Das Zeitalter der Pionierinnen
von Lisa Nienhaus
Die Zeit vom 22.01.2020
Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.
Das Zeitalter der Pionierinnen
Neue Serie: [Medium] porträtiert ab dieser Ausgabe Pionierinnen der Gegenwart – von der ersten Chefin von Thyssenkrupp (nächste Seite) bis zur ersten Müllfrau
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Teil 1 (Auftakt zur Serie):
Frauen erreichen immer mehr Positionen, die zuvor nur Männer innehatten. Und werden dafür bejubelt. Verliert weibliche Aggression ihr Tabu?
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Als Fallon Sherrock ihren rosa Pfeil hebt, tobt der Saal. Die 25-jährige platinblonde ehemalige Friseurin tritt bei der Darts-WM im Dezember gegen Ted Evetts an, einen etwas pummeligen 22-Jährigen, Spitzname Superted. Und sie hat die 3000 Zuschauer auf ihrer Seite. Wenn Evetts dran ist, pfeift und buht die Menge. Bei Sherrock jubelt sie. Und Sherrock wirft, der erste Pfeil geht daneben. Mit dem zweiten trifft sie – und die Zuschauer, Männer mit Weihnachtsmannmützen und Frauen in neonfarbenen Kostümen, liegen sich in den Armen. Denn mit diesem Wurf hat Sherrock Sportgeschichte geschrieben. Sie ist die erste Frau, die bei einer Darts-WM einen Mann geschlagen hat.
Verrückt eigentlich, dass das erst jetzt geschieht, denn Männer haben beim Darts keinen erkennbaren physischen Vorteil. Aber bislang waren die Geschlechter dort weitgehend getrennt. Bei den Männerspielen traten Frauen vornehmlich als Tänzerinnen auf oder als sogenannte Walk-on-Girls, dürftig bekleidete Models, welche die oft eher massigen Spieler auf die Bühne begleiteten.
Das Video der Begegnung Fallon versus Ted kommt bei YouTube auf bislang 610.000 Abrufe – und es lohnt sich, den Beitrag anzuschauen. Denn er dokumentiert nicht nur den Moment, in dem Fallon mit ihrem Dartpfeil eine gläserne Decke zerschmettert: Sie bekommt für diesen Sieg in der ersten Runde beinahe ein doppelt so hohes Preisgeld, wie sie es bei der Darts-WM der Frauen für den ersten Platz erhielte. Das Video dokumentiert auch die Reaktion der Zuschauer, die sich eindeutig auf die Seite der Frau stellen.
Das ist verblüffend. Hatten Studien nicht gezeigt, dass Erfolg und Macht Frauen eher unbeliebt machen, während Männer dadurch sympathischer wirken? Galt offen aggressiv zu sein – und das Gewinnenwollen ist unzweifelhaft eine Aggression – vielen Frauen deshalb nicht als Tabu?
So legten im Jahr 2003 zwei Professoren der Columbia Business School und der New York University ihren Studenten den Lebenslauf eines sehr erfolgreichen Menschen vor. Nur hieß er für die eine Hälfte der Teilnehmer Heidi, für die andere Hälfte Howard. Anschließend wurden die Studenten befragt, unter anderem danach, wie gern sie mit Howard beziehungsweise Heidi zusammenarbeiten würden und wie sympathisch diese ihnen seien. Die Ergebnisse waren erschreckend: Heidi beschrieben die Studenten zwar als ebenso kompetent wie Howard, aber sie mochten sie weitaus weniger. Dieses Experiment hat unter anderem die Facebook-Managerin Sheryl Sandberg in ihrem Buch Lean In beschrieben. Sie wollte damit zeigen, was Frauen zurückhält, in Führungspositionen zu streben: Sie werden bei Erfolg anders bewertet als Männer, nämlich als unangenehmer.
Weit weniger bekannt ist allerdings, dass das Experiment zehn Jahre später für eine Fernsehsendung wiederholt wurde. Im Jahr 2013 legte eine Professorin der New York University zwei Studentengruppen wieder jeweils einen Lebenslauf eines erfolgreichen Menschen vor, zwei Fallstudien, die wieder identisch waren, bis auf die Namen, diesmal Catherine und Martin. Sie fragte die Studenten, ob ihnen die Person sympathisch sei und ob sie für sie arbeiten wollten. Und siehe da: Plötzlich lag die Frau vorn. Sie wurde etwas mehr gemocht als der Mann. Und die Studenten waren weitaus williger, für sie zu arbeiten als für den Mann.
Das zeigt: Vorurteile über Frauen und Männer sind nicht unverrückbar. Sie können sich verändern. Und sie tun es auch.
Das passt zum Jubel für die Darts-Spielerin Fallon Sherrock. Für ihre Zuschauer ist die aggressive Frau offenbar kein Feindbild mehr. Es tut sich etwas für die Frauen – und das nicht nur ganz oben. Denn Fallon Sherrock ist keine Managerin oder hochrangige Politikerin, keine erste Gerichts- oder Polizeipräsidentin. Es geht hier um Darts, in Großbritannien das Vergnügen der Arbeiterklasse schlechthin. Wenn sich hier etwas verändert, dann hat es sich in der gesamten Gesellschaft verändert.
Einst waren die Weltentdecker, denen die Leute zujubelten, Männer. Sie waren die Ersten, die den Südpol, den Gipfel des Mount Everest oder den Mond erreichten, auch weil Gesellschaften Frauen diese Wege gar nicht eröffneten. Doch seit ein paar Jahren vollbringen vor allem Frauen gefeierte Pioniertaten. Sie erreichen etwas als erste Frau, und ihr Weg ist zwar weniger lebensgefährlich, wird aber ansonsten als ähnlich entbehrungsreich und mühselig beschrieben wie einst die Expedition von Roald Amundsen zum Südpol. Statt Gletscherspalten droht das Misstrauen in ihre Fähigkeiten, statt minus 55 Grad Celsius macht Sexismus manche Tage unerträglich. Über Amundsen schrieb der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen im Jahr 1912: »Alles, das Große und das Kleine, war bis in alle Einzelheiten durchdacht – und der Plan wurde glänzend durchgeführt. Auf den Mann kommt es an: hier wie überall.« Heute kann man sagen: Auf die Frau kommt es an: hier wie überall.
Wir befinden uns im Zeitalter der Pionierinnen. Und die weißen Flecken auf der Landkarte werden weniger, sprich: jene Positionen, die noch keine Frau je innehatte. Allein im vergangenen Jahr kamen die erste EU-Kommissionspräsidentin, die erste Präsidentin der Europäischen Zentralbank und die erste (Co)-Chefin eines Dax-Unternehmens ins Amt. Seit 2013 leitet die erste Frau ein Sondereinsatzkommando der Polizei in Hannover. Eine Grubenchefin hat das Land schon gesehen, Generalinnen, Kampfpilotinnen.
[Medium] widmet diesen Frauen nun eine Serie. Unter dem Titel »Die Erste« porträtieren wir von dieser Ausgabe an Pionierinnen der Gegenwart: von den 1970er-Jahren bis heute, von der ersten Thyssenkrupp-Chefin (siehe S. 22) über eine der ersten Studentinnen in Yale bis zur ersten Frau, die einen Männer-Profifußballverein trainierte. Die Ersten erzählen von Kämpfen, Triumphen und vom Scheitern. Die Geschichten zeigen, was möglich ist, und sie zeigen: Machtstrukturen sind nicht starr. Sie verändern sich.
Das bedeutet noch lange nicht, dass für die Frauen bald alles erreicht ist. Mitnichten. Mit Pionierinnen ist es wie mit Pionieren: Sie sind oft statistische Ausreißer. Noch immer sind Frauen in der Breite der Berufe und Positionen umso seltener vertreten, je mehr es dort um Geld und Macht geht, etwa im höheren Management großer Firmen. Laut dem aktuellen Managerinnen-Barometer des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung haben unter den 200 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland noch 60 Prozent (!) keine einzige Frau im Vorstand. Der Frauenanteil in den Vorständen lag insgesamt bei 10,4 Prozent, was wenig ist und trotzdem ein Fortschritt. 2006 waren es nämlich erst 1,2 Prozent.
Im Jahr 2015 trat ein Gesetz in Kraft, das diese Zahlen zumindest in börsennotierten und mitbestimmten Unternehmen verbessern sollte. Deren Aufsichtsräte müssen seither ein Ziel für den Frauenanteil im Vorstand ausgeben. Wirklich geholfen hat es nicht, denn viele Unternehmen wählten das Ziel »null Prozent«. Um Erklärungen waren sie nicht verlegen: »Wir sind mit der aktuellen Besetzung gut aufgestellt«, hieß es 2017 bei Fielmann, »keine geeignete Kandidatin« im selben Jahr beim Anlagenhersteller Krones und: »Diese Zielgröße wahrt den aktuellen Stand«, 2018 bei Rocket Internet. (Frauen scheinen für diese aufopferungsvoll gepflegte Männerkultur ein echtes Risiko zu sein!)
Und doch sind es gerade die Geschichten der ersten Frauen, die zeigen, wie viel sich innerhalb einer Generation verändert hat. So waren die Sprüche früher härter. Die heutige EZB-Präsidentin Christine Lagarde etwa berichtete in einem Gespräch mit [Medium] von einem Vorstellungsgespräch, zu dem sie 1979 als junge Frau eingeladen worden war. Sie hatte sich die Anwaltskanzlei gerade deshalb ausgesucht, weil es dort eine weibliche Partnerin gab. »Kann ich erwarten, dass ich es eines Tages zur Partnerin in diesem Unternehmen bringe?«, fragte Lagarde diese Frau und erinnert sich heute noch an die Antwort: »Sie schaute mir in die Augen und sagte: ›Sie werden genauso sehr leiden, wie ich gelitten habe.‹« Lagarde fing dann lieber anderswo an und schwor sich, es später anders zu machen.
Auch als die Lufthansa in den 1980er-Jahren begann, erste Pilotinnen auszubilden, waren dem Sprüche vorausgegangen, die heute undenkbar wären. Wie etwa jener eines Condor-Sprechers, der zur Debatte über Frauen im Cockpit in vollem Bewusstsein folgenden Beitrag leistete: »Die sagen fünf Minuten vor dem Start ab, weil ihnen angeblich unwohl ist; in Wirklichkeit gehen die nur zu ihrem Freund.« Noch im Jahr 1985 hatte die Lufthansa alle 300 Bewerberinnen abgelehnt. Ein Sprecher des Konzerns bezeichnete Pilotinnen als Sicherheitsrisiko: »Es fällt doch jedem auf, dass Frauen sich schon bei Autopannen nicht zu helfen wissen.« Ein Jahr später wurden trotzdem die ersten Frauen zur Ausbildung zugelassen. 1988 starteten sie als Co-Pilotinnen.
Wenn eine Frau eine Position als Erste erklommen hat, ist sie damit nicht am Ziel. Manchmal werden die Ersten leuchtende Vorbilder, erreichen, was sie sich vorgenommen haben. Manchmal scheitern sie, an den Männern, den Umständen, den Vorurteilen, an sich selbst. Manchmal sind sie erfolgreich, aber trotzdem folgt auf sie erst einmal keine weitere Frau. So wie bei der wohl ersten Frau in einem Dax-Vorstand. Von 1988 bis 1996 war Ellen Schneider-Lenné stellvertretendes Mitglied des Vorstands der Deutschen Bank. »Sie war einfach unser bester Mann«, sagte der ehemalige Deutsche-Bank-Chef Hilmar Kopper einmal über sie. Trotzdem blieben die Männer im Vorstand nach ihrer Zeit viele Jahre unter sich. Sodass Josef Ackermann, der übernächste Bankchef, 2011 gönnerhaft sagen konnte, er hoffe darauf, dass es irgendwann einmal Frauen im Vorstand gebe. Das sei schließlich »farbiger« und »schöner«. Woraufhin die FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin konterte: »Wenn Herr Ackermann mehr Farbe im Vorstand will, soll er sich Bilder an die Wand hängen.« Auch von solchen Geschichten handelt diese Serie.
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Bildfolge:
DIE ERSTE
[Bilder von verschiedenen prominenten Frauen]
Sie alle waren erste Frauen – doch in welcher Position?
Die Auflösung finden Sie unten:
1988
Ellen Schneider-Lenné ist die erste Frau im Vorstand der
Deutschen Bank
1988
Nicola Lisy und Evi Hetzmannseder sind die ersten Lufthansa-Pilotinnen
1994
Jutta Limbach ist die erste Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts
2005
Angela Merkel ist die erste Bundeskanzlerin Deutschlands
2007
Marin Alsop ist die erste Dirigentin eines großen amerikanischen Orchesters
2019
Jennifer Morgan ist die erste (Co-)Chefin eines Dax-Konzerns: SAP
2019
Ursula von der Leyen ist die erste Präsidentin der EU-Kommission 2019
Fallon Sherrock besiegt als erste Frau in einer Darts-WM
einen Mann
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Bildunterschrift:
1963 – Walentina Tereschkowa ist die erste Frau im Weltraum
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Teil 2 (erstes Porträt):
Frau aus Stahl
Schmuddelkinder der Industrie zu neuem Selbstbewusstsein führen, damit kennt Martina Merz sich aus. Jetzt steht sie vor ihrem schwierigsten Fall: Thyssenkrupp retten. Geht das überhaupt?
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Es muss Anfang der 2000er-Jahre gewesen sein, als Martina Merz ein Prinzip entdeckte, das ihr Berufsleben verändern sollte. Sie nennt es »das Schmuddelkindsyndrom«. 2001 war Merz gerade Geschäftsführerin bei der Türschloss-Sparte des Autozulieferers Bosch geworden. Nach fünf Jahren in einer Abteilung, die erfolgreich unter dem Radar segelte, und nach einer Zeit als Assistentin des Bereichsvorstands, in der sie lernte, ihre ehemaligen Chefs von oben zu betrachten, war sie bei einem Schmuddelkind gelandet. »Von da an war ich nur noch bei Sorgenkindern«, sagt sie.
Was sie dabei erlebte, war immer ähnlich: »Wenn Ihr Bereich wenig verdient, bedeutet das doch nicht, dass Sie sich weniger anstrengen als andere«, sagt Merz. »Trotzdem werden Sie von manchen im Unternehmen wie ein Schmuddelkind behandelt.« Stets unter Beobachtung, ein wenig lästig und von Misstrauen begleitet. Wie kommt man da raus? Merz’ Weg ging so: erst klar die Probleme benennen, dann die Opferrolle verlassen. »Es ist kein erfolgversprechendes Konzept, darauf zu hoffen, dass von irgendwoher Geld kommt«, sagt sie. Das Underdog-Gefühl vieler Mitarbeiter könne dabei sogar hilfreich sein. »Wenn man das mobilisiert, entsteht daraus gesunder Kampfgeist.«
Heute, 19 Jahre später, kann Martina Merz Kampfgeist dringend gebrauchen. Seit dreieinhalb Monaten steht sie an der Spitze von Thyssenkrupp, als erste Frau. Reichlich überraschend, war sie doch erst im Februar 2019 dort zur Aufsichtsratschefin gewählt worden, ebenfalls als erste Frau. Doch der Weg vom Aufseher zum CEO ist auch für Männer ungewöhnlich. Merz kam damit quasi von oben auf den Chefposten eines der größten Unternehmen des Landes: 162.000 Mitarbeiter und bis in die 2000er-Jahre bekannt für die Bugwelle an Bedeutung, die seine Manager vor sich herschoben, für die Liebe zur Jagd, für Privatjets, mit denen man mal eben zum Abendessen nach Kiel flog, und für die Machtkämpfe der Männer an der Spitze. Vier Jagdreviere hatte Thyssenkrupp einst gepachtet, darunter 17.000 Hektar in Tirol. Berthold Beitz, der mittlerweile verstorbene Firmenpatriarch, schmiedete hier noch in der Jagdhütte Allianzen und bekam schon mal das Abschussrecht für einen besonderen Hirsch zum Geburtstag geschenkt.
Heute ist das vorbei. Stattdessen steckt Thyssenkrupp in einer tiefen Krise, vielleicht der tiefsten seiner Geschichte: Millionen-Verluste, Milliarden-Fehlinvestitionen und dann die Chaostage im Sommer 2018. Damals schmiss der Chef Heinrich Hiesinger hin, kurz darauf trat auch Aufsichtsratschef Ulrich Lehner zurück. Nicht ohne sich zuvor bitter über die Methoden einiger Anteilseigner zu beklagen, sie gar als »Psychoterror« zu bezeichnen.
Dahinter steckte eine handfeste Auseinandersetzung um die Zukunft. Hiesinger wollte einen neuen Konzern rund um das erfolgreiche Aufzuggeschäft bauen, ohne Stahl. Einige Anteilseigner waren aber dafür, nicht nur den Stahl, sondern auch die Aufzüge loszuschlagen, was viel Geld versprach.
Seither ist die Krise tiefer geworden. Das Stahl-Joint-Venture mit dem indischen Konzern Tata hat die EU-Kommission verboten, die wirtschaftliche Lage ist schlechter geworden. Aufspalten, zerschlagen, teilverkaufen – all das stand in den vergangenen Monaten im Raum. Das Aufspalten wurde gar zur Strategie erklärt, nur um die Strategie kurz danach zu kassieren.
Hat Martina Merz in Essen also ihr neues Schmuddelkind gefunden, mit unweit größeren Problemen? An einem diesigen Mittag im Dezember sitzt die Managerin – blonde kurze Haare, rote Jacke, Schal – ganz oben im Glaswürfel der Thyssenkrupp-Zentrale an einem Konferenztisch, der so lang ist, dass man schreien müsste, um sich vom einen Ende zum anderen zu verständigen. Thyssenkrupp ein Schmuddelkind? Nein, dafür seien die Geschäftsbereiche viel zu unterschiedlich, der Konzern zu divers. Zwischen den Zeilen gelesen, heißt das: In einigen Abteilungen lässt sich das Schmuddelkindsyndrom wohl durchaus feststellen.
Part eins ihrer üblichen Strategie – klar die Probleme benennen – hat sie folglich schon erledigt.
Auf der Bilanz-Pressekonferenz im November fand sie so deutliche Worte über die Lage des Konzerns, dass der Aktienkurs zeitweilig um 13 Prozent fiel. Das fanden nicht alle gut. Fehlt noch Part zwei: Raus aus der Opferrolle! Das ist schwieriger. »Performance« lautet das Wort, das Merz gefühlte 50 Mal in jedem öffentlichen Auftritt benutzt. Was sie damit meint, zeigt sich zwei Wochen später in Heilbronn. Martina Merz ist hier für einen Nachmittag angereist, um sich ein Werk anzuschauen, das Teile für die Autoindustrie zuliefert. Sie will mit den lokalen Managern darüber sprechen, wie es weitergeht. Schließlich ist die Autobranche in der Krise. Und für den Bereich Automotive bei Thyssenkrupp ist schon angekündigt, dass jede fünfte Stelle wegfällt. Später am Abend wird es um Investitionen gehen, um Allianzen, misslungene Projekte und Eigenverantwortung.
Doch zunächst geht es mit Sicherheitsschuhen in die Fertigungshallen. Ingenieure, Techniker, Schlosser zeigen der Chefin, wie Maschinen hier Autoteile pressen und mit Wasserkraft formen; wie sie sogenannte Greifer für Roboter zusammenschrauben; und dass man Schweißen jetzt auch mit Virtual-Reality-Brille trainieren kann. Merz fragt nach, lässt sich die Dinge genau erklären. Die Begeisterung für Technik, der Stolz auf kleinste Verbesserungen, das springt nicht nur über, das ist ihr sichtlich vertraut. Erst als kurz vor Schluss zwei weibliche Auszubildende auftauchen und sie ausruft, »Ach, da sind ja endlich ein paar Girls!«, wird klar: Ja, das hier ist noch immer eine Männerwelt. Aber an deren Spitze ist jetzt eine Frau. Wie hat sie das nur angestellt?
Wenn es nach Martina Merz geht, ist das zuallererst die Schuld ihrer Mutter. Die stammte aus Ostpreußen, wurde samt Familie vertrieben und landete in Schwaben auf dem Dorf. Durchhausen heißt das Örtchen, in dem Merz aufwuchs. 980 Einwohner, CDU-Stammland. Die Neuen aus dem Osten waren nicht sehr willkommen. Als Merz’ Mutter mit einem Angehörigen des sogenannten Dorfadels anbandelte, mit Merz’ späterem Vater, unternahm dessen Muter sogar eine Wallfahrt, um die unpassende Hochzeit zu verhindern, so erzählt es Merz. Doch ihre Mutter war nicht der Typ, der sich einschränken ließ. Es wurde geheiratet. Und auch sonst lebte sie nach dem Motto: Hilf dir selbst!
So gründete sie die erste Damen-Fußballmannschaft im Ort. »Wieso sollen nur die Männer Fußball spielen?«, erläuterte sie das später ihrer Tochter. »Die Frauen haben doch auch Spaß daran.« Ihre Kinder erzog sie zu Offenheit, und das im tiefsten Schwaben, wo es damals noch ein Skandal war, als Merz’ Schwester mal in Hosen in die Kirche ging.
So erschien es Martina Merz schlicht praktisch, dass sie nach der Realschule aufs technische Gymnasium wechselte – nicht weil Technik sie besonders interessierte, sondern weil ein Junge aus der Gegend sie mit dem Auto mitnehmen konnte. Dass sie dort wiederum fast allein unter Jungs war, störte sie nicht. Schon im Dorf hatte sie vor allem mit Jungen gespielt, weil die Mädchen weiter weg wohnten.
»Erst später habe ich bemerkt, dass man irgendwann Identifikationsprobleme bekommt, wenn man immer eine Minderheit ist.« Sie fragte sich: Bin ich eigentlich noch eine Frau? Das geschah, als sie ihre erste Stelle antrat, im Jahr 1985 bei Bosch, wo sie mit Anfang 20 parallel zum Studium arbeitete. Die Frauen in ihrer Abteilung waren bis auf sie alle Sekretärinnen. »Die gingen davon aus, ich müsse auch Kaffee kochen, denn ich war ja eine Frau«, erzählt Merz. »Diese Woche sind Sie dran«, hieß es. Und zunächst hielt sich Merz daran. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass die Männer das nicht gemacht haben.« Als sie es dann doch merkte, ging sie zu ihrem Chef. »Er hat dann mit den Kolleginnen gesprochen.« Und Merz kochte keinen Kaffee mehr. An dieser unangenehmen Situation ist ihr klar geworden, dass die Erwartung an sie von vielen Frauen damals war: Sei wie wir! Und die Männer waren verunsichert, wie sie mit einer Frau in ihrer Position umgehen sollten.
Letzteres hat sie begleitet. In ihrer heutigen Position, als wohl mächtigste Managerin Deutschlands, ist sie mindestens so ungewöhnlich wie damals. Sie war die erste Aufsichtsratschefin im Dax, die den Posten erreicht hatte ohne eine mächtige Anteilseigner-Familie im Rücken. Als Vorstandsvorsitzende ist sie auch eine Rarität. Sie selbst will aus ihrer Rolle als Frau allerdings lieber keine große Sache machen. Dass Frauen erst in der Katastrophe eine Chance bekommen, glaubt sie nicht. Sie findet es eher plausibel, dass Frauen bei den Sorgen- und Schmuddelkindern leichter zusagen, aus Mitleid, während die Männer noch die Bücher prüfen.
Ansonsten ist sie der Typ, der lieber sachlich bleibt und dafür in Kauf nimmt, als kühl zu gelten, immer in der Hoffnung, dass die Leute sie irgendwann schon mögen lernen. Das hat sie mit der Chefin der Krupp-Stiftung, Ursula Gather, gemeinsam, der Frau im Hintergrund, die über den weitaus größten Anteil am Konzern wacht. Die beiden verstehen sich gut, auch wenn es nicht zuerst Gather war, die Merz zu Thyssenkrupp holte. Die wärmsten Worte hat wohl Carsten Spohr eingelegt, Chef der Lufthansa. Aber die gute Beziehung der beiden Frauen ist ein Fortschritt. Die alte Managerriege hatte sich mit Gather überworfen. Mancher Gegner im Konzern verunglimpft die Herrin der Villa Hügel gar als Hügelhexe. Wer als Chefin etwas vorhat, braucht aber die Unterstützung von oben.
Und Merz hat etwas vor. Das ist zu spüren in Heilbronn, als es am Abend ums Geschäft geht und Merz zeigt, wie sie sich die Sache mit der »Performance« vorstellt. »Hilf dir selbst« ist das Motto.
Und so delegiert sie Verantwortung in die Abteilungen zurück. Wenn es um Investitionen geht, fordert sie Eigenfinanzierung, statt die Zentrale als Bank zu betrachten. Und vom Chef der Geschäftseinheit, der erst einmal wenig Konkretes von sich gibt, wünscht sie sich Entscheidungen: »Sie wissen doch vor Ort am besten, welches Produkt Sie weiterentwickeln sollten und welches nicht. Das können Sie nicht uns in der Zentrale überlassen.« Bei solcher Klarheit stehen auch erfahrene Manager stramm.
Martina Merz hat bislang nur Firmen geleitet, die einige Tausend Mitarbeiter hatten, nicht 162.000. Das sieht manch ehemaliger Manager als Problem. Die kann das nicht, wird insinuiert. Das wiederum empört die aktuelle Führungsriege.
»Keiner der Herren hat die Geschichte hier zu Ende gebracht«, schimpft einer, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. »Aber jetzt den Damen die Kompetenz absprechen. Das ist schon dreist.« Merz schweigt dazu. Dass sie mit ihren Sorgenkindern Ernst macht, hat sie aber in ihrer Karriere gezeigt. Zweimal hat sie ihre Abteilung verkauft und ist mitgegangen. »Wenn der Eigentümer ein Geschäft nicht behalten will, obwohl man alles getan hat, dann muss man im Zweifel auch Tschüs sagen«, findet sie. Nun steht sie auf der anderen Seite. Sie will einigen Teilen von Thyssenkrupp Tschüs sagen.
»Wir müssen auch entscheiden, wofür wir nicht stehen wollen in fünf Jahren«, sagt sie. »Der Kapitalmarkt lässt nicht zu, dass wir mediokre Geschäfte ohne bessere Aussichten weiterführen.« Für die Aufzugsparte soll die Entscheidung schon im Februar fallen. Verkauf oder Teilverkauf sind die wichtigsten Optionen. Auch für den Anlagenbau klärt Merz, wie viel man für Teile oder das Ganze bekommen könnte. Sie hat es eilig: Merz ist nur für ein Jahr aus dem Aufsichtsrat entsandt. Bliebe sie länger, dann könnte sie danach nicht auf ihren alten Posten zurückkehren, ohne zwei Jahre Pause einzulegen.
»Meine Entsendung in den Vorstand ist für ein Jahr vorgesehen«, sagt sie. »Aber bis dahin werden auch die wesentlichen Entscheidungen für die Neuentwicklung gefallen sein.« Dann soll Thyssenkrupp eine »Gruppe« sein, wie sie es nennt: »eigenständige Einheiten unter einer schlanken Zentrale«. Ob ihr das gelingt? »Eine Sache ist es, ein guter Chef zu sein«, sagt sie. »Eine andere Sache ist es, seine Vorschläge auch durchzubekommen.«
Sie will beides.
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Kasten:
Martina Merz
1963
Geboren und aufgewachsen in Durchhausen in Schwaben
1985
Erste Stelle bei Bosch, danach diverse Positionen
2012-2015
CEO von Chassis Brakes, einer Abspaltung von Bosch
2019
Erst Aufsichtsratschefin von Thyssenkrupp, dann CEO
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Einschub:
Der Vergleich
84,6 % Männeranteil bei Thyssenkrupp
15,4 % Frauenanteil bei Thyssenkrupp
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Inzwischen sind weitere Porträts erschienen.