Alles drin
von Hannes Vollmuth
Süddeutsche Zeitung vom 30.05.2020
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Alles drin
Omas, die mit den Enkeln skypen. Kollegen, die übers Internet zusammenarbeiten. Paare, die sich online lieben – die Corona-Krise hat die Digitalisierung explodieren lassen. Was wird davon bleiben?
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- DIE GROSSE STILLE? -
Über das Frühjahr 2020 wird einmal in den Geschichtsbüchern stehen: Die Straßen waren wüst und leer, die Parks verwaist, die Theater und Kinos zugesperrt. Eine große Stille senkte sich über das Land, über die Städte und Dörfer, über Plätze und Fußballstadien. Einkaufszentren: geschlossen. Universitäten: zugesperrt. Schulen, Krippen und Kindergärten: verlassen wie an Neujahr. Irgendwo wird der unvermeidbare Satz stehen, dass diese Gesellschaft, dass das Leben zum Stillstand kam.
Beweisfotos werden vorgelegt werden: das wie leer gefegte New York; Paris – wie ausgestorben; ein touristenfreies Berlin. Bilder von Flughäfen, die allesamt aussehen wie der BER, also unbenutzt und überflüssig. Von Delfinen wird die Rede sein, die im Bosporus schwammen. Vom blauen Himmel und der Luft, die so frisch war, dass man sie begierig in seine Lungen aufsog. Vom Leben im Pausenmodus, das höchstens aufgeschreckt wurde, wenn Polizeiautos im Schritttempo durch die Wohngebiete rollten und mit Lautsprecherblechstimmen dazu aufforderten, bitte in den Häusern zu bleiben. Überall Ruhe und Stille. Tiefe Stille.
Nur: Stimmte das überhaupt?
Befand diese Gesellschaft sich tatsächlich im Stillstand? Hatte das Virus tatsächlich den Pausenknopf des öffentlichen Lebens gefunden und gedrückt? War jenseits der Straßen wirklich alles wüst und leer?
Oder haben einfach alle zu Hause gesessen und in den eigenen vier Wänden an einer Art Revolution gearbeitet? An der neuen Gesellschaft? Nichts ahnend und dabei sehr beschäftigt, jeder für sich und trotzdem zusammen?
- VIER BILLIONEN MINUTEN -
„Ich habe mich teilweise gefühlt, als würde ich in einem vollen Stadion stehen“, wird am Beginn dieser Antwortsuche eine junge Frau in Berlin sagen, die in den vergangenen Wochen praktisch im Internet gelebt hat. Ein New Yorker Schriftsteller wird erzählen, wie viele Menschen er gerade im Netz trifft und sich ihre Geschichten anhört. Und in München wird ein Soziologe berichten, wie er jede Woche mit anderen online Bier getrunken hat und dabei Freude empfand.
Es war alles andere als still.
Das Leben ist durchaus weitergegangen, an einer Stelle, an der diese Gesellschaft mindestens so sehr vibriert wie der Berliner Alexanderplatz an einem ganz normalen Samstag im Juli. Es war laut und unübersichtlich und wuselig. Aber halt nur im Internet.
Wobei: Streichen wir das „nur“.
Zahlen. Durch den größten Internetknotenpunkt der Welt, den zentralen Standort des DE-CIX in Frankfurt, pulsierten am Abend des 10. März, eines Dienstags, 9,1 Terabit pro Sekunde, was an keinem Internetknotenpunkt der Welt jemals gemessen worden ist. Microsoft: mehr als vier Billionen Nutzungsminuten pro Monat allein auf Windows-10-Geräten und damit 75 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Zoom, ein relativ neuer, sich aber rasant ausbreitender Videochat-Anbieter: 300 Millionen Meeting-Teilnehmer im April, ein Anstieg von 2900 Prozent innerhalb von vier Monaten. Netflix: 15,8 Millionen neue Abonnenten im ersten Quartal 2020, fast doppelt so viele wie von Analysten erwartet. Ebay-Kleinanzeigen: 200 Millionen Besuche drei Wochen nach Ostern – niemals zuvor wurden so viele Bewegungen dort gezählt.
Mark Zuckerberg, Chef des Facebook-Konzerns, zu dem Instagram und Whatsapp gehören, sagte der New York Times: Der Datenverkehr für Videoanrufe und Nachrichten sei explodiert.
Was insgesamt und ganz konkret bedeutet, dass jetzt Parteitage im Netz abgehalten wurden, Schulstunden, Vorlesungen, Kinofestivals, Konferenzen, Andachten, Yoga-, Zumba- und Pilates-Kurse, Konzerte, Hochzeiten, Geburtstagsfeiern, Therapiesitzungen, literarische Lesungen, Strip-Shows und CSU-Stammtische. Dass zusammen gegessen, gebetet, gearbeitet, verhandelt, geschrien, bestaunt, geflirtet und geweint wurde. Dass diese Gesellschaft im angeblichen Stillstand vibriert hat vor Leben. Und noch immer vibriert und immer weiter vibrieren wird.
Christina Lang sitzt in Prenzlauer Berg, in Berlin, in ihrem Büro, in das sie nur gekommen ist, weil vor ihrer Wohnung eine nervige Baustelle röhrt. Die Verbindung über die Videoplattform Zoom ist stabil, die Sonne zeichnet interessante Muster auf die Klinkerwand hinter ihr. Und dann malt Christina Lang ein Bild ihrer Quarantänezeit, die im Internet begann: Sie habe sich gefühlt wie „in einem vollen Stadion“, Leute an Leuten, dicht an dicht.
Sie ist 29 Jahre alt und leitet das Start-up 4Germany, eine Innovationstaskforce für die Bundesregierung, die mit dem Kanzleramt verbunden ist. Eine junge Digitaldenkerin, die die mächtigste Bundesbehörde in Deutschland berät – das hätte es vor fünf Jahren auch noch nicht gegeben. Gerade aber beschäftigt Christina Lang vor allem, was im Netz, vielleicht kann man sogar sagen, in ihrem Netz passiert: an dem Ort, den sie eigentlich gedacht hat zu kennen, und der sich womöglich jetzt radikal verändert. Was auch mit den 30 000 bis 40 000 Menschen zu tun hat, die sie dort in letzter Zeit getroffen hat.
Gleich am Anfang der Quarantänezeit hat Christina Lang mit ihrer Taskforce nämlich eine Art Bürgerversammlung organisiert, im Internet. Sie nannten es „WirVsVirus Hackathon“, was vor ein paar Monaten noch eine Veranstaltung für Spezialisten gewesen wäre, von denen dann 300 teilgenommen hätten. Aber entweder sind jetzt alle einfach Nerds oder die Nerds gehen bei 30 000 Leuten einfach unter. Bemerkenswert empfand Christina Lang jedenfalls die Menschen, die mindestens zehn Jahre älter waren als sie selbst und aus allen möglichen Milieus und Ecken Deutschlands kamen. Ein typischer Satz, den sie hörte: „Ich weiß eigentlich gar nicht so genau, was das hier ist, aber ich bin da und ich will helfen.“
Solche Sätze sind neu für Christina Lang, das Ausmaß sowieso, und das Miteinander auch. „Wir haben gerade die Chance, dass sich zum ersten Mal tatsächlich eine gesellschaftliche Mitte ins Digitale verlagert“, meint Christina Lang und lässt sich sogar dazu hinreißen zu sagen, dass es eine neue Phase der Aufklärung geben könnte.
Eine neue Phase der Aufklärung?
Es ist nahezu unmöglich, auch nur ansatzweise seriös vorherzusagen, ob das jemals eintreten wird. Schwer zu sagen auch, was mit den 9,1 Terabit Datenverkehr passiert, die gerade pro Sekunde durch Deutschlands größten Internetknotenpunkt geflossen sind. Und wer weiß schon, was überhaupt aus dem Netz werden wird, in das sich alle schlagartig begeben haben, als wäre es die Arche Noah, mit der man von Covid-19 wegsegeln könnte?
Aber womöglich ist jetzt der Moment gekommen, ein paar Fragen zu stellen, die wirklich jeden von uns betreffen werden, ob er will oder nicht. Jetzt sind wir angekommen in unserem neuen Leben im Netz: Aber kommen wir da jemals wieder aus? Und wollen wir das überhaupt dann noch?
- DIGITALE ARCHE NOAH -
Journalistisch gesehen gibt es über das Internet eigentlich nichts Neues zu berichten, was es in Ansätzen nicht schon davor zu berichten gab: zum Beispiel jede Menge Verschwörungstheorien, Fake News, Hass, Kinderpornografie, Einsamkeit, Dummheit, Millionen hirnverbrannte Videos auf Youtube, Überwachung und Datenabschöpferei. Es gibt viel zu einflussreiche Monopolisten wie Facebook und Google und Amazon, die sich das Netz unter sich aufgeteilt haben. Jeff Bezos, der Firmenchef von Amazon, hat 100 000 neue Leute eingestellt (75 000 weitere sollen folgen), um die Amazonisierung des Einkaufsverhaltens über die Ziellinie zu bringen.
Ja, es gibt auch Kluges und Nützliches. Aber vor allem gibt es von allem viel zu viel. Und vieles davon ist auch meistens zu laut, zu grell, als stünde man im Internet permanent auf einer Art Kirmes, wo man vor lauter Geblinke, Getute und Gefiepe sofort vergisst, warum man gekommen ist. Ach ja: Bratwurst kaufen.
Das ist nichts wirklich Neues, und wird seit Jahren auch genau so von Kulturpessimisten benannt.
Wirklich neu ist, wie plötzlich und grundsätzlich diese Meinung sich gedreht hat, und die Geschichte, die man sich über das Internet erzählt, kaum wiederzuerkennen ist. Was womöglich mit der schieren Masse an Menschen zu tun hat, die dort jetzt sind, und das, was sie dort machen, auch ganz gut finden.
Es gibt die Mütter und Väter, die mit ihren Kleinkindern an Skype-Musikstunden teilnehmen und dazu auf Kochtöpfe einhämmern. Es gibt Großeltern, die so ihren Enkelkindern Gute-Nacht-Lieder vorsingen. Sterbende nehmen per Videoanruf Abschied von ihren Verwandten. Es gibt die Angestellten, die sich in ihren Küchen und Wohnzimmern per Videotelefonie mit Menschen in anderen Küchen und anderen Wohnzimmern verbinden, manchmal quer durch Europa hüpfen, an virtuelle Konferenztüren anklopfen. Und die vor allem darauf achten, dass der Hintergrund, vor dem sie sitzen, einen Mordseindruck hinterlässt. Während – und das nur zur Erinnerung – Zehntausende Bürogebäude einfach leer stehen und kaum vermisst werden. Und die Stimmen schon lauter werden, die sagen, dass sie auch nie wieder dorthin zurückkehren wollen.
Es gibt die Schafkopf spielenden Lateinlehrer, die sich jetzt auf sauspiel.de herumtreiben, wo das bayerische Kartenspiel schon länger einen digitalen Zweitwohnsitz hat und seit März auch einen Zuwachs an Nutzer-Registrierungen von 533,1 Prozent. Es gibt diejenigen, die erst jetzt, konfrontiert mit dem Social Distancing, damit begonnen haben, die Webcam ihres Com-puters zu entdecken, jetzt erst erkennen, wozu ihr Smartphone fähig ist – und damit plötzlich in die Lebensrealität ihrer Kinder und Enkelkinder katapultiert werden.
Wobei es aktuell nicht der Moment der fancy Gadgets ist, der Smartwatches und Sprachassistenten und Virtual-Reality-Brillen. Was die Menschen gerade miteinander verbindet und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, sind Max-Mustermann-Smartphones und Jedermann-Laptops.
Wie konnten wir uns bloß auf diesen neuen Alltag einlassen? Die Phasen der Entwicklung kennt jeder von uns. Nicht-wahrhaben-Wollen, dann Zorn, später Verhandeln, Depression, und am Ende: Akzeptieren. Nicht wahrhaben wollten wir zunächst, dass der wöchentliche Schafkopf-, Kino- oder Chor-Abend sich jetzt wirklich diesem Virus beugen sollte. Miesepetrig tigerten wir in den eigenen vier Wänden herum. Verhandlungen begannen: Nächsten Monat vielleicht? Oder doch mal auf sauspiel.de vorbeischauen? Irritiert wendeten wir uns wieder ab vom Netz-Schafkopf, kehrten zurück, wendeten uns wieder ab, fanden schließlich nicht nur Gefallen an den rustikalen Avatar-Animationen und der Chat-Funktion, sondern schrieben in die Whatsapp-Gruppe der Kartenspieler: „Leute! Heute Abend, 19 Uhr, sauspiel.de?“
Fanden es das erste Mal komisch, das zweite Mal halbkomisch, am Ende des dritten Abends gar nicht mal mehr sooo ko-misch. Ertappten uns bei dem Gedanken, wie es wohl sein würde, wenn erst alle wieder an einem echten Tisch … Vierte Wo-che: „Leute! Heute Abend Schafkopf!!!“
Könnte es also sein, dass die Zukunft nicht in Form von Robotern, Drohnen und selbstfahrenden Autos heranrollt, sondern ganz leise mit Verschiebungen in unseren Köpfen beginnt: Mit Zoom-Begegnungen, die auch Begegnung sind? Mit einem Messenger-Miteinander?
Der hochseriöse Economist hat es übrigens sogar für nötig befunden, die Zuwächse in der Erwachsenenunterhaltung zu analysieren (22 Prozent mehr Zugriffe auf die Sexseite Pornhub im April verglichen mit dem Vormonat). Und dabei auch nicht vergessen, die kreativen Auswüchse hervorzuheben, beispielsweise das „Berlin Strippers Collective“, dessen Tänzer kopfüber an Pole-Dance-Stangen hängen, während sie laut aus den Werken von Edgar Allan Poe und Hermann Hesse vorlesen. Sie nennen das „Stipperature“ – und übertragen ihre Live-Shows jetzt im Internet. Was hätte die Menschheit nur gemacht, wäre Sars-CoV-2 vor 25 Jahren über sie gekommen?
Die wichtigste Frage neben den gesundheitlichen Sorgen lautete dementsprechend: Wann, um Himmels willen, kommt endlich diese Tracing-App? Eine App, die noch im Januar der Gottseibeiuns des Überwachungszeitalters gewesen wäre, jetzt aber bald wohl freiwillig von Millionen Menschen installiert werden wird. Und das gerade, weil die App alle Kontakte, die man hat, registriert und im Fall einer Infektion die Ansteckungskette nachzeichnen könnte. Eine App, die womöglich bald tatsächlich Leben retten wird, nachdem uns Apps ja bisher vor allem das Wetter angezeigt haben.
Natürlich lösen diese ganzen neuen Online-Aktivitäten auch Stress aus. Aber das Internet ist – wahrscheinlich zum ersten Mal in der Wahrnehmung selbst der ewigen Kulturkritiker und notorischen Bedenkenträger – ein Problem-Löser statt -Bringer, ein Einsamkeits-Linderer statt -Verursacher. Mehr als nur ein Shopping-Service-Google-Info-Automat. Kein Ausflugsziel, sondern eine neue Heimat. Wer sich im Lockdown sozial verhalten wollte (und verantwortlich), traf Freunde und Bekannte im Netz. Fand dort Zugehörigkeit, Abwechslung, Trost und Nähe – keine physische, aber eine zwischenmenschliche.
Was vom Internet-Frühling wird also bleiben? Was sollte womöglich sogar bleiben?
- DIE QUARANTÄNE, DIE SCHON VOR CORONA BEGANN -
Grob zusammengefasst gibt es aktuell zwei Meinungen dazu, was mit unserem Online-Leben gerade passiert und was davon bleiben wird. Und der vielleicht prominenteste Vertreter der ersten Meinung ist Armin Nassehi, einer der einflussreichs-ten Soziologen Deutschlands. Nassehi sagt: „Was mir ziemlich auf die Nerven geht zurzeit, ist, dass unglaublich viele Beobachter hingehen und denken, dass sich durch Corona jetzt alles verändert.“
Die Zoom-Verbindung ist gut, Nassehis Münchner Arbeitszimmer wirkt, soweit man das beurteilen kann, aufgeräumt: links eine rote Wand, rechts die Bücher. Ob Nassehis eigenes Buch darunter ist, das im vergangenen Spätsommer erschien, ist nicht zu sehen. Im Gegensatz zu vielen anderen Gesellschaftsdiagnosen hat „Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft“ durch Corona nichts an Aktualität eingebüßt. Eher ist das Gegenteil der Fall.
Eine der Thesen, die Nassehi in „Muster“ ausbreitet, lautet: Die Digitalisierung, die man in den vergangenen Jahren (geschweige denn in diesen Tagen, mag man ergänzen) zu spüren bekommt, ist weder revolutionär noch neu, sondern schleicht sich schon seit Jahrzehnten in die Praktiken der Menschen hinein. Das vor allem, weil die meisten der neuen Techniken einfach praktisch und angenehm sind. Und was praktisch und angenehm ist, wird benutzt und formt eine Gewohnheit. Und irgendwann merkt man gar nicht mal mehr, dass man es benutzt. Nassehi schreibt von „Digitalisierungsvergessenheit“.
Nassehi singt in zwei Chören und empfindet es als praktisch, dass er sich jetzt mit dem einen Chor nach wie vor treffen kann, mittwochabends, online. Zusammen trinkt man ein Bier, und das Bier zeigt man dann vor und prostet sich zu. „Ich würde sagen, dass das Internet momentan eher Dinge stabilisiert, als dass es zu komplett neuen Sachen führen würde.“
In dem amerikanischen Magazin The Atlantic schrieb gerade Ian Bogost, ein Autor und Videospiel-Designer, dass Amerikaner schon seit Jahren das tun, was jetzt die Quarantäne von ihnen verlangt. „Netflix hat uns bereits mit unseren Sofas verschmolzen. Seit Jahren hat sich die heutige Gesellschaft auf die Quarantäne gefreut, ja sogar danach gesehnt.“ Noch nie in der Geschichte der Menschheit sei es jemals so einfach gewesen, so viel zu tun, ohne irgendwohin zu gehen, schreibt Bogost.
Hat er recht? Müssen wir uns spätestens jetzt eingestehen, dass unser Leben längst vor allem ein Online-Leben ist?
Andererseits – und das ist grob zusammengefasst die zweite Meinung – gibt es einen Haufen Leute, die sagen: Alles ist anders. Was gerade passiert, ist Revolution.
„Wir finden aktuell heraus, was neue Normen im Internet sind, wir sehen eine neue Welle von Kreativität, die aber nicht aus dem Silicon Valley kommt, sondern von uns Menschen“, sagt Ethan Zuckerman in seinem Arbeitszimmer in Lanesborough, Massachusetts. Mit der rechten Hand, das sieht man im Zoom-Video, isst Zuckerman Käse, während er mit der linken Hand seinem Hund Jayne, einer Mischung aus Labrador und Retriever, zärtlich über den Kopf streicht. „Haben Sie schon mal an einer Zoom-Party teilgenommen?“, fragt Zuckerman.
Zuckerman, einen der wohl renommiertesten Kenner der Internetkultur weltweit, hatte man im vergangenen Herbst schon einmal gesprochen – und dabei einen ganz anderen Mann erlebt. Er hatte da gerade beschlossen, sich aus dem MIT Center for Civic Media in Boston zurückzuziehen, nachdem er erfahren hatte, dass auch Geld von Jeffrey Epstein an sein Institut geflossen war. Jener Epstein, der sich – unter dem Verdacht des schweren sexuellen Missbrauchs Minderjähriger stehend – das Leben genommen hatte. Zuckerman ließ damals auch kaum ein gutes Haar am Internet: durchkommerzialisiert, verdüstert, fest in den Händen von Amazon, Facebook, Google und Microsoft.
Umso erstaunlicher, wie Zuckerman jetzt die Worte „hilfreich“, „gut“ und „schön“ über die Lippen kommen, was für ihn vor allem mit der Ausbreitung des Videochats zu tun hat.
Zuckermans Argument geht ungefähr so: Im Gegensatz zu Aktivitäten auf Facebook, Twitter und Co., wo alles nach den Regeln und Moralvorstellungen des Betreibers funktioniert, beginnen die Menschen in den Videochats wieder selbst damit, zu definieren, was okay ist und was nicht. Und zwar abhängig davon, wer sich gerade wo zu welchem Anlass trifft. Handelt es sich um eine gepflegte Rollenspiel-Partie oder um einen CSU-Stammtisch?
Zuckerman sieht auch neue Kreativität am Werk: Wie die Leute zuerst etwas gehemmt die Videochat-Räume betreten haben, dann aber entdeckten, dass man virtuelle Hintergründe einstellen kann, und manche jetzt sogar anfangen, sich passend zum Hintergrund zu kleiden. „Vieles im Netz ist gerade nahbarer, menschlicher und weniger formell“, sagt Zuckerman.
In der vergangenen Woche fand beispielsweise die „Chelsea Flower Show“ zum ersten Mal in ihrer Geschichte auch online statt, eine seit mehr als 100 Jahren existierende Gartenschau im Londoner Stadtteil Chelsea, so distinguiert-britisch und viktorianisch-verkniffen, dass ein Journalist einmal schrieb, „Natur für die 1 Prozent“. Dieses Jahr: virtuelle Touren hinter die Kulissen, Frage-und-Antwort-Runden zur Lunch-Zeit, Instagram-Hashtags. Die Queen ließ ausrichten, sie sei „erfreut zu hören“, dass der Veranstalter auf seiner Website „Gartenberatung und virtuelle Sitzungen“ anbieten werde. „I hope you find this unique event enjoyable and interesting“, sagte sie noch, möge die Veranstaltung unterhaltsam und interessant sein.
Ist es in erster Linie keine technische Veränderung, sondern eine soziale? Erleben wir einen gesellschaftlichen Umbruch, der unser Miteinander entkörpert, aber nicht entmenschlicht? Das Leben virtueller, aber nicht unsozial und einsam macht?
Konnte man nicht jetzt plötzlich auch durch die Pinakotheken in München schlendern, ohne in München zu sein und ohne dass das Museum überhaupt geöffnet hatte? Trug nicht zweimal pro Woche ein Mitarbeiter ein Smartphone durch die Räume, filmte für Instagram Live beispielsweise die Fotografien August Sanders, während er sich mit einer Kunstexpertin darüber unterhielt, was Sander so besonders macht, und dabei auf Fragen der abwesenden Anwesenden im Instagram-Chat einging? Eine Kunstveranstaltung so direkt und uneitel, dass man sich wünscht, sie möge nie mehr verschwinden. Aber wird sie das nicht doch?
- WO IST HIER DER AUSGANG? -
Es ist ja nicht so, dass alles rosig wäre, was das Internet-Leben betrifft. Eigentlich alle für diesen Text befragten Menschen sehnen sich trotz allem nach draußen, fiebern dem Moment entgegen, in dem sie wieder mit guten Freunden und x-beliebigen Fremden im Biergarten oder sonst wo auf die Gesundheit anstoßen können. Sehnen sich nach der unbedenklichen und brutwarmen Normalität einer wuseligen Innenstadt.
Niemand konnte sich vorstellen, sein restliches Leben ausschließlich und dabei glücklich vor einem Bildschirm zu verbringen. Und darum geht es auch nicht. Es gibt so vieles am digitalen Miteinander, das einfach nur frustriert: die Zeitverzögerung, die Videocalls manchmal so anstrengend macht. Das Pixelige und Fragile. Dass es eigentlich unmöglich ist, sich direkt in die Augen zu schauen, weil man den Blick auf das Display richtet, während die Webcam, die einen aufnimmt, darüber angebracht ist. Manchmal bleibt das Internet genau das, was ihm immer vorgeworfen wurde: ein Surrogat, eine matte Ersatzwelt.
Wird das Münchner Residenztheater wirklich Büchners „Lenz“ weiterhin über Zoom ins Publikum streamen, wenn Corona erst mal überwunden ist? Wird Oliver Polak nach wie vor den Corona-Comedy-Club über Instagram Live zusammenschalten („Dreckig lachen, sauber bleiben“), wenn alle sauber sind?
Home-Office-Tage wirken noch entgrenzter, was das Privatleben betrifft, als Office-Tage. Gleichzeitig wirken sie aber auch verdichteter, wenn selbst der Gang zum nächsten Meeting-Raum entfällt und man per Mausklick von Mensch zu Mensch springt, wie in einem Computerspiel. Zufällige Begegnungen, bei denen Interessantes passiert, fallen weg. Privatsphäre wird neu definiert werden müssen.
Es gab bereits im März, also am Anfang der Quarantänezeit, furchtbare Vorkommnisse, wie die beim E-Scooter-Verleiher Bird in Kalifornien, der 406 seiner 1400 Mitarbeiter erst in eine Zoom-Konferenz mit dem Titel „COVID-19 Update“ eingeladen hatte, um dann eine fremde Frauenstimme verkünden zu lassen, dass alle Anwesenden entlassen sind. Die „Konferenz“ soll zwei Minuten gedauert und abrupt geendet haben, gefolgt von einem automatischen Ausloggen aus sämtlichen Systemen. Vergangene Woche dann berichtet der Guardian, dass ebenfalls per Zoom ein Angeklagter in Singapur erfahren haben soll, dass er hingerichtet wird.
Längst wuchern im Internet auch wieder die Verschwörungstheorien und Falschinformationen. Manche Foren und Telegram-Gruppen sind einzige Säurebäder: Jeder Fakt, den man hineingibt, löst sich auf. Nicht zu vergessen, dass schon das Nachdenken über das Internet und darüber, wie es auf die Arbeitswelt und die Gesellschaft abstrahlt, absoluter Luxus ist. Krankenschwestern können kein Home-Office machen. Wer nicht weiß, wie man mit dem Internet umgeht, niemanden hat, der einem die App für den Videochat erklärt, nur über kriechend langsames Internet verfügt oder über gar keines, der bleibt ausgeschlossen. Womit diese ganze Online-Angelegenheit immer auf einem höchstanalogen Fundament stehen wird.
In dieser Zeitung stand, dass das Digitale sich zum Analogen verhalten würde wie der Liebesfilm zur Liebe. Der Mensch ist eine Kreatur aus Fleisch und Blut und wird es immer bleiben, was ja auch den Mittelpunkt dieser Krise bildet: dass wir Körper haben, die erkranken und sterben können.
Und es gibt eine Reihe von Dingen, die online einfach unmöglich sind: „Sex und politische Demonstrationen“, sagt Joshua Cohen und schaut so in die Webcam, als wäre er sich zumindest beim zweiten sicher.
- DAS INTERNET VERSCHWINDET -
Joshua Cohen erreicht man in New York, im Corona-New-York. Die Wohnung hinter ihm ist verdunkelt, die Schreibtischlampe leuchtet, er raucht die meiste Zeit. 39 Jahre ist er alt und gehört zu den interessantesten Schriftstellern, die Amerika hat, spätestens seit seinem Roman „Buch der Zahlen“, in dem er von der Erfindung des Internets erzählt, und zwar so, dass einem schwindlig wird ab Seite zwei.
Er hatte gleich geantwortet, als man ihn per E-Mail fragte, ob er über das Corona-Leben im Netz sprechen würde. Aufge-kratzt und auf seinem Schreibtischstuhl wippend, der einmal Philip Roth gehört hat, wie Cohen erzählt, kommt er zur Sache: „Eine gute Zeit für das Internet? Nein, ich würde sagen, die Leute nutzen es jetzt nur anders, sie bringen sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit ein. Was uns daran erinnert, dass dieser Ort eigentlich ganz schön sein kann.“
Und dann erzählt Cohen, dass er sich Dutzende italienische Balkon-Corona-Sänger angeschaut hat, dass er jetzt viele Menschen online trifft, die ihn berühren: verzweifelte Menschen, politisierte Menschen, dass er Wärme spürt.
„Wir sind nicht gemacht, Bildschirm-Kreaturen zu sein. Wenn wir wieder rauskommen, wird die große Verhandlung dar-über beginnen, was online bleibt, weil es sich bewährt hat, und was zurückverlagert wird an physische Orte.“ Joshua Cohen nennt es tatsächlich: die große Verhandlung.
Eine Verhandlung nicht darüber, welche Geräte sich wie entwickeln und wann auf Markt und Konsumenten treffen; sondern eine Verhandlung darüber, wie sich unser soziales Miteinander verändert. Wie unser Leben aussehen wird.
In Teilen Europas und Asiens kann man schon beobachten, wie die Menschen in Parks auf Decken liegend ab und zu erleichtert hochblicken zu den anderen. Bevor sie sich wieder ihren Smartphones zuwenden. Oder wie der Literaturwissenschaftler Anthony Adler im SZ-Magazin sagte: „Trotzdem – und das ist doch eher das Gefühl der Gegenwart mit Corona – wird uns schlagartig bewusst, dass wir die Wirklichkeit brauchen. Es gibt einem etwas, mit anderen Menschen zusammen zu sein, und sei es nur, in einem vollen Café über dem eigenen Smartphone zu hocken.“
Was also wird von all dem bleiben?
Mindestens eine große Offenheit für das Digitale. Aber womöglich sehr viel mehr. Je länger der Ausnahmezustand dauert – das lehrt uns die Sozialpsychologie –, desto unwahrscheinlicher ist es, dass all die Online-Aktivitäten nach Corona wieder fallengelassen werden.
Gut möglich, dass Geschäftsreisen weniger werden, weil sich kaum jemand mehr vorstellen kann, für einen 90-Minuten-Termin von Berlin nach München zu fahren oder zu fliegen, weil es ja Skype und Co. dafür gibt. Mehr Berufe, bei denen man ausschließlich online ist, könnten entstehen. Die Digitalisierung der Schulen und Universitäten wird sich weiter beschleunigen. Online auch Lebensmittel einzukaufen, wird wohl bald die Regel sein.
Was sich also abzeichnet, ist eine hybride Welt aus Offline- und Online-Sphäre. Eine hybride Welt, in der noch mehr Menschen täglich durch virtuelle Gesprächsräume ziehen und sich dort manchmal genauso verirren wie in den realen Gebäuden, in die sie ab und zu auch zurückkehren, zum Beispiel um einen Kollegen zum Mittagessen zu treffen.
In einer hybriden Welt zu leben, würde aber vor allem bedeuten, dass das Internet als virtual space, als anderer Ort, langsam verblasst und verschwindet, weil er sich mit der physischen Realität so verbindet, dass es keinen Sinn mehr ergibt, von dem einen oder dem anderen explizit zu spre-chen, vom „Internet“ und der „Realität“. Und dass man dann in immer fließenderen Übergängen hin- und herwechselt – je nachdem, wo etwas gerade praktischer, angenehmer, umweltfreundlicher oder überhaupt möglich ist.
Könnte beides zusammen irgendwann sogar ein großes Ganzes sein, und das Wort Internet zum Fachwort werden? Zum Fremdwort? Bis es schließlich hinabsinkt in den veralteten Wortschatz? Ein Wort aus der Vergangenheit. Als man noch dachte, die Zukunft wäre ganz, ganz weit weg.
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Einschübe:
9,1 Terabit
pulsierten am Abend des
10. März pro Sekunde
durch den größten
Internetknotenpunkt der
Welt, den zentralen
Standort des DE-CIX
in Frankfurt. An keinem
Internetknotenpunkt
weltweit wurde
jemals ein so hoher Wert
gemessen. Microsoft
verzeichnete in der
Corona-Krise mehr als vier
Billionen Nutzungsminuten
pro Monat allein auf
Windows-10-Geräten –
und damit 75 Prozent
mehr als noch im Vorjahr.
15,8 Millionen
neue Abonnenten
verzeichnete der Streaming-
Dienst Netflix im ersten
Quartal 2020, fast doppelt
so viele wie von
Analysten erwartet.
200 Millionen
Visits registrierte die Wieder-
verkaufs-Plattform Ebay
Kleinanzeigen in der letzten
Aprilwoche – so viele Besuche
hatte die Seite in ihrer
Geschichte noch nie.
300 Millionen
Meeting-Teilnehmer
zählte der Videochat-Dienst
Zoom im Monat April –
ein Anstieg von
2900 Prozent innerhalb
von vier Monaten.