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Das Kartenhaus

von Nils Heck (geb. Wischmeyer), Jan Diesteldorf, Christoph Giesen, Klaus Ott, Nicolas Richter und Jörg Schmitt
Süddeutsche Zeitung vom 19.12.2019

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Das Kartenhaus

Artikel 1 vom 5.12.2019

Aschheim gegen London

Wirecard - Die Vorwürfe gegen den Zahlungsdienstleister reißen nicht ab. Doch der wehrt sich - und hat einflussreiche Unterstützer

Wirecard wirft der "Financial Times" vor, sich mit Spekulanten verbündet zu haben. Hilfe bekommt der Konzern ausgerechnet von der deutschen Börsenaufsicht

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Am 30. Januar dieses Jahres sorgte die Financial Times (FT) für Aufsehen: Ihre Reporter Dan McCrum und Stefania Palma berichteten, dass der deutsche Konzern Wirecard ein schweres Problem in Asien habe. In der Niederlassung in Singapur habe ein hochrangiger Manager Umsatzzahlen geschönt, es stünden diverse Straftaten im Raum. Wirecard ist ein Tech-Unternehmen, das sich auf bargeldlose Bezahlsysteme spezialisiert hat. Weil Wirecard für die Zukunft steht, und weil Umsätze und Gewinne jedes Jahr wachsen, gilt die Firma als Liebling vieler Aktionäre.

Der FT-Bericht zog diese Erfolgsgeschichte allerdings in Zweifel, er warf die Frage auf, ob Wirecard mehr Schein sei als Sein. Was der Konzern aus Aschheim bestreitet. Als der FT-Artikel am Nachmittag des 30. Januars erschien, stürzte der Kurs der Wirecard-Aktie ab und sank zwei Wochen lang weiter. Von 167 Euro zeitweise sogar unter die magische Schwelle von 100 Euro. Der deutsche Tech-Konzern verklagte die Londoner Zeitung später, im März 2019, auf Schadenersatz.

Noch härter griff die deutsche Börsenaufsicht durch, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) in Bonn. Sie verhängte am 18. Februar ein Leerverkaufsverbot für Wirecard-Aktien. Damit durfte niemand mehr an der Börse auf sinkende Wirecard-Kurse wetten. Am 9. April 2019 erstattete die Bafin sogar Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft München I, wegen des Verdachts der Marktmanipulation. Die Anzeige richtete sich gegen mehrere Börsenhändler. Und gegen Dan McCrum und Stefania Palma, die Reporter der Financial Times. Verfolgen deutsche Behörden nun Journalisten, bloß weil diese über mögliche Missstände in deutschen Unternehmen berichtet haben?

Die Strafanzeige der Bafin, deren Inhalt öffentlich bislang unbekannt ist, liegt [Medium] vor. Das 34-seitige Dokument gewährt einen seltenen Einblick in Denken und Handeln der sehr verschwiegenen Börsenaufseher. Und es führt zu der Frage, ob deutsche und europäische Vorschriften zum Schutze des Aktienhandels überhaupt anwendbar sind auf die Arbeit von Journalisten. Und ob bei der Bafin nicht ein elementares Missverständnis vorliegt über Arbeit und Funktion der Presse. In der Anzeige gegen die beiden FT-Reporter heißt es etwa, die beiden hätten ihre Berichte auf der Internetseite der Financial Times (ft.com) veröffentlicht und somit einen "Medienzugang zu der Abgabe der Stellungnahme" ausgenutzt. Stellungnahme? Medienzugang ausgenutzt? Das sind Formeln aus den europäischen Regeln gegen Marktmissbrauch an der Börse, die aber mit der Arbeit der Presse wenig zu tun haben. Journalisten veröffentlichen ihre Ergebnisse natürlich in den eigenen Medien. Und Berichte sind keine Stellungnahmen, wie das die Strafanzeige suggeriert.

Die 34 Seiten enthalten einerseits eine detaillierte Beschreibung dubioser Vorgänge an der Börse: Mehrere Händler haben kurz vor Erscheinen des FT-Artikels am 30. Januar 2019 auf sinkende Kurse gewettet und dadurch Hunderttausende Euro verdient. Die Bafin vermutet deswegen, dass es eine Absprache zwischen Börsenhändlern und den beteiligten Journalisten gegeben haben könnte.

Andererseits offenbart die Strafanzeige, dass die Indizien gegen McCrum und Palma dünn sind. An manchen Stellen wirken die Mutmaßungen der Bafin geradezu lebensfremd, zeigen jedenfalls nur eine geringe Kenntnis darüber, wie Medien arbeiten. Kenner der Bafin sagen, diese habe keineswegs einen Angriff auf die Pressefreiheit beabsichtigt. Faktisch aber beschuldigt der Staat in Gestalt der Bafin Journalisten, über die bislang nur feststeht, dass sie zwar zugespitzt, in der Sache aber weitgehend akkurat über den Fall Wirecard berichtet haben. Legte man den Maßstab der Bafin in dieser Sache auf andere Fälle an, dann dürfte die Börsenaufsicht immer wieder Journalisten anzeigen.

Wirecard und die Financial Times liegen nicht erst seit Januar im Streit. Seit Jahren geht besonders der Reporter McCrum der Frage nach, ob Wirecard Probleme mit seiner Buchführung hat. McCrums Berichte wecken Zweifel an der Substanz des Aschheimer Dax-Konzerns, und der Journalist kann seine Zweifel durchaus begründen: Sein Artikel vom 30. Januar etwa stützt sich auf den vorläufigen Bericht einer Singapurer Kanzlei, die Wirecard selbst mit der Aufklärung dubioser Vorgänge im Asiengeschäft beauftragt hatte. Aus der Sicht Wirecards hingegen ist die Berichterstattung McCrums tendenziös und irreführend. Der Konzern verweist darauf, dass der Bericht der Singapurer Kanzlei nicht abschließend gewesen sei und dass interne Unterlagen Wirecards in der FT verkürzt wiedergegeben worden seien. Wirecard hat deswegen vor dem Landgericht Müncheneine Zivilklage auf Schadenersatz gegen die FT und McCrum erhoben. In dieser Klage heißt es, die FT habe sich mit Spekulanten verbündet. Die FT streitet alle Vorwürfe ab.

Die Strafanzeige der Bafin enthält Vermutungen in dieser Richtung, aber eben nur Vermutungen. Die Börsenaufseher haben eine Reihe von Spekulationsgeschäften mit der Wirecard-Aktie aufgelistet; auffällig sind diese vor allem am 30. Januar, dem Tag, an dem der erste von mehreren Enthüllungs-Artikeln in der FT erschien. So baute ein Händler zum Beispiel am 30. Januar um 12.55 Uhr Shortpositionen in Wirecard-Aktien auf, er setzte also auf einen fallenden Kurs. Gut zwei Stunden später, nachdem der - für Wirecard sehr negative - Artikel in der FT erschienen und der Aktienkurs gefallen war, schloss der Händler seine Position wieder und strich einen Gewinn von gut 366 000 Euro ein. Ein anderer Händler machte auf ähnliche Weise gut 271 000 Euro Gewinn. Ein dritter Händler, der seine Positionen erst Mitte Februar wieder schloss, verdiente an seinen Aktiengeschäften gut 165 000 Pfund.

Aus Sicht der Bafin weckt dies den Verdacht, dass mehrere Händler vorab über die bevorstehende Berichterstattung der FT informiert waren. Die Bafin erklärt dazu auf [Medium]-Anfrage, das Zusammenspiel von bestimmten Abläufen an der Börse und von negativen Presseberichten sei "außergewöhnlich" gewesen.

Die Strafanzeige enthält aber keinerlei Hinweis darauf, dass der FT-Reporter McCrum vor Erscheinen des Beitrags Informationen an Spekulanten durchgestochen hätte. Es gibt noch nicht einmal eine Hypothese, wie und über wen Erkenntnisse der FT vorab an Geschäftemacher lanciert worden sein könnten. Klar ist indes, dass McCrum am frühen Morgen des 30. Januar 2019 Wirecard auf die bevorstehende Berichterstattung hinwies und um eine Stellungnahme bat. Wirecard schaltete daraufhin eine Londoner Anwaltskanzlei ein, während bei der FT die Vorbereitungen für eine Veröffentlichung liefen. Am Vormittag wussten also auch etliche Personen außerhalb der Financial Times von dem bevorstehenden Artikel. Ein Leck könnte es folglich an mehreren Stellen gegeben haben.

Mangels besserer Informationen stützt die Bafin ihre Strafanzeige denn auch auf eher seltsame Argumente. So macht sie McCrum einen Vorwurf daraus, dass er seine Berichte über mehrere Tage getreckt habe, nämlich den 30. Januar, den 1. und den 7. Februar. Dies sei ein Anhaltspunkt dafür, dass McCrum über einen längeren Zeitraum eine möglichst große Wirkung auf den Aktienkurs von Wirecard habe entfalten wollen. Und dass er damit die Chancen der Spekulanten auf profitable Geschäfte habe erhöhen wollen. Für diese These gibt es keinen Beweis. Es ist Spekulation und verkennt, wie Zeitungen auf der ganzen Welt arbeiten - so ist es durchaus üblich, bei großen Enthüllungen über Tage oder gar Wochen hintereinander zu berichten.

Die Auseinandersetzung zwischen Wirecard und der Financial Times ist so verworren, dass sie selbst die im Wirtschaftsstrafrecht sehr erfahrene Staatsanwaltschaft München an deren Grenzen bringt. "Ich habe meist ein Grundgefühl für einen Fall, aber das fehlt mir hier völlig", sagt Oberstaatsanwältin Hildegard Bäumler-Hösl. "Es ist schwer zu sagen, wohin es geht." Die Bafin scheint sich hingegen sehr früh darauf festgelegt zu haben, dass das Übel im Fall Wirecard von der Presse ausgeht.

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Einschub:

Es gibt viele Vermutungen,
aber keine wirklichen Beweise

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Bildunterschrift:

Hier sitzt eine der wichtigsten Partnerfirmen von Wirecard: die Business Central Towers in Dubai.


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Artikel 2 vom 5.12.2019

Größtmögliche Verwirrung

Haben Mitarbeiter von Wirecard Kundenbeziehungen erfunden? Auf keinen Fall, betont der Konzern. Aber manch ein Vorgang wirft mehr Fragen auf, als es Erklärungen gibt

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Bevor die Firma mit dem Löwen im Logo einem breiteren Publikum bekannt wurde, hörte sie offiziell auf zu existieren. Banc de Binary, so hieß ein israelischer Online-Anbieter mit Sitz auf Zypern, der seinen Kunden das schnelle Geld in Aussicht stellte. Im Angebot waren sehr spezielle Finanzgeschäfte, sogenannte binäre Optionen: äußerst riskante Wetten auf die Preise von Aktien, Währungen oder Rohstoffen wie Gold. Banc de Binary wollte daraus ein Massengeschäft machen, hatte eine Zulassung der zypriotischen Finanzaufsicht und zwischenzeitlich genügend Geld, um in Großbritannien den Erstligisten Liverpool zu sponsern.

Auf den ersten Blick war das alles legal, bekam aber einen unseriösen Anstrich, als die Börsenaufseher in den USA einschritten. Die New Yorker Behörden verboten der Firma schon 2013, neue US-Kunden anzunehmen. Ein paar Jahre später war dann ganz Schluss. Nachdem mehrere europäische Aufsichtsbehörden die Gefahr für Anleger erkannt hatten und binäre Optionen verboten, gab Banc de Binary im Januar 2017 seine Lizenz zurück und stellte im darauffolgenden März sein Geschäft ein.

In den Büchern von Wirecard existierte Banc de Binary aber offenbar weiter. Aus internen Dokumenten der Finanzbuchhaltung von Wirecard geht hervor, dass der Online-Anbieter im gesamten Jahr 2017 weiter Umsatz erwirtschaftet haben soll, mit Transaktionen im Millionenbereich. Die Dateien gehören zu einer Reihe verdächtiger Excel-Tabellen, die sich Mitarbeiter in der Rechnungslegung von Wirecard im April 2018 per E-Mail zuschickten. Zu einer Zeit also, in der die Wirtschaftsprüfer gerade die Bilanz untersuchten. Die Financial Times (FT) hatte einen Teil dieser Dateien im Oktober ausgewertet.

"Die von der FT veröffentlichten Informationen sind nicht authentisch", erklärt Wirecard auf Anfrage von [Medium]. Was der Konzern damit offenbar sagen will: Die internen Unterlagen, auf die sich die FT beruft und die auch [Medium] vorliegen, sollen zumindest teilweise verändert oder gar manipuliert worden sein. Die Firmen-Unterlagen sind Teil eines Datensatzes aus deren Asien-Zentrale in Singapur. Dort war es bei Wirecard zeitweise drunter und drüber gegangen. Unregelmäßigkeiten, Missstände, Zerwürfnisse. Falls Dateien manipuliert worden wären, dann wahrscheinlich dort. Dann aber hätte Wirecard solche Manipulationen bei den Aufräumarbeiten in Asien möglicherweise längst entdecken können.

Man kann sich Wirecard vorstellen als Zwischenstelle zwischen Käufern und Online-Shops, zwischen Kreditkarteninhabern, Banken und Händlern - oder eben zwischen Anbietern binärer Optionen und ihren Kunden. Wie ein Verteilerkreis. Aber Wirecard tritt nicht immer selbst als Zwischenhändler auf, wenn es um Geldtransfers geht. Der Konzern vertraut nach eigenen Angaben auf mehr als 100 Partnerfirmen, die in seinem Auftrag Zahlungen abwickeln - etwa in Ländern, in denen Wirecard keine eigene Lizenz hat. In den Jahren 2016 und 2017 stammte internen Unterlagen zufolge mehr als die Hälfte des Konzernumsatzes von Wirecard und fast der gesamte Gewinn aus dem Geschäft mit nur dreien dieser Partner.

Der größte und wichtigste davon: Al Alam Solutions aus Dubai. Den Daten aus Singapur zufolge hat das über Al Alam abgewickelte Geschäft im Jahr 2016 mehr als die Hälfte des Konzerngewinns ausgemacht. "Solche Partnerunternehmen erbringen im Backend eine Connectivity Leistung - der durch einen Partner erzielte Umsatz ist null", erklärt Wirecard dazu. Was damit gemeint sein soll, ist schwer nachvollziehbar. Es entsteht der Eindruck, dass es sich um eine ziemlich undurchschaubare Branche handelt.

Al Alam Solutions, 2011 gegründet, veröffentlicht keinen von Wirtschaftsprüfern testierten Jahresabschluss. Das Karriereportal Linkedin listet nur vier Mitarbeiter auf. Aktuelle Stellenausschreibungen beschränken sich auf Büroassistenzen, Hilfstätigkeiten im IT-Support und auf den Sicherheitsdienst. Auf der Webseite sind keine verantwortlichen Manager benannt. Und die über diese Firma angebundenen Kunden sollen bis vor wenigen Jahren Hunderte Millionen Euro Umsatz zum Geschäft von Wirecard beigesteuert haben?

In den internen Finanztabellen sind 34 Kunden aufgelistet, zu denen die Wirecard-Buchhalter Umsätze über Al Alam verzeichnen. Mal handelt es sich wie im Fall von Etisalat aus Abu Dhabi um eine staatliche Telefongesellschaft, mal mit der Firma Mobilmat um einen früheren Anbieter von Prepaid-Karten aus Italien. Bei den genannten 34 Unternehmen handle es sich um "Bezeichnungen für Kundencluster, die für Reporting- und Abstimmungszwecke erstellt wurden und jeweils Hunderte von echten Einzelhändlern enthalten", hatte der Konzern dazu erklärt. Auf Nachfrage heißt es nun: Die Kernaussage, es seien 34 Händler abgewickelt worden, sei falsch. In Wirklichkeit seien es mehr als 1000 vor allem kleinere Kunden gewesen. Auch sei falsch, dass Umsätze mit Händlern abgewickelt worden seien, die nicht mehr existiert hätten.

Also auch nicht von Banc de Binary. In einer der Dateien ist für diesen Unternehmensnamen allerdings noch im Dezember 2017 ein Transaktionsvolumen von mehr als 3,7 Millionen Euro aufgeführt, und in den Monaten zuvor jeweils in sehr ähnlicher Höhe. Damals hat Banc de Binary offiziell gar kein Geschäft mehr gemacht und soll auch anders als früher nicht mehr Kunde von Wirecard gewesen sein. Aber im Nachhinein sollen Buchhalter von Wirecard den Namen dieses dubiosen Online-Brokers genutzt haben, um eine Gruppe von Hunderten "echten Einzelhändlern" zu bezeichnen, die über den Partner Al Alam angebunden sind? Das ist nur eine von einer Reihe konkreter Fragen, auf die Wirecard nicht so konkret antwortet.

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Einschub:

Es entsteht der Eindruck, dass
es sich hier um eine ziemlich
undurchsichtige Branche handelt


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Artikel 3 vom 19.12.2019

Unter Wölfen

Seit einem Jahr steht Wirecard massiv unter Druck. In London haben sich Spekulanten gegen den Dax-Konzern verschworen. Aber auch die Firma verhält sich dubios

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Am 21. Februar 2019 fährt Jan Marsalek in die Schleißheimer Straße im Norden Münchens. Dort, über einem Rewe-Markt, haben die Wirtschaftsermittler der Staatsanwaltschaft ihre Büros. Sie haben Marsalek als Zeugen geladen.

Marsalek ist erfolgsverwöhnt. Noch keine 40 Jahre alt, gehört er seit einem Jahrzehnt zum Vorstand von Wirecard, einem Dax-Konzern, der spezialisiert ist auf Bezahl-Apps, Bank- und Kreditkarten. Zahlen ohne Bargeld: ein Zukunftsgeschäft. Marsalek hat den Konzern mitaufgebaut, der heute mehr wert ist als die Deutsche Bank. Aber in diesem Februar ist die Stimmung eisig. Die Schlagzeilen: heftig. Der Aktienkurs: unten. Die Spekulanten: wetten auf fallende Kurse. Nun wollen die Staatsanwälte von Marsalek hören, was er weiß über den Wintersturm an der Börse.

Marsalek trägt die Haare kurz geschoren, dazu meist eng geschnittene, dunkelblaue Anzüge. Er ist höflich, zurückhaltend und etwas glatt, es bleiben bei ihm kaum Auffälligkeiten in Erinnerung, außer dass er mit österreichischem Dialekt spricht. Öffentlich tritt er selten auf, er wirkt so, als wolle er unsichtbar bleiben.

Eigentlich sei er für den Vertrieb zuständig, erzählt er den Ermittlern, aber seit einiger Zeit auch für "Feindaufklärung" - Zuträger erzählten ihm, was im Londoner Milieu der Spekulanten passiere. Offensichtlich sieht Marsalek seine Firma von Feinden umzingelt - und versucht, diese abzuwehren, indem er sich wie ein Geheimdienstler benimmt.

Seit bald einem Jahr beschäftigen die Kontroversen um Wirecard Anleger, Journalisten und Ermittler. Die Urteile gehen so weit auseinander wie in Glaubensfragen. Wirecard sieht sich als Opfer eines angeblichen Komplotts zwischen der Zeitung Financial Times, die kritisch berichtet, und den Londoner Spekulanten, die auf sinkende Aktienkurse wetten. Die Financial Times dagegen erweckt den Eindruck, Wirecard sei nicht zu trauen, und erklärt den Komplottvorwurf aus Deutschland zu einem Ablenkungsmanöver.

Recherchen von [Medium] zeigen ein beunruhigendes Sittengemälde: In London treibt eine Szene skrupelloser Informationshändler ihr Unwesen, in der jeder versucht, echtes oder vermeintliches Wissen für den nächsten Millionencoup zu nutzen. Diese Szene setzt immer wieder auf einen Kursverfall der Wirecard-Aktie. Das liegt auch daran, dass Wirecards Geschäftsmodell so undurchsichtig wirkt: keine Fabriken, keine Roboter, keine Lager, stattdessen verdeckte Geldströme über den ganzen Erdball. Was wenig greifbar ist, eignet sich eben für Kursschwankungen und damit für Spekulationen. Dass jemand bei der Financial Times den Spekulanten Informationen zusteckt, ist möglich, aber keineswegs bewiesen. Dass Wirecard mithilfe dubioser Zuträger "Feindaufklärung" im Londoner Milieu betreibt, wirkt zuweilen anrüchig, so, als spiele ein Dax-Konzern amateurhaft Privatdetektiv.

Die Konfrontation zwischen Wirecard und seinen Gegnern beginnt im Jahr 2016. Damals schreiben Londoner Börsenanalysten den sogenannten Zatarra-Report, einen blanken Verriss Wirecards. Dan McCrum, ein Journalist der Financial Times, verweist bei Twitter auf diesen Report, verleiht ihm Bedeutung. Der Kurs der Wirecard-Aktie fällt, woran einige Investoren gut verdienen, weil sie auf sinkende Kurse gewettet haben. Bei Wirecard hegt man den Verdacht, es gebe eine Verschwörung zwischen Berichterstattern und Börsenzockern. Das ist nicht abwegig: Die Staatsanwaltschaft München wirft einem Zatarra-Autor vor, sein Papier habe gezielt den Aktienkurs manipulieren sollen. In London scheint also etwas faul zu sein.

Als Wirecard-Vorstand Marsalek bei der Staatsanwaltschaft sitzt, erzählt er, dass der Zatarra-Bericht etwas verändert habe. Seither höre er in die Londoner Spekulantenszene hinein; er kenne Leute, die im Zatarra-Umfeld vernetzt seien. Wirecard hat eingeräumt, damals sogar eine "externe Forensik-Beratung" beauftragt zu haben, um den Fall auszuleuchten. Ein Dokument, das die Financial Times veröffentlicht hat, legt nahe: Eine Privatdetektei spielte damals mit dem Gedanken, Mobilfunkdaten abzufangen und Hacker einzusetzen, ein Journalist wurde als Ziel genannt. Wirecard erklärt, es habe niemanden beschatten lassen.

Eine Firma, die dementieren muss, ihre Widersacher auszuforschen, ist in einer misslichen Lage. Auch deswegen raten besonnene Sicherheitsexperten Konzernen davon ab, Privatdetekteien zu beauftragen: Es sei zu riskant, dass dabei etwas Illegales geschehe. Im Umfeld von Wirecard aber behauptet man, Marsalek habe keine andere Wahl, als Informationen einzuholen. "Wir reden hier über eine kriminelle Vereinigung, über ein Wolfsrudel", sagt jemand, der dem Konzern nahesteht. Der Vorstand müsse alles tun, um jene zu erwischen, die der Firma und deren Aktionären schadeten. "Diejenigen, die mit den Geldsäcken davonlaufen, werden in der Regel nicht erwischt." Zumal vieles im Ausland geschehe und der Staat überfordert sei.

Die Wirren des Jahres 2016 sind nur der Prolog für das, was drei Jahre später folgt. Am 30. Januar 2019 berichtet Dan McCrum, der Reporter der Financial Times, dass Wirecard ein schlimmes Problem in Asien habe. In der Singapurer Niederlassung soll ein hochrangiger Manager Zahlen geschönt haben; eine externe Kanzlei vermutet sogar, er habe Straftaten begangen. Wirecard ist böse? Die Börse reagiert heftig: Der Aktienkurs stürzt von 160 Euro auf zeitweise nur noch 99 Euro.

Es könnte eine schlichte Erklärung geben: Der Markt traut Wirecard einfach nicht. Der von Vorstandschef Markus Braun und dessen Ziehsohn Marsalek technokratisch und autoritär geführte Konzern war nie gut darin, seine verschachtelte Firmenstruktur zu erläutern. Statt Fehler bei sich selbst zu suchen, sieht man sich in der verschwiegenen Zentrale in Aschheim bei München offenbar auch diesmal darin bestätigt, Opfer eines Komplotts von Journalisten und Spekulanten zu sein. Aschheimer Wagenburgmentalität.

Marsalek glaubt, wieder ermitteln zu müssen, die Feindaufklärung beginnt. Schon bald taucht Zuträger Nummer eins auf, der behauptet, er habe schon am Vormittag des 30. Januar Gerüchte über einen bevorstehenden Enthüllungsartikel der FT gehört - als der Artikel also noch gar nicht erschienen war. Wirecard zieht daraus den Schluss, dass jemand bei der FT Spekulanten vorab eingeweiht habe. Dieser Einschätzung schließt sich später auch die deutsche Börsenaufsicht an. Aber stimmt diese Geschichte? Der damalige Informant Wirecards ist ein Mann, der sich zuvor in Drogengeschäfte verstrickt hatte und deswegen auch zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. Das spricht nicht für die Glaubwürdigkeit des Ex-Häftlings. Andererseits: Wer in diesem Milieu ist überhaupt glaubwürdig?

Bei Marsalek hat sich in der Zwischenzeit Zuträger Nummer zwei gemeldet. Wieder jemand aus London. Der Mann ist Chef einer Finanzfirma und rast in seiner Freizeit mit einem teuren Sportwagen über Rennstrecken, er spricht Marsalek mit "mate" an, Kumpel, und behauptet, alles sei noch viel schlimmer als erwartet: Jetzt wolle auch die amerikanische Nachrichtenagentur Bloomberg Wirecard in Grund und Boden schreiben. Er, der Rennfahrer, könne Bloomberg davon abhalten - wenn Wirecard ihm gut zwei Millionen Pfund zahle.

Marsalek vermutet einen Erpressungsversuch, er meldet die Sache der Staatsanwaltschaft. Die Ermittler schalten die Börsenaufsicht ein, diese verhängt auch deshalb ein Spekulationsverbot für Wirecard-Aktien, was den Kurs stabilisiert.

Marsalek bleibt mit dem Rennfahrer in Kontakt, weil er Einblick in die Szene behalten will. Sie schreiben sich beinahe täglich. "Bitte lass uns loslegen. Wir werden eine Katastrophe erleben, wenn wir das nicht machen. ... Komm schon, Kumpel", fleht der Mann aus London Marsalek an. Dieser hält ihn mit höflichen Floskeln hin. "Es tut mir leid, ich hatte den ganzen Tag Besprechungen", schreibt er. Aber der Rennfahrer gibt sich zu "zwei Millionen Prozent" sicher, dass er helfen könne. Er behauptet, er könne einen [Medium]-Reporter feuern lassen, der zu Wirecard recherchiert. Das ist abwegig. Auch die US-Agentur Bloomberg erklärt, das Gerede des Briten sei "lachhaft, wenn es nicht so beleidigend wäre".

Der Rennfahrer mag nur ein Aufschneider gewesen sein. Aber sein Geschwätz hat ein Spekulationsverbot an der Börse mitausgelöst. Man kann dies so auslegen, dass der Staat auf einen fragwürdigen Informanten von Wirecard hereingefallen ist.

Im Frühjahr untersucht die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin), was Ende Januar genau an der Börse passiert ist, und stößt auf ein verdächtiges Muster: Am späten Vormittag des 30. Januar haben mehrere Anleger auf einen sinkenden Kurs der Wirecard-Aktie gesetzt. Wenige Stunden später erschien McCrums Enthüllungsartikel über Wirecards Probleme in Singapur. Der Kurs fiel. Spekulanten verdienten Hunderttausende Euro. Die Bafin hat deswegen Strafanzeige gegen mehrere Spekulanten und den Reporter McCrum gestellt. Ist der Journalist und Zahlenmensch McCrum tatsächlich Zuträger eines Wolfsrudels?

Wer den akribischen und freundlichen Finanzexperten McCrum kennenlernt, kann sich das nur schwer vorstellen. Bislang jedenfalls haben weder die Bafin noch Wirecard bewiesen, dass McCrum selbst Informationen durchgestochen hat. Die Abläufe lassen vielmehr die Möglichkeit offen, dass die Spekulanten auch andere Quellen angezapft haben könnten als ihn. Zum Beispiel hat McCrum seinen bevorstehenden Artikel am frühen Morgen des 30. Januar in einer E-Mail an Wirecard angekündigt und dem Konzern bis zum Nachmittag Zeit gegeben für eine Stellungnahme. Das ist journalistisch sauber, ja notwendig. Wirecard schaltete daraufhin britische Anwälte ein. In Aschheim und London wussten damit etliche Personen von dem geplanten Artikel. Die FT erklärt, sie habe die Vorwürfe gegen McCrum untersuchen lassen und kein Fehlverhalten entdeckt. Eine Erklärung für das mutmaßliche Leck hat sie allerdings auch nicht.

Konkretere Hinweise auf ein Fehlverhalten liegen Anfang 2019 vor allem gegen Wirecard selbst vor. Der Konzern muss einräumen, dass es in Asien einige, wenn auch kleinere Fehlbuchungen gegeben habe und sich örtliche Mitarbeiter womöglich strafbar gemacht hätten. Ermittler der Singapurer Finanzpolizei haben etliche Kisten Material mitgenommen, die Untersuchungen dauern an. Damit steht fest, dass McCrums Enthüllungsartikel vom 30. Januar keineswegs abwegig war.

Es bedeutet auch, dass Wirecard im Frühjahr 2019 frische Munition brauchen könnte, um die Vorwürfe gegen die Zeitung zu stützen. Mitte Juli scheint dann plötzlich der schlagende Beweis aufzutauchen: eine Tonaufnahme. Man hört zwei Londoner Investoren, sie brüsten sich damit, dass sie mit Wetten auf einen Kurssturz der Wirecard-Aktie schon öfter viel Geld verdient hätten. Jetzt hätten sie von einem baldigen Artikel der Financial Times erfahren, der den Kurs abermals nach unten treiben werde. Das wäre genau das Szenario, das Wirecard stets vermutet hat: Die FT informiert Spekulanten vorab.

Der Wortführer unter den beiden Spekulanten spricht mit Zigarrentimbre und dem Selbstbewusstsein eines Mannes, in dessen Einfahrt ein Rolls-Royce Dawn Cabrio für mindestens 300 000 Pfund steht. Herr G. trägt die obersten drei Hemdknöpfe offen; für Ausflüge, so zeigt es der Instagram-Account seiner Frau, wählen die G.s mal Hubschrauber, mal Privatjet.

In G.s backsteinernem Privathaus im teuren Primrose Hill im Nordwesten Londons öffnet eine Nanny einem [Medium]-Reporter die Tür. Der Hausherr? Nicht da. Wann kommt er wieder? Keine Antwort. Der Reporter lässt einen Brief da, mit der Bitte um ein Gespräch. Keine Reaktion.

Mit welchen Geschäften G. seinen Lebensstil finanziert, haben die deutschen Börsenaufseher der Bafin festgehalten: Im Februar wettete er demnach gut sechs Millionen Euro darauf, dass der Kurs Wirecards fallen würde - binnen weniger Tage hatte er damit knapp 900 000 Euro verdient. Die Bafin fand das verdächtig, weil G. auf einen sinkenden Kurs wettete, obwohl sich die Aktie gerade erholte. Wusste der Spekulant davon, dass schon der nächste kritische Artikel der Financial Times bevorstand? Verdächtig ist G. laut Bafin auch deswegen, weil er schon von dem umstrittenen Zatarra-Bericht im Jahr 2016 profitiert haben soll.

Im Juli 2019 geben sich G. und dessen Geschäftspartner deshalb etwas vorsichtiger: Diesmal wollen sie nicht selbst wetten, sondern einen Helfer vorschieben, sozusagen als Strohmann. Sie empfangen einen möglichen Kandidaten für diese Aufgabe und erzählen ihm laut Audiomitschnitt, es sei morgen, spätestens übermorgen mit einem neuen Artikel der Financial Times über Wirecard zu rechnen. Man müsse jetzt schnell sein, die Sache sei sicher. Im Erfolgsfall würde man den Gewinn teilen. Halb-halb.

Der Gast, der an dieser Kurswette teilnehmen soll, fragt nach, was denn in dem nahenden FT-Artikel stehe. G. antwortet, es gebe neues Material, interne Dokumente. Es sei "tausendmal stärker" als alles Bisherige. Seine Leute hätten Wirecard untersucht, die Zahlen ergäben keinen Sinn, es sei eine Firma ohne Substanz. Jetzt gebe es neue Belege dafür. Es sei der Sargnagel für Wirecard.

Das Problem für die beiden Spekulanten: Der Gast ist ein Privatdetektiv, der das Gespräch heimlich mitschneidet. Die Aufnahme wäre vor einem deutschen Gericht verwertbar, der Privatdetektiv steht als Zeuge bereit, um die beiden Londoner zu belasten. Das Material würde Wirecard im Streit mit der FT sehr helfen, in der Öffentlichkeit und vor Gericht. Ein Geschenk.

Aber woher kommt dieses Geschenk?

Der Auftraggeber, der den Privatdetektiv losgeschickt und bezahlt hat, ist angeblich ein Mann aus Libyen. Nach dem Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi soll er eine Zeit lang den Auslandsgeheimdienst der Übergangsregierung geleitet haben. Er gilt als freundlich und gebildet, sein Englisch soll sehr gut sein. Im Umfeld von Wirecard heißt es, er sei vermögend und ärgere sich über das Treiben der Londoner Spekulanten. Deswegen habe er den Privatdetektiv losgeschickt und die beiden Londoner Investoren in eine Falle gelockt.

Die Tonaufnahme ist dann auffällig schnell zu Wirecard gelangt. Am 17. Juli belauschte der Privatdetektiv die Spekulanten, unmittelbar danach soll die Aufnahme anonym dem deutschen Konzern zugespielt worden sein. Bereits einen Tag später schrieben Wirecards Anwälte an die Financial Times, diese sei nun offenbar der Kooperation mit Zockern überführt. Dieser Ablauf weckt den Verdacht, dass Wirecard in die ganze Aktion von vornherein eingeweiht war, ja, sie vielleicht sogar angeordnet hat. Wirecard bestreitet das.

Die Financial Times ließ den Vorwurf, sie kooperiere mit Spekulanten, durch eine externe Kanzlei untersuchen. Dabei wurde der Zeitung zufolge kein Fehlverhalten festgestellt. Auch in diesem Fall hatte der Reporter McCrum im Zuge seiner Recherchen wieder detaillierte Anfragen an Wirecard geschickt, wieder schaltete der Konzern Rechtsanwälte ein. Damit wusste ein größerer Kreis von Personen sowohl bei der Financial Times als auch bei Wirecard von dem geplanten Artikel. Wo also genau das Leck war, bleibt unklar.

Marsalek traf sich nach [Medium]-Informationen mit dem Libyer, um sich ein Bild von dem Mann zu machen, dem die Londoner Tonaufnahme zu verdanken war. Schließlich legt die Aufzeichnung nahe, dass Spekulanten so dreist sind, dass ein Wolfsrudel im Vergleich wie eine ehrenwerte Gesellschaft anmutet.

Fragt man allerdings bei Wirecard nach, was es mit dem Mann aus Libyen auf sich habe, wehrt sich der Konzern gegen den Eindruck, auch nur das Geringste mit dem früheren Agenten zu tun haben. "Wir haben keinerlei geschäftliche noch sonst wie geartete Beziehung" zu dem Mann, beteuert eine Sprecherin. Offensichtlich nimmt der Konzern gerne die Rechercheergebnisse des Mannes aus Libyen an, geht gleichzeitig aber auf größtmögliche Distanz. Das ist nachvollziehbar: In der vergangenen Woche hat die Financial Times berichtet, dass der geheimnisvolle Mann aus Libyen noch etliche andere Ermittlungen am Laufen habe. So habe er zwei britische Detekteien damit beauftragt, Investoren und Hedgefonds-Manager auszuforschen. Ein Ex-Geheimdienstler aus einem Bürgerkriegsland, der mit großem Aufwand Geschäftsleute in einem demokratischen Land ausforscht - Wirecard scheint zu ahnen, dass es wegen des Mannes aus Libyen noch ein Imageproblem bekommen könnte. Nicht zuletzt wegen dieses Verdachts: Handelt der Libyer vielleicht gar nicht auf eigene Rechnung? Ist er vielleicht ein Strohmann für Wirecard und Wirecard selbst gar nicht so unbeteiligt, wie es tut? Der Konzern betont, er habe weder direkt noch indirekt den Mann aus Libyen oder die Detekteien beauftragt.

Aber es bleibt die Frage, ob sich der Wirecard-Vorstand so sehr in die Gefahrenabwehr verstrickt hat, dass er sich dabei an den Rand des Anrüchigen begibt. Als Marsalek im Februar bei der Staatsanwaltschaft aussagte, erzählte er davon, dass einer seiner Mitarbeiter in den Verdacht geraten sei, Zuträger eines Spekulanten zu sein. Beleg dafür sei eine Flugbuchung. Marsalek sagte, er wisse das von einem Bekannten, der für einen "ausländischen Staat" arbeite. Es klingt sehr dubios, so als setze Marsalek auf Geheimdienstler, um seine Mitarbeiter auszuspionieren. Aber Marsalek sagte das anscheinend ganz unbefangen, als sei gar nichts dabei. Er fügte nur hinzu, seine Quelle sei immer äußert zuverlässig gewesen.

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Einschübe:

Als der Zeitungsbericht erscheint,
stürzt Wirecard an der Börse ab.
Einige verdienen damit prächtig

Plötzlich taucht dieses Tonband
auf. Ist es wirklich der Beweis, den
Wirecard so dringend braucht?

Warum kommt ein früherer
Geheimdienstler aus Libyen
Wirecard zu Hilfe?

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Bildunterschriften:

Gegenspieler: Jan Marsalek (oben) ist im Vorstand von Wirecard. Der
Konzern fühlt sich zu Unrecht angegriffen von Dan McCrum (unten), einem Reporter der Financial Times, der kritisch über den Dax-Konzern schreibt. Die Berichte der FT sorgen an der Börse immer wieder für Turbulenzen.


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Artikel 4 vom 26.6.2020

Das Kartenhaus

Wirecard hat eine sagenhafte Erfolgsgeschichte erzählt – und viele wollten sie glauben. Über Aufstieg und Fall einer Skandalfirma

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Pünktlich um 19.30 Uhr trifft der frühere Konzernchef Markus Braun am Montag dieser Woche in den Büros der Staatsanwaltschaft München ein, um sich verhaften zu lassen. Er geht den Flur entlang, vorbei an der Kaffeeküche, setzt sich im Besprechungszimmer an den großen Tisch. Er ist mit zwei Anwälten da, zwei Polizisten sind anwesend, ferner drei Staatsanwälte. Ein Moment wie dieser ist nie Routine, der Moment, in dem ein Mensch kurz davor ist, seine Freiheit zu verlieren. Als der Haftbefehl verlesen worden ist, stehen alle wieder auf, die Oberstaatsanwältin Hildegard Bäumler-Hösl begleitet Braun noch ins Polizeipräsidium, als wolle sie noch gute Nacht wünschen, bevor Braun seine Zelle betreten muss. Alles läuft ruhig und geordnet ab, was zum Anlass passt: Wenn ein Kartenhaus zusammenfällt, gibt es eben kaum Geräusche.

In der Nacht zuvor um 2.48 Uhr hat Brauns Firma, die Wirecard AG aus Aschheim bei München, erklärt, dass ihr angebliches Vermögen in Asien, knapp zwei Milliarden Euro Cash, wohl nie existiert habe und dass größere Teile von Umsatz und Gewinn womöglich ebenfalls erfunden worden seien. Braun hat Wirecard aus dem Nichts aufgebaut und vor zwei Jahren in den Dax geführt. An diesem Donnerstag hat das Unternehmen einen Insolvenzantrag angekündigt, was bei einem Dax-Konzern noch nie vorgekommen ist. Es ist eine furchtbare Blamage für den Wirtschaftsstandort. Verlierer sind vor allem Mitarbeiter und die vielen Kleinaktionäre, die auf Rendite gehofft hatten und deren Geld nun unwiederbringlich verloren ist. Fast 200 Euro war die Aktie 2018 mal wert, am Donnerstag stürzte sie auf unter drei Euro ab.

Während sich Braun nach seinem Rücktritt als Vorstandschef am Montag darauf gefasst macht, die Nacht in Polizeigewahrsam zu verbringen, ist sein engster Vertrauter, tja, wo eigentlich? Jan Marsalek, der andere Vorstand von Wirecard, der als rechte Hand Brauns galt, bis man ihn feuerte, ist offenbar unterwegs. Es heißt, er habe sich aus Manila gemeldet, der Hauptstadt der Philippinen, dort suche er nach den verschollenen Milliarden Wirecards.

Tatsächlich? Inmitten der Corona-Beschränkungen und der Kernschmelze seines Unternehmens fliegt Marsalek mal eben nach Manila, um Geld zu suchen, das es gar nicht gibt? Womöglich ist Marsalek auch einfach untergetaucht, um seiner Verhaftung zu entgehen. Dass man es nicht genau weiß, passt zu dieser Geschichte von Hybris und Trickserei. Schließlich wusste man als Beobachter von Wirecard nie so genau, was echt war und was falsch.

Markus Braun, der frühere Chef, galt als Visionär. Nun stellt sich heraus, dass seine Firma niemals in den Kreis der Dax-Konzerne hätte aufsteigen dürfen, weil Substanz und Seriosität fehlten. Trotzdem haben Tausende Anleger ihr Geld in Wirecard-Aktien investiert, trotzdem haben Rechnungsprüfer die Bilanzen gebilligt, trotzdem sind die Aufsichtsbehörden Vorwürfen nie richtig nachgegangen.

Der Wirecard-Skandal ist auch ein Deutschland-Skandal.

In der Wirtschaftsgeschichte ist das natürlich nicht der erste und auch nicht der größte Schwindel dieser Art. In den USA hat es den Fall des Energiekonzerns Enron gegeben, der alle in seinen Bann zog, bevor er implodierte. Oder Bernie Madoff, den Anlagebetrüger, der einen hohen Milliardenschaden anrichtete. Madoff stammte aus Manhattan, dem dunklen Herzen des Spekulantentums. Aber wie konnte es bei Wirecard aus Aschheim so weit kommen? Wie kreierte der Technik-Nerd Markus Braun die Illusion des deutschen "Financial-Technology"-Wunders, das als Start-up begann und bis in den Dax gelangte? Wie also schwindelt man eine Erfolgsgeschichte vor, die es wahrscheinlich gar nicht gibt?

Vielleicht beginnt jede Geschichte dieser Art nicht nur mit dem Schwindler selbst, sondern mit den Erwartungen und Hoffnungen der anderen. In Deutschland sehnte man sich spätestens nach dem VW-Skandal um manipulierte Dieselmotoren nach einer Zukunftsvision für die deutsche Wirtschaft. Die alten Größen im Dax wie die Deutsche Bank, VW oder Bayer enttäuschten oder schummelten, während die Weltmarke Germany im Zeitalter der Digitalisierung keine einzige neue, große Idee hervorgebracht hatte. Es herrschte die Sehnsucht nach einer frischen Erfolgsgeschichte für eine neue Zeit.

Markus Braun hat diese Sehnsucht bedient. Der Österreicher, 1969 in Wien geboren, hat erst als Unternehmensberater gearbeitet, so kam er vor gut 20 Jahren auch zur Vorgängerfirma von Wirecard, die Zahlungen für Porno- und Glücksspielseiten abwickelte. Nach Glamour klang das nicht, aber es steckte eben auch eine Zukunftsidee in dem schmuddeligen Start-up: Je mehr Menschen im Internet bestellen und bezahlen, desto größer wird die Firma.

Markus Braun gelingt es in den vergangenen Jahren mit der immergleichen Masche, die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Zum Beispiel im Oktober 2018: Wirecard hat in den 42. Stock eines Wolkenkratzers in der Londoner City geladen, die Londoner nennen ihn wegen seiner keilförmigen Gestalt "Käsereibe". Dort oben, vor raumhohen Fenstern und mit Blick auf die Tower Bridge, will man sich beim "Innovation Day" präsentieren, als Höhepunkt gilt Brauns "Strategic Outlook". Der Chef sagt, er sei schüchtern, wolle aber dennoch versuchen zu sprechen. Dann folgen Superlative. Bis 2025 wolle er zehn Milliarden Euro umsetzen, sagt Braun und fügt hinzu: "Diese sind absolut am unteren Rand." Schließlich sei Wirecard ja eines "der am schnellsten wachsenden Unternehmen im Bereich Payments weltweit".

So tritt Braun immer wieder auf, betont zurückhaltend. Aber dann sagt er, was alle hören wollen: Digitalisierung, Transformation, Disruption. Dazu sehr ehrgeizige Umsatzziele. Es ist simpel, und doch sind die Fans gebannt. Braun verkörpert etwas, das gerade in Deutschland gut ankommt: Ehrgeiz und Understatement, Zukunftsvision und vermeintliche Bodenhaftung.

Während Braun den Konzern nach außen vertritt, führt sein junger Adlatus Jan Marsalek das operative Geschäft. Marsalek ist heute 40 Jahre alt und schon seit einem Jahrzehnt im Vorstand. Er trägt das Haar kurz geschoren, dazu meist blaue Anzüge ohne Krawatte und auffällig große Uhren von Panerai. Mit Braun verbindet ihn, dass sie beide Österreicher sind, vor allem aber, dass Marsalek wie ein Ziehsohn des Konzernchefs wirkt.

Marsalek wirkt im Hintergrund, aber er scheint den Luxus zu lieben. Man erzählt sich, er gebe Champagner auf der Dachterrasse des Hotels Mandarin Oriental aus und sei oft im Businessjet unterwegs. Oft reist er nach Asien, es gilt als größter Wachstumsmarkt für Wirecard, weil dort so viele Menschen bargeldlos zahlen. Das Potenzial ist enorm. Und besonders wächst unter Marsaleks Verantwortung ein Netz von Partnerfirmen und Tochterfirmen, sie sich gegenseitig Geld überweisen und Rechnungen stellen. Mails aus den Singapurer Büros von Wirecard legen nahe, dass selbst die Mitarbeiter kaum noch durchblicken, von wo nach wo Geld gerade fließt, geschweige denn die Prüfer.

Des Öfteren ist die Stimmung sehr angespannt und gereizt, wenn die Kontrolleure von Ernst & Young (EY) im Frühjahr den Jahresabschluss überprüfen. "Wir erwarten von Ihnen, dass Sie uns diese (fehlenden Anhänge, d.Red.) in der folgenden Stunde schicken", schreibt EY etwa im April 2018 an zwei Verantwortliche. Interne Mails legen auch nahe, dass es schon damals dubiose Vorgänge gibt, die man den Prüfern nur schwer erklären kann. Es gebe ein hohes Risiko, schreibt ein Mitarbeiter von Wirecard an einen anderen, dass EY "die Story nicht akzeptiert".

Die Story. Ist ganz Wirecard eine erfundene "Story"? Und wie gelingt so etwas?

Die Antwort liegt womöglich in der Art und Weise, wie heute internationale Geschäfte strukturiert sind: Nicht nur in einer einzigen Firma, sondern in vielen Firmen weltweit. Jahrelang behauptet Wirecard, es sei auf Partnerfirmen angewiesen, die in ihren jeweiligen Ländern im Besitz einer Lizenz für Finanzgeschäfte seien. Doch erregen viele dieser Firmen seit Jahren Verdacht. Wer sie besucht, denkt an Briefkastenfirmen. Und doch soll dieses "Drittpartnergeschäft" einen Großteil von Umsatz und Gewinn Wirecards abwerfen, so stellt es der Konzern jahrelang dar. Bis er am Montag dieser Woche erklärt, frühere Angaben zu diesem zentralen Geschäftsbereich seien wohl "nicht korrekt". Die 1,9 Milliarden Euro, die dieses Geschäft abgeworfen haben soll, sind demnach wohl ebenfalls erfunden. Wie so oft also dürfte ein weltweit verzweigtes Firmennetz dazu gedient haben, etwas zu vertuschen - oder, in diesem Fall, etwas vorzugaukeln.

Allerdings schöpft ein Mann in England früh Verdacht. Er ist sympathisch und unauffällig, hat einst bei einer Bank Bilanzen ausgewertet. Später wechselte er als Reporter zur Zeitung Financial Times. Dan McCrum ist etwa so alt wie Wirecard-Vorstand Marsalek und entwickelt sich rasch zu dessen Gegenspieler. Schon 2015 veröffentlicht McCrum Artikel über das "Kartenhaus Wirecard". Im Gegenzug wirft Wirecard der FT vor, sie sei Komplizin von Spekulanten und wolle den Kurs der Wirecard-Aktie nach unten treiben.

Wer mutmaßlich ein Lügengebäude aufgebaut hat, muss es schützen, um jeden Preis. Die Wirecard AG geht also unerbittlich gegen jene vor, die ihre Erfolgsgeschichte infrage stellen. Mal verklagt sie die FT auf Schadenersatz, mal zerrt sie [Medium] vor Gericht. Wirecard will den Zweifel im Keim ersticken. Sollten Braun oder Marsalek je unsicher wirken, oder so, als habe man sie ertappt, würde die Illusion des Weltkonzerns Wirecard sofort in sich zusammenfallen.

Der Auslöser für den Zusammenbruch aber liegt dann an unerwarteter Stelle: bei Wirecard selbst. Im Büro Singapur erregt der örtliche Finanzchef Anfang 2018 Argwohn. Angeblich stiftet er Kollegen bei einer Präsentation dazu an, Geld illegal zwischen Firmen zu verschieben, um Finanzlöcher zu stopfen. Zwei Juristen des Unternehmens in Singapur schöpfen Verdacht, eine externe Kanzlei prüft die Vorwürfe und stützt sie, vermutet sogar, dass Straftaten im Raum stehen.

Doch schon bald dämmert den beiden Juristen, dass die Konzernspitze in Aschheim kein Interesse an harter Aufklärung hat. Eigentlich möchten die beiden Fachmänner gerne nach Deutschland reisen und mit dem Vorstand reden. Doch in Aschheim heißt es, das sei nicht nötig: Jan Marsalek, die rechte Hand von Konzernchef Braun, nehme die Sache in die Hand.

Für die beiden Juristen ist das niederschmetternd. Wie könne Marsalek aufklären, schreibt einer von ihnen in einer Mail an den Vorstand, wenn Marsalek wegen seiner Nähe zu dem verdächtigen Kollegen in Singapur doch selbst belastet sei?

Für ernsthafte Aufräumarbeiten in Singapur aber ist es da vermutlich schon zu spät. Womöglich sind Braun und Marsalek zu tief verstrickt, womöglich ist der Schwindel schon so groß, dass jede gründliche Untersuchung, jedes öffentliche Eingeständnis zur Implosion führen würde. Und so belehrt ein Verantwortlicher für Compliance in Aschheim einen der beiden Juristen in Singapur: "Als Compliance müssen wir Partner des Managements sein … Wir sind keine Staatsanwälte." Mit diesen Worten lässt sich die Kultur Wirecards vermutlich gut zusammenfassen.

Das Verhängnis nimmt trotz dieser Vertuschungsversuche seinen Lauf. Nach den beiden Juristen in Singapur übernimmt jetzt die Presse: Im Laufe des Jahres 2018 gelangen Informationen über die Missstände bei Wirecard Singapur an die Financial Times, Anfang 2019 berichtet der Reporter McCrum über die mutmaßlichen Bilanztricks. Der Aktienkurs bricht ein.

Bald erscheint der Vorstand Jan Marsalek bei der Staatsanwaltschaft München. Er erklärt sich zum Opfer dunkler Machenschaften, spricht nicht etwa über Ungereimtheiten in der Bilanz, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf einen anderen Schauplatz: Er habe das Gefühl, dass er erpresst werde. Ein Bekannter habe ihm angeboten, die negativen Berichte über Wirecard in der angelsächsischen Presse zu stoppen, wenn Wirecard gut zwei Millionen Pfund zahle. Marsalek erklärt das unanständige Angebot zum Teil mit einer größeren Verschwörung zwischen Presse und Spekulanten gegen sein Unternehmen.

Er nennt ein weiteres Beispiel. So habe er erfahren, erzählt Marsalek, dass einer der Wirecard-Juristen aus Singapur, der mögliche Bilanztricks angeprangert hatte, mit Londoner Spekulanten zu tun habe. Es gebe dafür einen Beleg: Der Jurist habe interne Unterlagen Wirecards wohl an die FT durchgestochen. Dafür sei er nach London geflogen; das Flugticket habe ein Londoner Spekulant gezahlt. Marsalek will den Kollegen aus Singapur offenbar diskreditieren. Aber woher will er wissen, wer dessen Flugticket bezahlt hat? Marsalek sagt, dies ergebe sich aus einem Zahlungsvorgang mit einer Kreditkarte. Er habe dafür eine gute Quelle: einen Bekannten, "der für einen ausländischen Staat arbeitet".

Offenbar nutzt Marsalek also Kontakte in Polizei- und Geheimdienstkreisen, um einen unbequemen Ex-Mitarbeiter auszuspionieren. Er sei für "Feindaufklärung" zuständig, sagt Marsalek bei der Staatsanwaltschaft. Er umgibt sich immer mal wieder mit dubiosen Zuträgern; Kontakt hat er etwa mit einem Ex-Geheimdienstler aus Libyen, der in Großbritannien Geschäftsleute ausforschen soll. Wirecard hat im Jahr 2019 auf [Medium]-Anfrage bestritten, Gegner durch den Libyer oder durch Detekteien beobachten zu lassen. Offensichtlich aber geht Wirecard mit aller Härte gegen jene vor, die das mutmaßliche Lügengebäude zum Einsturz bringen könnten, so verklagt das Unternehmen zum Beispiel die Financial Times auf Schadenersatz.

Das geht eine Zeit lang gut. Die deutschen Behörden gehen dem Verdacht nach, den Marsalek gestreut hat. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt gegen unbekannt wegen Verdachts der Marktmanipulation, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht verbietet gewisse Spekulationsgeschäfte mit der Wirecard-Aktie und stellt Strafanzeige gegen zwei Reporter der Financial Times und gegen Börsenspekulanten. Es stützt die Behauptung von Wirecard, das unschuldige Opfer von Spekulanten zu sein.

Herrscht beim Staat das Gefühl, aus Patriotismus das deutsche Unternehmen vor Angriffen aus dem Ausland schützen zu müssen? Die Münchner Oberstaatsanwältin Hildegard Bäumler-Hösl sagte einmal, dass es schlicht sehr schwierig sei, einen Durchblick zu bekommen. "Ich habe meist ein Grundgefühl für einen Fall, aber das fehlt mir hier völlig", sagte sie Ende 2019. "Es ist schwer zu sagen, wohin es geht."

Für den FT-Reporter Dan McCrum sind es zehrende Zeiten. Wegen der Vorwürfe von Wirecard, er sei ein Handlanger von Spekulanten, überprüft die FT ihren Reporter, externe Anwälte filzen sein Handy, durchforsten seine Mails. Die Zeitung will sich ganz sicher sein, dass er integer ist. Gleichzeitig fallen Wirecard-Fans bei Twitter über McCrum her.

Die Kettenreaktion aber ist da schon nicht mehr aufzuhalten. Durch die vielen Enthüllungen in der Presse ist Wirecard so unter Druck, dass es ein Sondergutachten bei KPMG in Auftrag gibt, um sich neue Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Die Wirtschaftsprüfer sollen bestätigen, dass alles in Ordnung sei. Der Plan misslingt, weil KPMG Anfang 2020 ein vernichtendes Gutachten schreibt: Wirecard habe viele Unterlagen erst spät oder gar nicht herausgegeben, Geldströme im Geschäft mit Drittpartnern seien nicht nachvollziehbar.

Gleichzeitig untersuchen die Bilanzprüfer von EY die Zahlen für 2019. Diesmal sehen sie genau hin. Von zwei Banken auf den Philippinen verlangen sie eine Bestätigung dafür, dass auf Wirecard-Konten

1,9 Milliarden Euro liegen. Es stellt sich heraus, dass es die Konten nach Angaben der Banken gar nicht - und wohl auch das vermeintliche Geld darauf - nie gegeben hat.

Nun müssen Braun und Marsalek die Frage beantworten, wann und warum der mutmaßliche Schwindel begann und wer dafür verantwortlich war. Braun hat angekündigt, dass er mit der Justiz kooperieren wolle. Die Haftrichterin in München scheint ihm so zu vertrauen, dass sie ihn gegen Zahlung einer Kaution von fünf Millionen Euro wieder freigelassen hat.

Der FT-Reporter Dan McCrum wirkt derweil wie jemand, von dem eine riesige Last abgefallen ist. Die Titelseite seiner Zeitung mit der Geschichte über die Verhaftung Brauns, schreibt McCrum bei Twitter, sei "etwas fürs Poesiealbum".

Marsalek soll derweil noch auf den Philippinen sein. Wenn er Glück hat, werden ihn die philippinischen Behörden nicht verhaften, die Gefängnisse dort gelten als Höllenlöcher. Ein Bekannter Marsaleks versichert, dass dieser am Wochenende nach München zurückkehren und sich der Staatsanwaltschaft stellen wolle. Aber wer will ihm jetzt noch etwas glauben?

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Einschübe:

Tausende Kleinanleger haben
viel Geld in Wirecard investiert.
Das ist jetzt weg

Mails legen nahe, dass selbst
die Mitarbeiter nicht wissen,
von wo nach wo das Geld fließt

Zwei Hausjuristen schöpfen
Verdacht, aber die Firmenspitze
hat kein Interesse an Aufklärung

Was macht die Finanzaufsicht?
Sie zeigt die Reporter an, die über
Unregelmäßigkeiten berichten

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Bildunterschriften:

Lange kam der Wirecard-Vorstand - hier die Schatten von Markus Braun
und Alexander von Knoop bei der Bilanzpressekonferenz 2019 - mit der Behauptung durch, die Firma sei Opfer einer Verschwörung.

Jan Marsalek, heißt es, sei in Manila und suche dort die 1,9 Milliarden.

Markus Braun ist auf Kaution frei. Die Höhe: fünf Millionen.


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Die obigen Artikel knüpfen an den folgenden Beitrag an, der bereits am 6. April 2019 erschien:


Der Phönix aus Aschheim

In einem Münchner Vorort gestartet, wird Wirecard mit seinem Internet-Bezahlgeschäft zum Börsenliebling. Doch dann stürzt die Aktie dramatisch ab. Ein Wirtschaftskrimi über Hybris und Spekulantentum im Online-Zeitalter

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Wenn in Asien Neujahr gefeiert wird, verdienen die Deutschen kräftig mit. Familien in Singapur, Taiwan oder Hongkong decken ihre Tische zum Neumond bis zum Überborden mit gedünstetem Fisch, Reiskuchen, Teigtaschen und Mandarinen. Früher musste dafür tagelang gekocht werden, heute bestellen immer mehr Familien das Festessen einfach per App. Sie lassen es von Restaurants ins Haus liefern und zahlen digital, per Kreditkarte. So erübrigt sich das Hantieren mit Töpfen und Pfannen – und das mit Scheinen und Münzen.

Zahlen ohne Geld, im Netz oder via Smartphone, das ist das Geschäft von Wirecard. Kreditkarten, Girokarten, Prepaidkarten, Bezahlapps wie Apple Pay oder Boon: Wo immer Geld fließt, ohne dass es jemand in die Hand nehmen muss, sieht der Konzern in Aschheim bei München sein potenzielles Geschäft. Wirecard liefert den Händlern die Bezahl-Software, sorgt dafür, dass sie zügig ihre Erlöse ausgezahlt bekommen, übernimmt sogar das Risiko, dass ein Kunde nicht zahlt. Und kassiert dafür bei jeder Transaktion eine Gebühr. Die Marge mag winzig sein, die Masse verspricht ein attraktives Geschäft.

So macht Wirecard übers Jahr 1,4 Milliarden Euro Umsatz und Hunderte Millionen Euro Gewinn. Es könnte bald noch weit mehr werden, denn das bargeldlose Geschäft wächst weltweit. Besonders in Asien. Ob die Menschen online ein neues Paar Schuhe kaufen, im Supermarkt mit der Girokarte zahlen oder in der Garküche das Smartphone mit der Bezahl-App zücken: Anbieter wie Wirecard verdienen immer mit. So gut laufen die Geschäfte, dass das Unternehmen im vergangenen Herbst die altehrwürdige Commerzbank aus dem Dax, dem Index der größten deutschen Aktiengesellschaften, verdrängte. Wirecard ist die erfolgreichste deutsche Gründungsgeschichte des Computerzeitalters seit dem Softwareanbieter SAP.

Doch am 30. Januar 2019, wenige Tage bevor in Asien das Jahr des Schweins eingeläutet wird, endet bei Wirecard die Glückssträhne. In der Aschheimer Firmenzentrale, einem unscheinbaren Verwaltungsgebäude zwischen dem Münchner Messegelände, einem Kleingartenverein und dem Zubringer zur Passauer Autobahn, geht frühmorgens eine E-Mail ein. „Good morning, Iris“, schreibt ein Journalist der Financial Times an eine Sprecherin des Unternehmens. Der Reporter des britischen Wirtschaftsblatts lässt wissen, er habe recherchiert, dass ein hoher Manager von Wirecard in Transaktionen mit gefälschten Urkunden verstrickt sei, und bittet um Stellungnahme. Als der Artikel am Nachmittag erscheint, stürzt der Kurs der Wirecard-Aktie drastisch ab, zeitweise fällt er um fast 25 Prozent. Wer sein Geld in das zukunftsträchtige Unternehmen gesteckt hat, ist fast ein Viertel seiner Investition los, unter den Verlierern sind etliche Kleinanleger. Die Reaktion der Börse auf den Zeitungsartikel wirkt so maßlos, dass sich der Verdacht aufdrängt, Spekulanten hätten sich gegen Wirecard verschworen. So sieht man es auch bei der Börsenaufsicht in Frankfurt. Mitte Februar schränkt diese den Handel mit Wirecard-Aktien ein, die Staatsanwaltschaft München beginnt, wegen möglicher Marktmanipulation zu ermitteln.

Recherchen von [Medium] legen die Details dieses Wirtschaftskrimis offen, der viel verrät über spektakuläre Erfolgsgeschichten im Digitalzeitalter – und deren Tücken. Interne E-Mails und Chats erzählen, wie Wirecard vom Start-up im Münchner Speckgürtel atemberaubend schnell zum global agierenden Dax-Konzern aufstieg. Vielleicht zu schnell: Vor allem in Asien scheint die dortige Finanzabteilung die Kontrolle über die komplexen Geschäfte verloren und zudem zu mehr als unsauberen Methoden gegriffen zu haben.

Als ein Wirecard-Manager in Singapur unter den Verdacht gerät, die Bücher zu frisieren, kommt es zu einem folgenschweren Zerwürfnis zwischen der Konzernzentrale und Mitarbeitern, die vehement aufklären wollen. Später landen die Details nicht nur in der Presse, sondern offenbar auch bei Börsenspekulanten. Diese wetten auf einen Kurssturz der Wirecard-Aktie und wollen mit dem Wertverfall der Firma ihr eigenes lohnendes Geschäft betreiben.

Der Fall Wirecard wirft nun zwei große Fragen auf. Erstens: Wie schlimm sind die Verhältnisse im Asien-Geschäft wirklich? Während der Konzern beschwichtigt, offenbaren [Medium]-Recherchen Schlampereien und Versagen. Die Behörden in Singapur ermitteln gegen mehrere dortige Mitarbeiter und haben die örtliche Wirecard-Niederlassung mehrmals durchsucht. Zweitens: Reichen die Missstände, um den heftigen Kurssturz an der Börse zu erklären? In München geht die Staatsanwaltschaft jedenfalls dem Verdacht nach, dass kriminelle Spekulanten hier am Werk gewesen seien.

Im Digitalzeitalter können sich solche Fälle wiederholen, jederzeit. Aufstrebende Tech-Konzerne erzielen im Handumdrehen riesige Umsätze, können aber ebenso schnell das Geld ihrer Investoren verbrennen. So steht dann auch bei Wirecard über allem die Frage, wie viel Substanz das Geschäftsmodell beinhaltet. Der Konzern baut weder Elektroautos noch Batteriefabriken, er bietet Software und Dienstleistungen, die schwer zu durchschauen sind. Verkörpert Wirecard wirklich die Chancen der neuen digitalen Welt? Oder ist der Konzern aus Aschheim nur ein zu schnell gewachsenes Start-up aus einem Münchner Vorort, in den Anleger zu große Hoffnungen setzen?

In Asien ist die Welt so, wie die Wirecard-Manager sie sich erträumen. Immer mehr Menschen wollen mit Bargeld möglichst wenig zu tun haben, zahlen beim Shoppen, beim Lunch und beim Parken per Handy-App. Die Wirecard-Niederlassungen in dieser Weltgegend zeugen vom Geschäftssinn der Münchner Manager. Chennai und Jakarta, Kuala Lumpur und Manila sind Städte, in denen die Zukunft längst zu Hause ist. Wirecards Asien-Zentrale liegt in Singapur, in einer aseptischen „Business City“ mit Blick auf die Containerschiffe auf dem Weg zur Straße von Malakka. Wie in den meisten Tech-Konzernen ist die Stimmung im Unternehmen leger, sind die Hierarchien flach, die Umgangsformen locker.

Manche lästern darüber, dass sich Wirecard intern „WD“ abkürzt – „WC“ kommt nicht wirklich infrage. Selbst mit ihren Chefs kommunizieren die Mitarbeiter intern über Chatgruppen, unterhalten sich untereinander über Fachliches und Zwischenmenschliches oder über die besten Restaurants und Clubs auf Bali oder in Shanghai.

Einer der tonangebenden Männer bei Wirecard in Singapur ist Edo K. Der Indonesier ist Anfang 30, umtriebig, immer bestens gelaunt. Im Büro erzählt man sich, er stamme aus einer wohlhabenden Familie, wolle sich aber beweisen. Edo K. nimmt als einer der obersten Finanzer eine Schlüsselstellung im Konzern ein, er verantwortet unter anderem die Finanzen in Asien. Edo K. gilt als Vertrauter der Unternehmensspitze in Aschheim, war dort bis Mitte 2017 tätig. Regelmäßig tauscht er sich über Telefon, Skype-Chats und E-Mails mit den Chefs aus, bespricht selbst Kleinigkeiten wie eine Abfindung in Höhe von wenigen Tausend Dollar für einen Mitarbeiter.

Doch scheint Edo K. irgendwann den Überblick über die Buchungen und Transaktionen zu verlieren. Immer wieder monieren Wirtschaftsprüfer, dass Unterlagen fehlten, Zahlen nicht plausibel seien. Einmal fordert ein Kollege in Deutschland den Indonesier auf, für eine Bilanz „eine gute Erklärung“ zu liefern. Er warnt, dass der Buchprüfer sonst „die Story nicht akzeptiert“. Ein anderes Mal greift ein Konzernvorstand ein: „Hi Edo, hast Du alles unter Kontrolle?“, fragt der Chef aus Deutschland. „Das wirkt sehr beunruhigend.“

Das Wirecard-Geschäft in Asien macht in der Tat einen chaotischen Eindruck. Mal klagen Mitarbeiter, die Zahlen würden nur so „herumfliegen“, mal warnen sie, dass man den Angestellten einer Tochterfirma schon bald keine Gehälter mehr zahlen könne. Im Juni 2017 schreibt ein Mitarbeiter an Edo K., mindestens zwei Wirecard-Firmen seien „im operativen Defizit und technisch zahlungsunfähig“. Sind dies nur die Symptome eines zu schnellen, unbeherrschten Wachstums, oder geht es um mehr?

Anfang 2018 kommt es noch schlimmer: Ein Whistleblower beobachtet angeblich, wie Finanzchef Edo K. mit Filzstiften an einer Präsentationstafel steht und einem halben Dutzend Mitarbeitern erklärt, wie sich Geld zwischen verschiedenen Tochterfirmen hin und her schieben lasse – mutmaßlich auf illegale Art und Weise. Der Whistleblower vertraut sich zwei örtlichen Justitiaren an, diese melden den Verdacht nach Aschheim. Ein Juristen-Team aus der Konzernzentrale fliegt nach Singapur, lässt die E-Mail-Postfächer einiger der örtlichen Mitarbeiter sichern und beauftragt die Anwaltskanzlei Rajah & Tann, die Vorwürfe aufzuklären.

Offenbar hat man in München erkannt, was Wirecard drohen könnte: Das Unternehmen ist verwundbar. Der Wert von schnell wachsenden Tech-Unternehmen lässt sich oft nur schwer nachvollziehen. Und dann ist da noch die Firmengeschichte: Wirecard ist seinen schmuddeligen Ruf der Anfangsjahre nie ganz losgeworden. Die Firma wickelte damals vor allem den elektronischen Zahlungsverkehr für Pornofilme und Glücksspiele im Internet ab, an diesem Geschäft verdient der Konzern auch heute noch. Sollten Bilanzmanipulationen in Asien auffliegen, wäre das Gift für den Ruf der Wirecard AG als eines der führenden deutschen Innovationsunternehmen.

Im Frühjahr 2018 scheint also tatsächlich einiges im Argen zu liegen bei Wirecard. Die beiden Juristen in Singapur, die die Zustände im dortigen Büro prüfen sollen, sind nach einer ersten Durchsicht der Mails von Mitarbeitern Edo K.s beunruhigt. Am 20. April meldet einer von ihnen nach Aschheim, das Thema sei „größer, als wir dachten“.

Die Justitiare bei Wirecard in Singapur sind nicht nur gewissenhaft, sie sind penibel, hartnäckig und streitbar. Einer von ihnen, Royston N., kümmert sich um das Thema Compliance, also um rechtlich und ethisch einwandfreies Geschäftsgebaren. Royston N. kommt mit Hosenträgern ins Büro. Er war früher Staatsanwalt in Singapur, die dortige Strafjustiz wird wegen ihrer unerbittlichen Strenge gefürchtet. Sein Kollege, der Justitiar Pavandeep G., gilt zwar als nicht ganz so scharfer Hund, aber auch er nimmt seine Arbeit sehr ernst.

Früh wird klar, dass die beiden Juristen Finanzchef Edo K. als einen Aufschneider betrachten und sich wundern, dass die Zentrale in München diesem Mann blindlings zu vertrauen scheint. Im Singapurer Büro erzählt man sich, der Jurist Royston N. habe dem Finanzchef Edo K. einmal vorgehalten, jemand aus dessen Familie stehe der indonesischen Mafia nahe. Edo K. sei sehr aufgebracht gewesen. Royston N. könne den Verwandten ja fragen und „schauen, was dann passiert“. Daraufhin soll Royston N. einigen Kollegen erzählt haben, Edo K. habe ihn bedroht. Das hat sich bis in die Konzernzentrale in Aschheim herumgesprochen.

Nach weniger als zwei Wochen Arbeit legt die Kanzlei Rajah & Tann Anfang Mai 2018 ihren „vorläufigen Bericht“ vor. Der hat es in sich: Der Anfangsverdacht gegen Edo K. habe sich bestätigt, heißt es darin. Zudem seien weitere „Missetaten“ aufgefallen. Edo K. und zwei seiner Mitarbeiter hätten mutmaßlich Urkunden gefälscht und fragwürdige Zahlungen veranlasst; offenbar wollten sie die schlechte Finanzlage einzelner Wirecard-Tochterfirmen durch derartige Überweisungen frisieren. Möglicherweise, so die Juristen und Prüfer, seien aber auch noch weit schwerer wiegende Straftaten passiert: Betrug, Korruption oder Geldwäsche.

In der Münchner Konzernzentrale wird dieser vorläufige Bericht heute als voreilig, substanzlos und ehrenrührig abgetan.

Doch im Mai 2018 bringen die Prüfer von Rajah & Tann erst einmal allerhand Verdächtiges zu Papier. So nehmen sie zum Beispiel Anstoß an einer Tochterfirma in Hongkong, mit der Wirecard den dortigen Prepaid-Markt erobern will. Die Tochter braucht ein Mindestkapital und bekommt es aus Deutschland überwiesen.

Es ist ja eine Kapitalerhöhung der AG in einer Tochtergesellschaft. Die Prüfer vermuten, dass dies nur eine Luftbuchung ist, denn nach ihrer Darstellung tauchen die zwei Millionen Euro sehr kurz in der Bilanz der Hongkonger Wirecard-Tochter auf und fließen dann ebenso rasch wieder ab.

Die Fachleute von Rajah & Tann machen gut ein Dutzend dieser mutmaßlichen Scheinbuchungen aus, die Anlass zu einem schweren Verdacht geben: Existierten bei Wirecard in Asien dubiose Geldkreisläufe, in denen ein und derselbe Geldbetrag abwechselnd immer wieder andere Finanzlöcher stopft? Dieser Verdacht könnte den verheerenden Eindruck erwecken, dass das Dax-Unternehmen möglicherweise an der Börse heller strahlt als es den ökonomischen Fakten entspricht.

In Singapur hoffen die beiden Juristen, Royston N. und Pavandeep G., auf ein Treffen der Konzern-Oberen in Aschheim am 7. Mai 2018. Ein interner Chat zwischen Juristen in Aschheim und Singapur verrät, dass die beiden Aufklärer in Asien dem Termin regelrecht entgegenfiebern: Sie wollen am liebsten nach München fliegen und dem Vorstand persönlich ihre Ermittlungsergebnisse vorstellen. Royston N. stellt eine neunseitige Präsentation zusammen, Titel: „Project Tiger“. Ursprünglich sollte das Projekt „Phoenix“ heißen – wie der Sagenvogel aus der Asche sollte Wirecard auferstehen, befreit von allen Vorwürfen; Aschheim bevorzugte „Tiger“, einen Hinweis auf Singapur, den Tigerstaat. Man sieht auf Folien Schaubilder mit erfundenen Firmennamen, Pfeile, die Geldflüsse anzeigen, Millionen Dollar, die angeblich im Kreis überwiesen werden. Und einen Auszug aus dem Strafgesetzbuch Singapurs: Bilanzfälschung, Korruption, Geldwäsche.

Doch was folgt, ist eine herbe Enttäuschung. Einer der Vorstände schreibt an einen der Juristen, man mache die Probleme in Asien jetzt zur Chefsache: Vorstand Jan Marsalek, der unter anderem für Asien zuständig ist, werde alles Weitere koordinieren, zusammen mit einem Manager in Asien und einer externen Kanzlei. Anders formuliert: Die hartnäckigen Singapurer Juristen sind raus.

Dennoch geben die beiden düpierten Aufklärer in Singapur nicht auf, lassen nicht locker. Royston N., der frühere Staatsanwalt, beschwert sich persönlich beim Finanzvorstand in Aschheim. In einer mehrseitigen E-Mail weist er darauf hin, dass Vorstand Marsalek im vorläufigen Ermittlungsbericht genannt wird, womöglich also selbst in fragwürdige Vorgänge verstrickt sein könnte und deshalb als Aufklärer nicht infrage komme. Doch der Protest bleibt folgenlos. Und auch heute heißt es bei Wirecard dazu nur, Marsalek sei für die Untersuchung gar nicht zuständig gewesen und sei auch nicht belastet.

Kurz darauf nimmt der Argwohn der beiden Juristen sogar noch weiter zu: Eine Wirecard-Tochter in Singapur soll wenige Tage später eine Millionenüberweisung vornehmen, das Geld soll an einen Geschäftspartner gehen, der im Rajah & Tann-Bericht ausdrücklich für verdächtig erklärt wird.

„Ich verstehe das nicht. Was ist los?“, schreibt einer der beiden Justitiare im Gruppenchat mit dem deutschen Compliance-Chef in Aschheim. „Was hat der Vorstand nicht begriffen?“ Sein Singapurer Kollege springt ihm bei: „Ich verstehe nicht, wie ein paar Leute etliche äußerst schwerwiegende Finanzdelikte begehen und dann ungestraft weitermachen können.“ Der deutsche Teilnehmer dieses Chats, er ist immerhin einer der wichtigsten Verantwortlichen für Rechtsfragen im Konzern, scheint auf Linie mit den asiatischen Kollegen zu sein. Auch er äußert den Verdacht, dass sich die Mächtigen im Unternehmen gegenseitig deckten. Sie „pinkeln sich nicht gegenseitig an“.

Einer der Singapurer Kollegen erwidert: „Das ist keine angemessene Haltung für einen Vorstand … Falls die Zahlung … nicht in Ordnung ist, dann ist das Geldwäsche. Und es wird mit Wissen des Vorstands geschehen sein.“ Der Justitiar in Asien wird nun sehr grundsätzlich: „… Meine Prinzipien sind nicht verhandelbar. Als ehemaliger Staatsanwalt sag ich es in aller Klarheit. Wir werden persönlich strafrechtlich belangt, wenn wir nichts tun.“ Der hartnäckige Jurist ist offenbar zum Äußersten entschlossen. Er kann sich sogar vorstellen, den Vorstand zu umgehen und direkt den Aufsichtsrat einzuschalten. Sein Mitstreiter im Büro Singapur springt ihm bei: „Dem Vorstand ist das Ganze scheißegal, und es gibt intern nicht viel, das wir tun können. Es gibt zu viele Beteiligte mit zu vielen Interessen … und Edo wird eindeutig geschützt.“

Wenige Tage später fließt der umstrittene Millionenbetrag dennoch ungehindert.

Spätestens da wird klar, dass das Verhältnis zwischen den Firmenoberen bei Wirecard und den beiden Juristen in Singapur schwer belastet ist. Auch der Compliance-Chef in Aschheim rückt nun von seinen beiden asiatischen Mitstreitern ab. Im Juni 2018 schreibt er einem der beiden Mitarbeiter in Singapur eine vernichtende Kritik: „Als Compliance müssen wir Partner des Managements sein. Unsere Compliance-Rolle ist es, Schaden vom Unternehmen fernzuhalten und die Graubereiche zu kontrollieren. Wir sind keine Staatsanwälte, die Einzelpersonen zur Rechenschaft ziehen.“ Und weiter heißt es: „Ich glaube, dass der Vorstand das Vertrauen darauf verloren hat, dass wir zum Wohle der Firma ermittelten.“ Dann wird der Mann in Aschheim sehr, sehr deutlich gegenüber seinen asiatischen Kollegen: „Compliance ist immer auch … politisch motiviert.“ Ein Justitiar könne dem Vorstand keine Anweisungen erteilen: „So gewinnt man kein Vertrauen und gilt dem Management nicht als verlässlicher Partner.“

In Aschheim denkt man offenbar, man könne den Konflikt mit solchen Belehrungen eindämmen. Doch das funktioniert bestenfalls vorübergehend: Acht Monate später, am 30. Januar 2019, werden die vorläufigen Erkenntnisse der Kanzlei Rajah & Tann öffentlich. Irgendjemand hat das interne Papier vom Mai 2018 nach außen getragen, nun zitiert die Financial Times daraus. Von wem das Londoner Wirtschaftsblatt die Wirecard-Interna erfahren hat, ist nicht bekannt. In Konzernkreisen heißt es, einer der beiden düpierten Juristen habe den Rajah & Tann-Bericht in Umlauf gebracht. Inzwischen liegen noch viel mehr interne Akten bei den Ermittlungsbehörden in Singapur. Missstände in Unternehmen und Zerwürfnisse über deren angemessene Aufklärung sind oft Auslöser dafür, dass empörte Mitarbeiter zu Whistleblowern werden – und Interna nach außen tragen. Ob das auch bei Wirecard so der Fall war, ist offen.

Mittlerweile haben die beiden Juristen in Singapur das Unternehmen verlassen. In Firmenkreisen heißt es, Royston N. und Pavandeep G. hätten gegen Finanzchef Edo K. einen gewissen Verfolgungseifer entwickelt. Aber es gibt keinerlei Beleg dafür, dass sie übertrieben haben oder ihrem Unternehmen schaden wollten. Es wäre nicht das erste Mal, dass Beschäftigte, die zu viel fragen und zu tief graben, in ihrer Firma nicht mehr wohlgelitten sind. Einer der beiden Juristen in Singapur hat einmal in einem Chat über seinen Kollegen gesagt: „Alles, was er sich wünschte, war eine Firmenkultur, in der man Übeltäter zur Rechenschaft zieht.“

Ein Dreivierteljahr später erreicht die Eskalation ihren vorläufigen Höhepunkt. Am 30. Januar 2019 berichtet die Financial Times über den Fall, die Aktie stürzt ab. Kurz darauf erhält Konzernvorstand Jan Marsalek über einen Vertrauten eine Chat-Nachricht mit einem unmoralischen Angebot. Ein Geschäftsmann, der in Journalistenkreisen gut vernetzt sein soll, behauptet, ein zweites einflussreiches Wirtschaftsmedium plane ebenfalls einen verheerendes Bericht über Wirecard. Demnach erreiche die Affäre sogar die Firmenspitze, und der Aktienwert müsse daher mehr als halbiert werden. „Ja, aber was kann man dagegen tun?“, schreibt der Vertraute Marsaleks, „sie werden den Artikel nicht stoppen.“ Daraufhin entgegnet der Geschäftsmann: „Ich kann meinen Kerl dazu bringen, es zu stoppen. Ich habe einen guten Kontakt ...“

Bei weiteren Gesprächen stellt sich heraus, dass der Geschäftsmann angeblich noch mehr zu bieten hat. Er könne nicht nur negative Presseberichte verhindern. Er könne ebenso erfolgreich positive Artikel über Wirecard in den Medien lancieren und Übernahmegerüchte streuen, die den Kurs der Aktie dann in die Höhe treiben würden. Für diese Unterstützung verlangt er 2,2 Millionen Pfund. Sogar eine Scheinrechnung hat er schon vorbereitet, zurückdatiert auf den 28. Mai 2018. Darin steht, Wirecard zahle das Geld als Sponsoring für einen Autorennstall, das Firmenlogo der Aschheimer werde gut erkennbar auf dem Rennwagen und den Anzügen der Fahrer prangen.

Marsalek geht darauf nicht ein, benachrichtigt die Staatsanwaltschaft München: Wirecard sieht sich als Opfer einer Verschwörung zwischen Medien und Börsenspekulanten und erstattet am 1. Februar 2019 Strafanzeige wegen einer möglichen Manipulation des Aktienkurses. Die Staatsanwälte nehmen den Verdacht ernst und leiten Ermittlungen gegen unbekannt ein. Sie sind alarmiert. Da ist zum einen das eindeutige Angebot, die Medienberichterstattung zu steuern und den Börsenkurs zu manipulieren. Der Mann, der dieses Angebot abgegeben hat, gilt nicht als Prahlhans, sondern als einer, der liefern kann. Offenbar ist er tatsächlich in der Lage, das Geschehen an der Börse zu beeinflussen.

Hinzu kommen Auffälligkeiten beim Handel mit Wirecard-Aktien am 30. Januar. Offenbar hatten mehrere Spekulanten rechtzeitig auf fallende Kurse gewettet, bevor der Artikel in der Financial Times erschien. Nach Angaben von Wirecard könnte es dafür eine Erklärung geben; demnach hätte sich an der Börse herumgesprochen, dass ein negativer Bericht erscheinen würde. Die deutsche Firma beruft sich auf einen Händler aus London. Der hat schriftlich erklärt, dass schon am Vormittag des 30. Januar in Börsenkreisen über den bevorstehenden Wirecard-Artikel der Financial Times geredet worden sei. All diese brisanten Informationen leitet die Staatsanwaltschaft München an die Börsenaufsicht in Frankfurt weiter. Die reagiert überraschend schnell auf den ungewöhnlichen Vorgang : Am 18. Februar verbietet die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin), an der Börse auf einen fallenden Kurs der Wirecard-Aktie zu wetten. Die ungewöhnliche Entwicklung der Aschheimer Aktie habe „massive Unsicherheiten an den Finanzmärkten“ verursacht, erklärt die Bafin, sie sieht eine „ernst zu nehmende Bedrohung für das Marktvertrauen in Deutschland“.

Wirecard sieht sich als Opfer und verklagt die Financial Times vor dem Landgericht München auf Schadenersatz. Der deutsche Konzern wirft der britischen Zeitung vor, irreführend berichtet zu haben. „Der vorliegende Fall ist ein Paradebeispiel übelster Sorte für das abgestimmte Agieren von Journalisten und kriminellen Spekulanten zum Nachteil seriöser Anleger“, heißt es in der Klageschrift. Die Londoner Zeitung weist die schweren Vorwürfe als „substanzlos“ zurück.

Sind die Angriffe Wirecards auf die Presse nur ein Manöver, um von den Missständen abzulenken? Und versucht der Konzern, Kritiker in seinen Reihen sowie außerhalb systematisch zu diskreditieren?

Noch ist nicht bewiesen, dass dem Kurssturz Ende Januar eine groß angelegte Attacke krimineller Spekulanten zugrunde lag. Investoren, die von fallenden Kursen profitieren wollen, nutzen dafür gern sogenannte Leerverkäufe. Diese Spezialität im Aktienhandel ist alltäglich; sie dient unter anderem dazu, sich gegen fallende Kurse abzusichern. Am 30. Januar 2019 ist der Anteil leer verkaufter Wirecard-Aktien im historischen Vergleich eher niedrig. Wenn überhaupt, hat damals offenbar nur ein kleiner Kreis von dem bevorstehenden Artikel der FT gewusst. Wahrscheinlich drückte der Kurssturz also auch ein verbreitetes Misstrauen gegen Wirecard aus. Schon in der Vergangenheit hat der Kurs auf schlechte Nachrichten sehr empfindlich reagiert. Bis heute hat sich die Wirecard-Aktie nicht erholt; sie liegt noch immer um mehr als ein Drittel niedriger als Ende Januar.

In der vergangenen Woche hat Wirecard nun versucht, die Affäre um ihren Finanzchef Edo K. für weitgehend beendet zu erklären. Es gehe nur um einige wenige Unregelmäßigkeiten; diese hätten auf die Bilanz „keine wesentlichen Auswirkungen“. In Aschheim habe sich niemand strafbar gemacht. Wirecard beruft sich unter anderem auf weitere Untersuchungen der Kanzlei Rajah & Tann.

Für den deutschen Konzern ist die Affäre aber längst nicht ausgestanden. Die Spezialeinheit für Finanzkriminalität in Singapur hat die Wirecard-Büros mit dem spektakulären Blick auf das Meer und die Containerschiffe drei Mal durchsucht und mehr als 200 Kisten Material mitgenommen. Es heißt, mehrere Mitarbeiter hätten in Befragungen durch die Kanzlei Rajah & Tann Fehlverhalten eingeräumt. Auch Wirecard schließt nicht aus, dass sich örtliche Mitarbeiter strafbar gemacht haben, Ex-Asien-Finanzchef Edo K. soll Tricksereien zugegeben haben. Er soll sogar behauptet haben, dass er sich mit dem Vorstand abgesprochen habe. In Firmenkreisen heißt es, das stimme nicht, man habe in Aschheim nichts gewusst. [Medium] hat mehrmals vergeblich versucht, Edo K. zu erreichen.

Inzwischen haben sich Wirecard und Edo K. getrennt. Im Konzern wird heute so getan, als habe vor allem der Ex-Finanzchef für Asien versagt. Bei vielen früheren Wirtschaftsaffären hieß es anfangs, dass nur einzelne Mitarbeiter aus dem Mittelbau der Firma schuld seien, später war es dann aber doch ganz anders.

Genau wissen es auch die Ermittler bisher nicht. In Justizkreisen heißt es, man habe noch kein Gefühl dafür, in welche Richtung das Ganze gehe. Die neue Welt der globalen Digitalkonzerne, der Spekulanten und der rücksichtlosen Geschäftemacher, die Insiderwissen verkaufen, ist selbst für gestandene Ermittler nur noch schwer zu durchschauen.

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Einschübe:

Wie viel echte Substanz können
Konzerne haben, die nur
Software und Dienste anbieten?

Der Konzernvorstand erkundigt
sich beim Kollegen in Singapur:
„Hi Edo, alles unter Kontrolle?“

Die beiden Wirecard-Juristen
in Singapur halten Finanzchef
Edo K. für einen Aufschneider

„Falls die Zahlung nicht in
Ordnung ist, ist das Geldwäsche
mit Wissen des Vorstands.“

Wirecard sieht sich als Opfer
einer Verschwörung von
Medien und Börsenspekulanten

Auf die Bilanz, sagt Wirecard,
hätten die Unregelmäßigkeiten
keine großen Auswirkungen

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Bildunterschriften:

Die unscheinbare
Konzernzentrale
von Wirecard im
Münchner Osten liegt
zwischen Messegelände
und Autobahn, sie hat
den Charme einer
örtlichen Sparkassenfiliale.
Mit digitalen
Abrechnungsmodellen
für Internet-Glücksspiele
und Pornofilme
begann der rasante
Aufstieg des Tech-Unternehmens
zum Superstar
im deutschen
Aktienindex Dax.

Singapur: Hat die
Finanzabteilung von
Wirecard die Kontrolle
über die komplexen
Geschäfte in Asien
verloren? Ein hoher
Manager des Konzerns
in Singapur, der
umtriebige Indonesier
Edo K., ist unter
Verdacht geraten,
Bücher frisiert und
Mitarbeiter dazu
angestiftet zu haben.

Der gebürtige
Österreicher Jan
Marsalek, Jahrgang
1980, ist seit 2000
bei Wirecard.
Heute sitzt er im
Vorstand. Im
Konzern ist er für
das Geschäft in
Asien zuständig.

Auch der Vorstandsvorsitzende
von Wirecard, Markus
Braun, ist Österreicher.
Ziel des Unternehmens
sei es, sagte der
Milliardär im
vergangenen Frühjahr,
„kraftvoll organisch
die Welt zu erobern“.
Und die Unregelmäßigkeiten?
Für Wirecard sei „die Sache
abgeschlossen“.

Börsenliebling
Wirecard: Der Kurs
hatte sich in zehn
Jahren verdreißigfacht.
Rund 24 Milliarden
Euro war Wirecard vor
dem Absturz wert,
knapp drei Mal so viel
wie die Lufthansa.
Heute sind es noch
13,64 Milliarden Euro.

London: Die Financial
Times hat als erste
Zeitung über die
brisanten Interna von
Wirecard berichtet. Der
Aktienkurs des deutschen
Unternehmens
hat sich seitdem kaum
erholt.

Nach dem ersten
Bericht der Financial
Times am 30. Januar
über mögliche Dokumentenfälschung
und Geldwäsche durch
einen Finanzmanager
von Wirecard in Singapur
wurden in nur
einer Stunde rund
fünfeinhalb Milliarden
Euro Börsenwert
vernichtet. Der Kurs
der Wirecard-Aktie
stürzte zeitweise um
25 Prozent ab.