händler Partner und Wettbewerber in einem ist. Dann nahmen sich Margrethe Vestager und das Bundeskartellamt der Sache an. Die deutsche Wettbewerbsbehörde zwang Amazon »nach zahlreichen Beschwerden« im Juli 2019, seine Geschäftsbedingungen zugunsten der Händler zu ändern.
Dass sich auch US-Politiker nun mehr für Amazon interessieren, ist auch das Verdienst von Stacy Mitchell. 2016 veröffentlichte die Historikerin und Aktivistin einen 79-seitigen Bericht, in dem sie Amazons Geschäftsmethoden Kapitel für Kapitel sezierte, die Arbeitsbedingungen in den Logistikzentren, die Steuervermeidung, das aggressive Verhalten gegenüber den Buchverlagen. Nüchtern trug Mitchell Fakten wie diese zusammen: Weniger als ein Prozent der Prime-Mitglieder informieren sich über Angebote der Konkurrenz, wenn sie auf Amazon shoppen.
Mitchells Bericht weckte das Interesse des Justizausschusses im US-Kongress, der eine Untersuchung über die Marktmacht der großen Tech-Konzerne plante. Mitchell half einigen Abgeordneten mit Informationen und stellte Kontakte zu Ladenbesitzern her, die den Politikern ihre Geschichten erzählten. Im vergangenen Juli trat Mitchell bei einer Anhörung als Expertin auf.
Mitchell vergleicht Jeff Bezos mit dem Ölmagnaten John D. Rockefeller. Dieser etablierte vor über 100 Jahren in den USA ein lukratives, aber unlauteres Geschäft. Er handelte mit den Eisenbahnen so große Rabatte für den Transport seines Öls aus, dass er seine Wettbewerber de facto ausschaltete. »Ein Konzern, der eine zentrale Infrastruktur betreibt, darf nicht mit Unternehmen konkurrieren, die auf diese Infrastruktur angewiesen sind«, sagt Mitchell.
Sie hofft, dass der US-Kongress mit Amazon ähnlich verfährt wie der amerikanische Staat einst mit Rockefellers Ölimperium. 1911 ordnete das US-Verfassungsgericht dessen Zerschlagung an, wegen seiner Monopolstellung und seiner Verflechtungen.
Eine Aufspaltung Amazons ist derzeit allerdings eher unwahrscheinlich. Dafür herrscht in Washington zu viel Parteiengezänk. Und selbst weniger radikale Schritte ließen sich schwer umsetzen, das räumt sogar Margrethe Vestager ein. Digitalkonzerne wie Amazon hätten es geschafft, den Wettbewerb zu bremsen. Dies umzukehren sei »sehr schwierig«. Sie suche noch nach den richtigen Werkzeugen.
Bis sich etwas ändert, ist eine andere Frage wichtiger, nämlich die, was dieser Jeff Bezos noch alles will. Der Amazon-Gründer besitzt in Texas eine Ranch, auf deren Land gerade ein Projekt entsteht, das klingt wie der Spleen eines Science-Fiction-Geeks, aber in Wahrheit eine Ansage ist. Arbeiter haben dort ein Loch ins Bergmassiv gebohrt und darin eine komplizierte mechanische Apparatur montiert – eine Uhr, die 10.000 Jahre lang sekundengenau die Zeit anzeigen soll. »The Clock of the Long Now« heißt der 42 Millionen Dollar teure Bau. Die Uhr sei »eine Ikone des langfristigen Denkens«, schreibt Bezos auf einer dazugehörigen Website. Der Mann kennt also tatsächlich kein Ende.
Bezos ist längst mehr als ein Allesverkäufer. Mehr als 60 Prozent seiner Bruttogewinne erzielt sein Unternehmen mit dem Vermieten von Servern an fremde Firmen. Amazon Web Services (AWS) begann als internes Projekt für Amazons Entwickler. Mit der Zeit erwuchs daraus ein zweites Schwungrad, das autonom funktioniert. Netflix und Zalando lassen Teile ihrer IT über Amazons Server laufen. Beide wären wohl nicht so groß, wie sie es heute sind, ohne die Rechenkapazitäten von AWS, was interessant ist, weil sie beim Streaming und im E-Commerce auch Konkurrenten Amazons sind.
Dazu beschränkt sich Bezos in seinem Kerngeschäft, dem Online-Handel, nicht mehr allein auf den Verkauf. Sein Konzern kontrolliert die Wertschöpfungskette der Waren von Anfang bis Ende. Seit einiger Zeit verkauft Amazon eigene Produkte, von Batterien bis hin zu Küchengeräten. Zugleich legen Amazon-Leute die »letzte Meile«, wie die Paketzustellung in der Logistikbranche heißt, inzwischen häufig selbst zurück. Das liegt unter anderem an einem Trauma, das der Konzern kurz vor Weihnachten 2013 erlebte. Damals waren die Paketdienstleister in den USA mit der Menge der Bestellungen so überfordert, dass etliche Kunden ihre Weihnachtsgeschenke nicht rechtzeitig bekamen. Um das nicht noch einmal zu erleben, beschloss Amazon, den Job künftig auch noch zu erledigen. Erst in Amerika, dann in Übersee baute Amazon eine eigene Flotte aus Firmen und Selbstständigen auf, die im Auftrag des Unternehmens Pakete ausliefern.
Laut einer Schätzung der Investmentbank Morgan Stanley stellte Amazon im vergangenen Jahr fast jedes zweite seiner Pakete in den USA selbst zu, 2,5 Milliarden Stück. In zwei Jahren, so die Studie, könnte Amazon FedEx und UPS als größter Paketdienstleister der USA ablösen. Auch in Deutschland ist der Marktführer DHL so in Bedrängnis geraten. In Graben bei Augsburg ist die Zukunft eines DHL-Verteilzentrums ungewiss, es gibt dort zu wenig zu tun. Nebenan steht ein Logistikzentrum von Amazon.
Ein Vierteljahrhundert nach seiner Gründung hat sich Amazon unersetzlich gemacht. Für seine Geschäftspartner, für die Marktplatzhändler, aber auch für seine Kunden. 61-mal bestellten Mitglieder des Premiumprogramms Prime 2017 durchschnittlich bei Amazon, besagt eine Studie des IFH Köln. Für eine Jahresgebühr von 69 Euro bekommen die Prime-Kunden Artikel versandkostenfrei zugestellt und erhalten Zugang zum Streaming-Angebot. Für diese wachsende Zahl von Amazon-Ultras ist die Plattform ein Teil der Grundversorgung, ähnlich wie Wasser und Strom.
Das Problem ist, dass ein Stromanbieter von seinen Kunden zwar geschätzt, aber nicht unbedingt geliebt wird. Das gilt auch für Amazon, das sich nie darum bemüht hat, sympathisch zu wirken. In Seattle, dem Hauptsitz von Amazon, hat sich die Zahl der Obdachlosen vervielfacht, auch wegen der Zehntausenden gut bezahlten Amazon-Mitarbeiter, die sich hohe Mieten leisten können. Der Stadtrat wollte deshalb 2018 von Großunternehmen eine Steuer von 275 Dollar pro Mitarbeiter erheben, um Obdachlosenunterkünfte und Sozialwohnungen zu finanzieren. Amazon stoppte daraufhin den Bau eines neuen Büroturms. Die Steuer hätte das Unternehmen jährlich einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag gekostet. Am Ende zog der Stadtrat sie zurück.
Auch jetzt, während der Corona-Pandemie, kümmert sich Amazon wenig um das Bild, das es nach außen abgibt. Mitte April verloren die Produktdesignerinnen Emily Cunningham und Maren Costa ihre Jobs bei Amazon. Nach eigener Aussage, weil sie eine interne Petition zu den schlechten Hygienebedingungen in den Logistikzentren verbreitet und eine Diskussionsveranstaltung organisiert hatten. Laut Amazon haben sie »wiederholt gegen interne Richtlinien« verstoßen. Welche das sind, sagt das Unternehmen nicht.
Es ist aber auch nicht so, dass es Bezos egal wäre, was die Welt von ihm und Amazon denkt. Vor einigen Jahren verfasste er für seinen engsten Führungszirkel ein Memo mit der Überschrift »Amazon.love«, so schreibt es der amerikanische Journalist Brad Stone in seinem Buch The Everything Store. Warum, fragte Bezos darin, würden manche Unternehmen von ihren Kunden geliebt, während andere bloß gefürchtet würden? Was unterscheide Apple und Disney von Microsoft und Goldman Sachs? Seine Antwort formulierte Bezos in Form einer Liste:
»Den kleinen Mann zu besiegen ist uncool.«
»Risikobereitschaft ist cool.«
»Entdecker sind cool.«
»Eroberer sind uncool.«
»Missionare sind cool.«
»Söldner sind uncool.«
Seine Manager wies Bezos an, einen Weg zu finden, damit Amazon geliebt wird.

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Einschub:

Ein Vierteljahrhundert nach seiner Gründung hat sich Amazon unersetzlich gemacht