Der Knochenbrecher
von Angelika Slavik und Max Hägler
Süddeutsche Zeitung vom 05.11.2019
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Der Knochenbrecher
VW-Chef Herbert Diess ist laut, gnadenlos und erfolgreich. Dafür wird er bewundert und gefürchtet. Jetzt setzt er voll auf E-Mobilität. Eine Wette, die auch schiefgehen könnte
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Herbert Diess ist seiner Zeit voraus, mal wieder. Den ganzen Vormittag schon hatte er beste Laune, schob Leute fürs Foto zusammen, strahlte Mitarbeiter an, hörte zu, nickte, manchmal legte er einem Gesprächspartner die Hand auf den Unterarm. Und jetzt will er vom Wandel erzählen. Und zwar der Bundeskanzlerin, die in der ersten Reihe sitzt, und natürlich auch allen anderen.
Dies ist ein großer Tag. Es ist der Tag, an dem kumuliert, was er sich ausgedacht hat. Diess, hager, zäh, läuft vor zum Pult. Aber dann merkt er, dass er zu früh ist. Auf der Leinwand, die sie hier in Halle 26 des VW-Werks Zwickau aufgebaut haben, läuft jetzt erst ein Imagefilm, so hat das die Regie vorgesehen. Also läuft er, hager und zäh, zurück und setzt sich wieder auf seinen Platz. Man merkt, warten liegt ihm nicht besonders.
Auf der Leinwand ziehen jetzt erst mal Roboter, Windräder, Sonnenkollektoren und Fabrikbänder vorbei, und dann das Wort: „High Tech Factory“. Jetzt ist er endlich dran, er läuft vor zum Pult und sagt: „Meine Damen und Herren, herzlich willkommen in Zwickau, wo die Zukunft von Volkswagen beginnt.“
Tatsächlich startet hier an diesem Montag die Produktion des sogenannten ID.3. Volkswagen hat so etwas wie einen Golf konstruiert, er sieht aus wie ein Golf, kostet ungefähr so viel wie ein Golf, aber es ist ein Elektroauto. Alles ist neu, nur für diesen Antrieb konzipiert, kein umgebastelter Verbrenner wie bei vielen anderen Herstellern. Die Entwicklung war teuer, mehr als eine Milliarde Euro hat VW in dieses Auto gesteckt. Von heute an geht es in die Massenfertigung. Die Fabrik in Zwickau ist die erste echte E-Auto-Fabrik von VW, es ist die größte in Europa. Bald sollen hier jedes Jahr bis zu 330 000 Autos vom Band rollen.
Für VW ist das ein großer Schritt. Für Sachsen auch. Angela Merkel fragt, ob der Wagen, der ihr da auf die Bühne geschoben wurde, wirklich der allererste sei, denn daran habe sie ja ihre Zweifel, sagt die Kanzlerin. Draußen auf den Zügen seien ja doch auch einige andere verladen. Aber: „Ich freue mich, auch ganz persönlich, als jemand, der aus der ehemaligen DDR kommt, dass Zwickau das Flaggschiff dieses Wandels in der Automobilität ist.“
In Wahrheit ist Zwickau vor allem der Schauplatz einer verdammt gewagten Wette. Was, wenn sie nicht aufgeht?
Herbert Diess, 61, ist seit eineinhalb Jahren Vorstandschef von Volkswagen, Deutschlands größtem Autokonzern. Seitdem treibt er sein Unternehmen zur E-Mobilität, in einem Tempo, in dem das bei anderen Autoherstellern unvorstellbar wäre. Es ist sogar für viele bei Volkswagen unvorstellbar, was Diess da macht: Alles auf eine Karte setzen, alles auf Strom.
Sobald sich die Elektroautos durchsetzen, soll Volkswagen ganz vorne dabei sein, das ist seine Vision. VW, der Konzern, der für den Abgas-Skandal verantwortlich ist, für den vielleicht größten Industriebetrug der Nachkriegsgeschichte, wird zum Vorreiter moderner, sauberer Mobilität. Und er, Herbert Diess, wäre der Mann, der wortwörtlich den Karren aus dem Dreck gezogen hätte. Aus der Sicht eines Automanagers ist das eine Superheldengeschichte.
Die Idee gefällt nicht nur ihm. Noch vor drei Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass die Kanzlerin freiwillig die Nähe von Volkswagen sucht. Damals war VW für viele der Betrügerkonzern, eher peinlich. Als Merkel 2016 die Hannover-Messe besuchte und dem damaligen US-Präsidenten Obama die Leistungen deutscher Unternehmen präsentierte, wurde Volkswagen nicht nur ignoriert. Die gesamte Halle 15, in der VW seinen Stand hatte, wurde großräumig gemieden. Dafür besuchten Merkel und Obama das Familienunternehmen Harting aus Espelkamp.
Jetzt hat Herbert Diess diese Vision: VW als Vorbildkonzern. Das Problem ist nur, dass die Sache mit der Elektromobilität keineswegs schon durch ist, auch wenn Diess das so sagt. Die Begeisterung der Verbraucher für E-Autos ist relativ überschaubar, was auch daran liegt, dass sie teuer sind. Und von der „Ladeinfrastruktur“ ist zwar oft die Rede, aber zu sehen ist von ihr nur sehr wenig. Elektromobilität ist in Deutschland bis jetzt vor allem eine sehr schöne Vorstellung. Die meisten wollen lieber vier, sechs oder acht Zylinder haben.
Und Herbert Diess hat nicht nur seine eigene Karriere davon abhängig gemacht, dass aus dieser Vorstellung schnellstmöglich Realität wird. Der Umbau ist so radikal, dass das Schicksal des ganzen Konzerns daran hängt: Daran, dass er sich nicht irrt.
Wie muss man gestrickt sein, um das zu riskieren?
Es ist nicht so, dass alle den Umbau gut finden. Als Diess an Spitze rückte nach dem Dieselskandal, übernahm er einen Konzern, der sich nichts sehnlicher wünschte als Ruhe und Normalität. Er begriff die Verunsicherung in Wolfsburg als Chance: Wenn ohnehin schon alles wankt, könne man es ja gleich niederreißen und neu aufbauen, besser. Niederreißen liegt ihm mehr als warten.
Eine kleine Kammer in der Konzernzentrale in Wolfsburg, das Büro des Betriebsratschefs Bernd Osterloh. Herbert Diess ist auch da. Sie trinken zusammen Kaffee.
Man muss wissen, dass dieser Kaffee ausschließlich deshalb getrunken wird, weil Osterloh und Diess beweisen wollen, dass sie sich durchaus gut verstehen, anders als die Journalisten immer behaupten. „Wir verstehen uns wunderbar“, sagt Diess. „Klar verstehen wir uns wunderbar“, sagt Osterloh. Und lacht.
Dem Kaffekränzchen in Osterlohs Kammer ist ein hektischer Austausch zwischen dem Büro Diess und dem Büro Osterloh vorangegangen, der sich über fast zwei Wochen zog. Es wurde hart gerungen, etwa um die Frage, wer zu wem kommen muss. Büro Osterloh hat gewonnen. Jetzt sind drei Pressesprecher dabei, um die Lage zu überwachen, einer von Osterloh und zwei von Diess. Man weiß ja nie.
Osterloh, groß, breit, den hochroten Kopf kahlrasiert, gilt als heimlicher König von Wolfsburg. Am Gang vor seinem Büro hängen Fotos, auf denen er zu sehen ist. Drinnen hängen Wahlplakate, auf denen er zu sehen ist. Darunter steht: „Damit Volkswagen Volkswagen bleibt“.
Die Mitarbeiter haben bei VW traditionell umfassende Mitspracherechte, deshalb braucht jeder, der bei VW irgendwas umsetzen will, den Betriebsrat auf seiner Seite. Oder zumindest: nicht gegen sich. „Das habe ich erst lernen müssen“, sagt Diess. „Wolfsburg ist eben Wolfsburg.“
Natürlich hat Diess trotzdem versucht, dieses Wolfsburger Gesetz auszuhebeln. Er verkündete zum Beispiel Pläne, wie man die Rentabilität im Konzern steigern könnte. Stellenabbau inklusive. Osterloh warf ihm daraufhin öffentlich „Missmanagement“ vor, rechnete aus, wo der Konzern unnötig Geld verloren hatte, forderte polternd „personelle Konsequenzen“. Es fielen Kraftausdrücke, auch ein „Hintern“ spielte dabei eine Rolle. Diess wiederum lancierte die Geschichte von den verkrusteten Strukturen in Wolfsburg, die dringend aufgebrochen werden müssten. Eine Kanne Kaffee etwa würde intern mit 62 Euro abgerechnet, das sei ja wohl nicht normal. Streng genommen wird die Kanne mit zwölf Euro abgerechnet, aber dazu kommen 50 Euro Lieferpauschale, egal ob man eine oder 20 Kannen liefern lässt.
Es war ein monatelanges Theater, das beiden auch zu gefallen schien. Der eine zelebriert sich als Beschützer, der andere als Antreiber. Dafür nehmen beide in Kauf, dass das natürlich auch immer ein bisschen peinlich ist für den größten Autohersteller der Welt: alle paar Monate ein öffentlicher Hahnenkampf.
Es ist ja nicht so, dass Herbert Diess nicht auch diplomatisch sein kann. Er kann schmeicheln und charmant sein. Er hat nur meistens keine Lust drauf. „Manchmal muss man auch provozieren“, sagt Diess. Viele Dinge seien ja viel leichter durchzusetzen, wenn es auch ein bisschen Reibung gebe. Deshalb legt er sich mit allen an. Weil er es für den schnellsten Weg zum Erfolg hält. Was er nicht sagt, dass ihm die Reibung auch Spaß macht. Dass er es liebt, wenn sich alle aufregen.
Herbert Diess ist einer, für den Harmonie und Lethargie das Gleiche sind. Er ist einer, der nicht nur bei der Antriebstechnologie voll auf Spannung setzt.
Das gilt auch im Umgang mit denen, die vermeintlich ähnliche Interessen haben wie er – die Chefs der anderen großen Autokonzerne. Im Frühjahr zum Beispiel legte VW ein Denkpapier zur Förderung von E-Mobilität vor, das vor allem kleine Wagen im Blick hatte und nicht die großen deutschen Premiumlimousinen. Außerdem erklärte er, man müsse sich endlich auf E-Autos konzentrieren, das ganze Gerede über Hybrid und Wasserstoff sei „von gestern“. Der Branchenverband VDA war düpiert, BMW und Daimler stinksauer.
Kein anderer Automanager, ob aktuell oder aus der jüngeren Vergangenheit, ist so forsch aufgetreten wie er. Nicht Ola Källenius und Dieter Zetsche von Daimler, nicht die BMW-Chefs Harald Krüger oder Oliver Zipse. Keiner von denen ist so ein leidenschaftlicher Spieler wie Diess. In einer hektisch einberufenen abendlichen Telefonkonferenz versuchte Diess, die Wogen ein wenig zu glätten, sagen Teilnehmer: Das sei ja nur ein Vorschlag gewesen. Um etwas in Gang zu bringen.
Mit seinem Hang zur Provokation hat Diess auch seinen eigenen Aufsichtsrat düpiert, mehrmals. „Das ist ein Manager, der antreibt, wie ich es noch nie gesehen habe“, sagt einer der Aufsichtsräte. Da sei es schon gut, dass es „Checks und Balances“ gebe bei VW, dass Diess da also nicht unbehelligt walten könne, weil er sich ja noch rechtfertigen müsse. Bei den Arbeitnehmern, beim Aufsichtsrat und beim Land Niedersachsen, das an VW beteiligt ist.
Aber von seiner Vision von der E-Mobilität konnte ihn trotzdem keiner abhalten. Vielleicht, weil er sein Umfeld wahnsinnig macht, aber vor allem, weil es neben der Möglichkeit des katastrophalen Scheiterns auch die Option gibt, dass sich die E-Mobilität wirklich durchsetzt. Dass VW wirklich diese radikale Transformation braucht, die Diess dem Konzern verordnet hat. Dann wären sie am Ende natürlich die strahlenden Helden in Wolfsburg.
Aber nicht alles, was er riskiert, geht auch immer gut. Zum Beispiel die Sache mit der Öffentlichkeit. Anders als seine Vorgänger genießt Herbert Diess das öffentliche Interesse. Anders als die meisten Top-Manager macht er sich keine Sorgen, er könnte sich live ungeschickt verhalten. Tut er aber. In der Talkshow von Markus Lanz etwa sagte er über den Abgas-Skandal: „Das, was wir gemacht haben, war Betrug, ja.“ Das bescherte seinen Konzernjuristen ein paar schlechte Tage, immerhin versucht Volkswagen eigentlich, seine Schuld moralisch und juristisch kleinzureden – schon wegen der ganzen drohenden Prozesse.
Bei der Frankfurter Automesse IAA traf er sich mit der Umweltaktivistin Tina Velo zum Streitgespräch. Er schien durchaus optimistisch zu sein, punkten zu können. Velo nannte die Autoindustrie „hochgradig kriminell“, Diess tätschelte ihren Arm.
Die Manager aus den anderen Autofirmen waren – mal wieder – sauer. Dass er sich bei der so angebiedert habe. Ausgerechnet bei der.
Am schlimmsten verrannte er sich, als er seine Manager motivieren wollte, stärker auf den operativen Gewinn – das Ebit – zu achten. Er sagte: „Ebit macht frei“, was viele Zuhörer an „Arbeit macht frei“ erinnerte, den Schriftzug, den die Nazis über dem Vernichtungslager Auschwitz angebracht hatten. So etwas darf dem Vorstandsvorsitzenden eines Weltkonzerns nicht passieren. Noch viel weniger, wenn der Weltkonzern Volkswagen heißt und seine Gründungsgeschichte untrennbar mit den Nazis verbunden ist. Diess entschuldigt sich.
Manche finden trotzdem, der Ebit-Spruch sei ein Rücktrittsgrund. Andere wundern sich, dass einer, der sich in 18 Monaten Amtszeit schon mit gefühlt jedem angelegt hat, immer noch da ist. Aber bei all der Irritation, die er auslöst, schwingt auch immer etwas anderes mit: Bewunderung.
Tatsächlich gibt es niemanden, der ihn wirklich zu kennen scheint. Man weiß, dass Herbert Diess es auch in seiner Freizeit rasant mag. Er geht Kite surfen und Motorrad fahren. Einer, der schon mal in einer Gruppe mit ihm unterwegs war, sagt, es sei keineswegs so, dass Diess dann immer vorneweg fahren wolle. Er halte sich auch nicht bewusst im Hintergrund. „Die Wahrheit ist, er schaut überhaupt nicht auf die anderen. Er will die Maschine ausreizen, und dabei ist er ganz auf sich selbst konzentriert.“
Wenn man fragt, wer beruflich seine engsten Vertrauten sind, mit wem er sich berät: Achselzucken. Ein hochrangiger Manager aus dem Konzern sagt: „Diess ist eine Ich-AG.“ Wenn man ihn selbst fragt, ob man für die Führung eines Unternehmens nicht auch Leute um sich brauche, denen man vertraue, sagt er, es ginge nicht um Freundschaften, er brauche Profis.
Es ist nicht so, dass er nüchtern im Umgang wäre, im Gegenteil. Er kann durchaus lachen, auch über sich selbst. Aber wenn man ihn dann fragt, ob ihn sein hartes Image nicht nerve, ob er nicht auch geliebt werden wolle, dann sagt er, er sei „sehr lösungsorientiert im Umgang mit Menschen“. Und dass der Erfolg die Menschen oft überzeuge.
Aber eben nicht immer.
Bevor er zu Volkswagen ging, arbeitete Herbert Diess knapp 20 Jahre für BMW, in München und in Großbritannien. Hier hatte er seinen Stempel bekommen: der Kostendrücker. Weniger freundlich sagen manche auch: der Knochenbrecher. „Diess ist wie ein Duracell-Häschen. Zehn Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit? Er trommelt weiter.“
Hatte er eine komplizierte Aufgabe, heißt es, beauftragte er gerne zwei verschiedene Teams damit. Teams, die nichts voneinander wussten. Der ultimative Wettbewerb. Die Methode hatte Erfolg, zumindest den Zahlen nach. In München erzählen sie über Herbert Diess gerne die Geschichte von den vier und den sechs Milliarden Euro. Als Einkaufsvorstand hatte Diess den Auftrag bekommen, Geld einzusparen. Vier Milliarden Euro weniger sollten für Stahlbleche, Motorsteuergeräte, Scheibenwischer ausgegeben werden, drei Viertel aller Teile eines Autos werden ja von irgendwoher zugeliefert. Diess erfüllte den Auftrag nicht nur, er übererfüllte ihn. Am Ende hatte er sechs statt vier Milliarden eingespart.
Aber zu welchem Preis? Bei BMW reden sie davon, dass eine der Folgen war, dass wichtige Geschäftspartner die gemeinsame Forschung aufgekündigt hätten, weil sie nicht mehr konnten oder einfach nicht mehr wollten. Einige Zulieferfirmen hätten sogar in die Insolvenz gehen müssen. Für BMW war diese Art des Managements nicht passend: Es war nicht nur sein Alter, wie oft gesagt wurde, sondern es war diese gnadenlose Härte, deretwegen Diess 2014 eben nicht zum BMW-Vorstandsvorsitzenden befördert wurde. „Widerstand ist sein Rock’n Roll, das war schon bei uns so“, sagt einer bei BMW. Ein anderer früherer Kollege erinnert sich an die Zeit, als der Wechsel nach Wolfsburg bekannt wurde: Wenn ich zu Volkswagen gehe, habe Diess gesagt, dann ist das eine 50:50-Chance. Entweder scheitere ich, oder ich werde Vorstandschef.
Im Sommer 2015 wechselte Herbert Diess dann zu Volkswagen, zunächst als Chef der Kernmarke. Im Rückblick wünscht er sich wahrscheinlich, er hätte noch einen Monat länger durchgehalten bei BMW, dann hätte er jetzt nicht dieses Problem, das all seine Pläne und seine große Vision gefährdet: die Anklage.
Herbert Diess, teilte die Staatsanwaltschaft Braunschweig im September mit, wird im Zusammenhang mit der Dieselaffäre angeklagt. Genau wie der Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch und der frühere VW-Chef Martin Winterkorn. Spätestens am 27. Juli 2015 müssten alle Angeklagten vom Dieselbetrug gewusst haben, argumentieren die Ermittler. Damals habe es in Wolfsburg einen sogenannten Schadenstisch gegeben, ein Treffen, bei dem über die manipulierten Motoren gesprochen worden sei. Dennoch habe das Top-Management Aktionäre und Öffentlichkeit nicht informiert und damit den Aktienkurs manipuliert.
Winterkorn und Pötsch leiteten Volkswagen damals schon seit Jahren in maßgeblichen Positionen, man darf annehmen, dass die Anklage der Staatsanwaltschaft sie zumindest nicht überrascht hat. Aber Diess? Der war am 27. Juli noch keine vier Wochen Chef der Konzernmarke VW. Er wehrt sich, und der Aufsichtsrat hält ihn trotz der Anklage im Amt. Hätte er den Job einen Monat später angetreten, wäre er nicht bei diesem Meeting gewesen. Dann hätte ihn kein Mensch anklagen können für das Mitwissen von Dieselmanipulationen, die unstrittig unter der Verantwortung seiner Vorgänger zustande kamen. Dann hätte er jetzt überhaupt kein Problem, sondern wäre einfach nur der E-Revolutionär. So aber könnte das noch verdammt peinliche Bilder geben: der VW-Chef auf der Anklagebank im Gericht in Braunschweig.
Bleibt noch die Frage nach dem Grund. Warum riskiert einer ein Unternehmen mit 640 000 Mitarbeitern und alles, was er sich persönlich aufgebaut hat, nur weil er unbedingt schneller transformieren will als alle anderen?
Natürlich interessiert er sich schon auch für das Klima, sagen sie im Aufsichtsrat. Aber dass er jetzt im Herzen ein Öko wäre, kann man wohl nicht behaupten, zumal man auch über die Umweltbilanz von E-Autos streiten kann. In Zwickau sagt er: „Ohne Elektroauto können wir den Kampf gegen den Klimawandel nicht gewinnen.“ Allein die rund hundert Millionen Pkw der VW-Marken stoßen ein Prozent der weltweiten CO2-Emissionen aus.
Was also treibt ihn? Es ist vielleicht einfach die Aussicht, die größtmögliche Wette wirklich gewinnen zu können.
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Einschübe:
Wenn sowieso alles wankt, kann
man gleich alles niederreißen und
neu aufbauen. Das war die Idee
Er kann durchaus diplomatisch
sein, schmeichelnd, charmant.
Er hat nur meist keine Lust drauf
Braucht man als Konzernchef
nicht auch Vertraute, Freunde?
Nein, er brauche Profis
„Widerstand ist sein Rock’n’ Roll,
das war schon bei uns so“, sagt
einer, der ihn bei BMW erlebt hat
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Bildunterschrift:
Herbert Diess in Zwickau, als der ID.3 in Produktion ging, das erste Elektroauto von VW. Vordenker, Mann der Zukunft, so sieht Diess sich. Doch im Konzern fragen sich manche, ob er nicht längst hätte gehen müssen.